Nun habe ich mich gestern etwas
genauer mit der Stadt Nancy beschäftigt, weil ich ihren Genius erkunden wollte.
Dabei habe ich festgestellt, dass wir nur sehr wenig von der Stadt gesehen
haben: im Grunde nur den zentralen Königsplatz Stanislas, der in den Jahren
1752 bis 1755 exakt zwischen der historischen Altstadt (la ville vieille) und
der historischen Neustadt (la ville neuve) von Nancy angelegt wurde und durch
seine einheitliche Architektur, die vergoldeten schmiedeeisernen Eingänge und
die beiden Brunnenanlagen herausragt.
Wir haben kurz nach 8.00 Uhr an
diesem eher grauen Mittwochmorgen das Ibis-Hotel ohne Frühstück verlassen und
sind zu einem der Stadttore, das sich von Osten her als Eingang zur Neustadt
öffnet, gepilgert, dessen Erhalt Frankreich offenbar einer Empfehlung Victor
Hugos im Jahre 1878 verdankt, wie eine Plakette an der Innenseite des Tores
erläutert. Es ist die „Porte Saint Georges“, also das Georgstor. Auf der Attika
des Renaissance-Tores, das zwischen 1606 und 1619 im Toskana-Stil erbaut wurde,
steht eine Reiterstatue des Ritters Georg. Rechts und links des Giebels sitzen
zwei Sphingen. Sie schauen zu den Allegorien des Krieges und des Friedens, die
im Französischen weiblich sind: „la guerre“ und „la paix.
Wenn man bedenkt, dass im Jahre
1618, als das Tor kurz vor der Fertigstellung war, der Dreißigjährige Krieg
ausbrach, in den später auch Frankreich auf der Seite der Protestanten
eingriff, dann erscheint dieses Tor wie eine Prophetie.
Die Stadt Nancy war ursprünglich
die Hauptstadt des Herzogtums Lothringen, das sich zwischen dem Herzogtum
Burgund im Süden mit der Hauptstadt Dijon und der zu Burgund gehörenden
Grafschaft Flandern mit den Städten Brügge und Gent und den ebenfalls
burgundischen Herzogtümern Brabant (mit der Stadt Antwerpen) und Luxemburg im
Norden wie in einer Umklammerung befand.
Ursprünglich gehörten die beiden
Teile, Oberlothringen mit Nancy und Unterlothringen, die heutigen
Benelux-Staaten, zum Erbe Lothars, des mittleren Sohnes Ludwigs des Frommen. Es
war das „Mittelreich“ zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil des
Frankenreiches Karls des Großen.
Die Lothringer gehörten neben den
Sachsen, den Franken, den Schwaben und den Bayern als fünfter Stamm zu den
führenden germanischen Stämmen des Mittelalters. Gemeinsam waren allen fünf die
germanische Sprache, während westlich von Lothringen eine Variation des
Lateinischen gesprochen wurde, das spätere Französisch.
Als der letzte Burgunderherzog
Karl der Kühne im Januar 1477 das Herzogtum Lothringen erobern wollte,
verbündete sich Herzog Rene II. mit den Schweizer Eidgenossen und sie schlugen
den Angreifer am 5. Januar vor der Stadt Nancy, wo er von einer Lanze getroffen
in voller Rüstung vom Pferd fiel und später erst unter den Gefallenen
identifiziert wurde, weil er der Sitte der Zeit entsprechend lange Fingernägel
und den Herzogsring trug.
Aber immer noch war das Herzogtum
Lothringen dem Kaiser lehenspflichtig, denn es lag innerhalb der Grenzen des
Heiligen Römischen Reiches, während das Herzogtum Burgund dem französischen
König lehenspflichtig war. Die Verhältnisse waren kompliziert, zumal ein Teil
Burgunds, die so genannte Freigrafschaft (Französisch: Franche Comte), zum
Reich gehörte, dessen Grenze weite Strecken lang die Maas bildete. Das kommt auch noch in der
ersten Strophe des Deutschlandliedes zum Ausdruck, die August Heinrich Hoffmann
von Fallersleben am 26. August 1846 auf der Insel Helgoland verfasst hat:
Das Lied der Deutschen
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt –
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt!
[1]
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt –
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt!
[1]
Die Bedeutung dieser ersten
Strophe, die für uns Deutschen immer etwas „Unbehagliches“ hat, ist mir
eigentlich erst durch unsere Reisen zu meinem Freund Claude klargeworden, so
zum Beispiel, als wir vor zwei Jahren von Hennezel aus nach Domremy an der Maas
fuhren, um den Geburtsort und das Haus der Heiligen Johanna zu besuchen.
Unvergesslich bleibt mir der Eindruck, als wir in einem Gasthaus erfuhren, dass
bis heute der typisch deutsche Name Guilhelm (Deutch: Wilhelm) sehr populär in
dieser Gegend ist.
Nancy ist erst im Jahre 1766, nach
dem Tod des letzten Herzogs, französisch geworden. Im Jahre 2016 hat die Stadt
das 250. Jubiläum des („Wieder-) Anschlusses[2] an Frankreich gefeiert.
Der letzte Herzog hieß Stanislas I. Leszczynski und war
eigentlich König von Polen und Litauen. Weil der Kurfürst August der Starke von
Sachsen den polnischen Thron 1709 „gekauft“ hat, war der rechtmäßige Thronerbe
ins Exil zu seinem Schwiegersohn Ludwig XV. von Frankreich gegangen, der mit
seiner Tochter Marie verheiratet war. Der französische König gab ihm das
Herzogtum Lothringen zum Lehen, in dem der aufgeklärte Pole von 1737 bis zu
seinem Tod 1766 herrschte. Nach ihm ist einer der schönsten Plätze Frankreichs,
La Place Stanislas, genannt.
Von seinem Hof-Architekten
Emmanuel Here wurden die Gebäude des Gevierts, darunter das Hotel de Ville an
der Südseite, die Oper an der Ostseite und das Museum der Schönen Künste an der
Westseite des Platzes gebaut, während der Kunstschmied Jean Lamour die
schmiedeeisernen Rokoko-Tore schuf, die die Zugänge an den Ecken bilden. Zwei
dieser Zugänge sind mit aufwendigen Brunnen geschmückt: In der Nordwestecke
steht der Neptunbrunnen mit den Allegorien der zwei Flüsse Mosel und Rhein, in
der Nordostecke der Amphitrite-Brunnen mit drei Nereiden, beide wunderbar
eingefasst von vergoldeten Rokoko-Gittern.
In der Mitte des Platzes steht
seit 1831[3] die Statue des
„Wohltäters“ von Nancy, Herzog Stanislas.
Nancy liegt zwischen den zwei
Flüssen Meurthe und Mosel auf dem „Plateau Lorrain“. Beide Flüsse entspringen
in den Vogesen. Die Meurthe fließt durch Saint Die und die Mosel durch Epinal,
der Partnerstadt Schwäbisch Halls. Nancy ist die Partnerstadt Karlsruhes.
Die Lothringische Hochebene wird
von den fruchtbaren Ton-Schichten des Lias gebildet, während die Schichtstufe
zwischen dem Schwarzen Jura (Lias) und dem braunen Jura (Dogger) durch die
Cotes de Moselle über dem Mosel-Tal aufragt. Wir sehen sie bei der Anfahrt auf
Nancy deutlich.
Im Untergrund befinden sich wie
beim „Braunen Berg“ in der Nähe von Aalen-Wasseralfingen („Schwäbische
Hüttenwerke“ SHW) Eisenerze, die früher zwischen Luxemburg und Nancy
(„Minette“) abgebaut und verhüttet wurden.
Ich kann mich noch erinnern, wie
ich einmal von Chartres kommend in der Nacht zurück nach Stuttgart fuhr und
dabei auch an Nancy vorbei musste. Der ganze nächtliche Horizont nördlich von
Nancy leuchtete rot wegen der brennenden Hochöfen.
Das nordfranzösische
Schichtstufenland entspricht in geologischer Hinsicht dem süddeutschen
Schichtstufenland. Beide wurden vor dem Einbruch des Oberrheingrabens durch das
Anheben des Grundgebirges unterhalb von Schwarzwald und Vogesen, die
ursprünglich noch eine Einheit bildeten, gebildet, wodurch sich die Schichten
des Deckgebirges (Trias: Buntsandstein, Muschelkalk, Keuper, Jura: Lias,
Dogger, Malm und Kreide: Untere und obere Kreide, die nur noch im Pariser
Becken der Ile de France ansteht) schräg stellten und Landschaftsstufen ausbildeten.
Das „Plateau Lorrain“ entspricht damit der Hohenloher Ebene mit seinen beiden
Flüssen Kocher und Jagst. Wir sehen überall fruchtbare Ackerböden.
Wir sind die Rue Saint George von
Osten nach Westen, an der barocken Kathedrale Notre Dame de L’Annonciation
(Mariä Verkündigung) vorbei, hinaufgegangen und haben in der Konditorei Alain
Batt gefrühstückt, wo wir ein typisch französisches Frühstück mit Kaffee und
Croissants bestellten. Ich habe selten so gute Croissants gegessen und erfahre,
dass diese Konditorei die besten Backwaren von Nancy herstellt. Danach bogen
wir nach Norden in die Rue des Dominicains ein und gelangten auf den Platz
Stanislas.
Da es gegen 10.00 Uhr zu regnen
beginnt, besuchen wir das Musee des Beaux Arts an der Westseite des Platzes und
tauchen ein in die wunderbaren Bilder der bemerkenswerten Sammlung, bewundern
aber auch die Glaskunst der Glasmanufaktur Daum im Untergeschoss des Museums.
In einem Extra-Kabinett des
Museums werden einige Werke des lothringischen
Malers Georges de la Tour (1593 – 1652) ausgestellt, darunter das berühmte
Bildnis der Heiligen Familie, dessen einzige Lichtquelle eine Kerze ist. Fast
alle Bilder des Barockmalers haben diese starke Lichtquelle, die ein starkes
Hell-Dunkel erzeugt. Besonders beeindruckt mich eine Magdalena als Büßerin vor
einem Totenschädel.
Dieser Bildtypus begegnet uns im Museum noch zwei weitere
Male: ein Gemälde, das Nikolas Chaperon (1612 – 1655) zugeschrieben wird und um
das Jahr 1635 entstanden ist, und eine Allegorie der Melancholie mit der
Büßerin aus der Zeit nach 1614 von dem italienischen Barockmaler Domenico Fetti
(1589 – 1624).
Eine besonders große Tafel zeigt Maria Magdalena am Ostersonntag
im Garten, wo sie dem Auferstandenen als erste begegnet und ihn für den Gärtner
hält. Das Gemälde von Jan Brueghel dem Jüngeren (1601 geboren in Antwerpen –
1678 gestorben ebenda) zeigt auf der linken Seite verschiedene Früchte im Stile
eines Stilllebens. Auch eine Transfiguration von Brueghels berühmten
Malerkollegen Peter Paul Rubens (1577 in Siegen geboren und 1640 in Antwerpen
gestorben) besitzt das Museum, die sehr an das berühmte Vorbild von Raphael
erinnert. Mir fallen auch zwei Darstellungen der „Heiligen Familie“ mit jeweils
zwei Knaben auf: die eine von Jakopino del Conte (Florenz, 1502 – Rom, 1598). Del
Conte war Zeitgenosse und Freund von Michelangelo. Die zweite „Heilige Familie“
mit zwei Knaben stammt von Perugino (1446 – 1523), dem Lehrer Raphaels, und
entstand um das Jahr 1505. Sie enthält alle Elemente der fortgeschrittenen
Renaissance-Malerei und scheint beeinflusst vom Genie des Leonardo da Vinci.
Beeindruckt hat mich auch eine
Darstellung der Auffindung des Leichnams des burgundischen Herzogs Karl der
Kühne nach der Schlacht von Nancy des französischen Naturalisten Auguste
Feyen-Perrin (1826 – 1888) aus dem Jahre 1865. Jener 5. Januar war ein
Schicksalstag der lothringischen Hauptstadt und war schon Thema eines großen
Gemäldes von Eugene Delacroix (1798 – 1863) aus dem Jahr 1829, das sonst auch im
Kunstmuseum von Nancy zu bewundern ist,
aber im Augenblick an das Metropolitan Museum of Art in New York ausgeliehen
ist.
Während wir uns im Musee des
Beaux Arts den Eindrücken der Kunst hingeben, schüttet es draußen. So begeben
wir uns nach dem Museumsbesuch gegen 12,00 Uhr in ein Restaurant, das durch
seinen Namen ebenfalls mit der Kunst verbunden ist. Es heißt „Atelier de l’Art“
und befindet sich am Ende einer Passage, die von der Rue des Dominicains nach
Westen abgeht. Das Angebot „Plat du Jour“ (Tagesessen) für 9,80 Euro
interessiert uns. Das Essen – Araigne de Porc mit Haricots verts – schmeckt uns.
Wir bestellen noch eine Käseplatte und ein Fläschchen Cote du Rhone und ich
speise mit meinen beiden Russinnen ein bisschen wie Gott in Frankreich.
Danach kaufen meine beiden Begleiterinnen
noch in zwei Konditoreien Leckereien ein, unter anderem auch bei Alain Batt, wo
wir am Morgen schon die guten Croissants gefrühstückt hatten.
Dabei erfahren wir, dass die
Spezialität „Baba au Rhum“, die wie die „eclairs“ auch in Russland bekannt ist,
in den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts für den polnischen Herzog Stanislas
erfunden wurde. Auch die berühmten viereckigen goldenen Bergamotte-Bonbons,
eine weitere Spezialität der Stadt Nancy, sehen und kosten wir. Dann holen wir
unser Auto aus der Hotelgarage und fahren über Saint Avold und Forbach bei
Saarbrücken auf die deutsche Autobahn und dann im Eiltempo ganz ohne Stau
zurück nach Schwäbisch Hall, wo wir um 19.45 Uhr eintreffen.
[2] 250eme anniversaire du rattachement du
Duche de Lorraine a la France (https://fr.wikipedia.org/wiki/Nancy)
[3]
In der französischen Revolution wurde die Statue des französischen Königs, die
ursprünglich hier stand, zerstört.