Dienstag, 21. August 2018

Eine Fahrt in die Eifel und an den Rhein - aus meinem Reisetagebuch



Schwäbisch Hall, der 15. August 2018 (Mittwoch, 4.03 Uhr)

Es ist einmal wieder Mariä Himmelfahrt, jener geheimnisvolle Feiertag, der in meinem Leben schon öfters eine Rolle gespielt hat, obwohl ich überhaupt nicht klar komme damit. Aber es ist auch dieses Jahr wieder ein besonderer Tag, denn in etwas mehr als zwei Stunden werden Lena und ich in einem Reisebus der Firma Mack sitzen und nach Brühl nördlich von Bonn fahren. Für die Studienfahrt des Ellwanger Geschichts- und Altertumsvereins und des Stiftsbundes hatte ich mich erst vor etwa sechs Wochen angemeldet und tatsächlich noch zwei Plätze bekommen. Lena wäre zwar lieber ans Meer gefahren, aber mich hat der Gedanke gefreut, endlich einmal Bonn, unsere ehemalige Hauptstadt und die Heimatstadt Beethovens etwas genauer kennenzulernen. Außerdem werden wir den Park von Schloss Augustusburg bei Brühl, mit dem ich mich schon früher beschäftigt habe, und einige bekannte romanische Kirchen ansehen. Ich freue mich.
Natürlich bin ich auch auf die Begegnungen mit alten Bekannten gespannt, die mitreisen. Geleitet wird die Fahrt von Joachim Renschler, dem Vorsitzenden des Ellwanger Geschichts- und Altertumsvereins, und von meinem ehemaligen Kollegen Ulrich Engel, der den Stiftsbund vertritt, dessen Vorsitzender, mein Ex-Kollege Dr. Michael Spang, nicht mitreisen konnte.


Brühl, der 16. August 2018 (Donnerstag, 5.17 Uhr)

Am Mittwoch, den 15. August 2018, um 6.00 Uhr waren wir in Neunheim, beim Fuhrpark des Omnibusunternehmens Mack. Die meisten Reiseteilnehmer stiegen dort ein. Um 6.30 Uhr fuhr der Bus auf den Ellwanger Schießwasen und sammelte die restlichen Teilnehmer ein. Dann ging es über Schwäbisch Hall zur Autobahn A6 und dann weiter über Kaiserslautern in Richtung Trier. Bei Longuich überquerten wir die Mosel und fuhren dann auf der Autobahn weiter bis Wittlich in der Eifel. Von dort war es nicht mehr weit bis zu unserem ersten Ziel, der ehemaligen Zisterzienserabtei Himmerod[1], wo wir, wie geplant, kurz nach 12.30 Uhr eintrafen.



Ich weiß nicht, ob es Absicht oder Zufall war, aber wir kamen genau am Tag seines  Patroziniums in dieses abgelegene Kloster. Die erste Besonderheit ist, dass der Ort, an dem die Abtei errichtet, jedoch mehrmals wieder zerstört wurde, im Jahre 1135 von Bernhard von Clairvaux (um 1090 – 1153) selbst ausgewählt worden war. Die zweite Besonderheit ist, dass es ein Ellwanger Bildhauer war, der die nach der Zerstörung im Ersten Weltkrieg wieder aufgebaute Abteikirche fast genau 800 Jahre später in den Jahren 1931 – 1936 ausschmücken durfte: Hans Scheble (1904 – 1994). Besonders das Gnadenbild in der Gnadenkapelle zwischen Kirche und Konvent beeindruckt mich.



In dieser Kapelle, die als einziges Gebäude unzerstört blieb und zwischen Kirche und Konvent liegt, zünden Lena und ich zwei Kerzen in Gedanken an ihre Mutter, die seit etwa zwei Wochen wieder im Krankenhaus liegt, an. Es war Lenas Idee.
In den Fünfzigerjahren wurde auch der Konvent mit der Klausur wieder aufgebaut. Auch hier wirkte Hans Scheble als „Heiligenmacher“, wie er von der einheimischen Bevölkerung genannt wurde, mit. Er schuf im Garten einen Heiligen Josef, den Patron der Zisterzienser, an drei Ecken des Konventsgebäudes die für den Zisterzienserorden wichtigen Heiligen Benedikt von Nursia, Robert von Molesme und Stefan Harding.
Herr Bolten, der seit Januar Rektor der Abtei ist, in der bis zum November 2017 noch fünf Mönche lebten, führt uns durch den sonst nicht öffentlich zugänglichen Konvent mit dem wiederhergestellten Kreuzgang, dem Kapitelsaal, dem Refektorium und schließlich dem Dormitorium im ersten Stock. Im Garten des Kreuzgangs bewundern wir den Brunnen, den eine Marienstatue von Hans Scheble bekrönt. Schließlich zeigt er uns noch die Abteikirche mit der Davidskapelle, in der sich ein von Hans Scheble geschnitztes Tabernakel mit 13 Figuren befindet. Auch das große Vierungskreuz im Hauptschiff ist von dem Ellwanger Künstler geschnitzt worden. Es wurde 1978 geschaffen und gilt als das letzte Himmeroder Werk des Künstlers.



Zum Abschluss hören wir ein Vorspiel auf der Orgel. Sie wurde wie die neue Orgel in der Elbphilharmonie von der Bonner Orgelbaufirma Klais geschaffen.
Herr Dr. Saller, ein Ellwanger Kunsthistoriker, hatte uns schon auf der Anreise über das Leben und das Schaffen des Ellwanger Künstlers informiert, dem erst vor einem Jahr eine Ausstellung im Palais Adelmann gewidmet worden war. So war das eigentliche Ziel unseres ersten Halts auf unserer Reise dieser Bezug zu Ellwangen.
Es gibt aber noch eine andere Geschichte, die mit der Abtei Himmerod verbunden ist, und auf die bei den Erläuterungen im Bus nur ganz kurz eingegangen wurde: In der Kirche versammelten sich im Jahre 1950, also nur ein Jahr nach Begründung der Bundesrepublik, im Auftrag von Konrad Adenauer etwa 30 ehemalige hohe Offiziere der Wehrmacht und verfassten ein (geheimes) Dekret, das „Himmeroder Dekret“, das 1955 zur Wiederbewaffnung Deutschlands führte.

So wie Hans Scheble in der Mitte des 20. Jahrhunderts den Geist der Zisterzienser beschworen hat, der für Aufbau und Kultur steht, so haben diese Männer den Geist des Militärs beschworen, der im 20. Jahrhundert in zwei Weltkriegen so viel Unheil angerichtet hat. Ellwangen war von diesem Geist insofern betroffen, als in dieser Stadt nach der Wiederbewaffnung die Reinhardskaserne, deren Bau in Form eines Hakenkreuzes auf das Dritte Reich zurückgeht, mit Panzergrenadieren belegt wurde, bis sie vor etwa zehn Jahren aufgelöst wurde. Heute befindet sich in den Gebäuden der ehemaligen Kaserne eine der vier baden-württembergischen Landeserstaufnahmestellen für Flüchtlinge.
Am 20. August feiert die katholische Kirche den Tag des Heiligen Bernhard von Clairvaux, wie ich einem Plakat am Eingang zur Klostergaststätte entnehme, in der wir zum Mittagessen einkehren.
„Man nannte Bernhard den ‚ungekrönten Papst und Kaiser seines Jahrhunderts‘ und den ‚Führer und Richter seiner Welt‘ (J.Lortz), ‚das religiöse Genie seiner Zeit‘ (A. Harnack). K. Hampe sagt: Er bleibt ‚mit seiner eifernden Liebe, der von Dante gepriesenen vivace carita, und der fast übermenschlichen Kraft seiner Hingabe ein leuchtendes Vorbild‘. Bernhard selbst nennt sich ‚Chimäre seines Jahrhunderts‘, geteilt zwischen Mönchtum und Rittertum,[2] Mystik und Politik. Die alte kirchliche Titelvergabe macht ihn zum ‚honigfließenden Lehrer‘. Neuere Kritik tadelt im Gegensatz dazu, er sei zu fordernd, zu hart, zu unduldsam. Jedenfalls gehört Bernhard zu den ganz Großen in der Kirche, und zwar seiner Inwendigkeit und seiner Öffentlichkeitsentfaltung nach.
Bernhard, geboren in Fontaines etwa 1090, stammt aus burgundischem Adel. Vier seiner Brüder und dreißig junge Leute zog er mit sich in den neuen, noch nicht lebensfähigen Zisterzienserorden. Nach drei Jahren schon wird er Gründerabt von Clairvaux. Es folgen 69 Klosterneugründungen zu seinen Lebzeiten. Bernhards geistige Quellen sind die cluniazensische Ideenwelt und die Theologie eines Hugo von St. Victor. Er lebt in Schrift, Liturgie und Vätern und wird selber ‚der letzte der Kirchenväter‘ (Mabillon). Aber sein Bereich ist die mystische Theologie, die charismatische Schau, die Christusinnigkeit. Davon künden seine 500 Briefe, seine Predigten, Opuscula. Für seinen Schüler Papst Eugen III. schreibt er sein schönstes Werk: ‚De Consideratione‘. Seine Gedanken beeinflussen Jahrhunderte, von Thomas von Aquin und Meister Eckhart bis Ignatius, Theresia, Franz von Sales, Fenelon, nicht zuletzt Luther. Aus der Kreuzesmystik wächst seine Kreuzzugspredigt. 1146 gewinnt er zu Vezelay Ludwig VII. von Frankreich, zu Speyer Konrad III. von Deutschland für den zweiten Kreuzzug. Man will Bernhard zum Bischof von Genua oder von Mailand machen. Er bleibt Mönch. Sein ganzes Denken ist monastisch.
In seiner Gründung Clairvaux stirbt er am 20. August 1153, etwa dreiundsechzig Jahre alt, aufgezehrt von seinem Eifer, aufgerieben von seinen Leiden, und geht in die Welt, in der er schon auf Erden gelebt hatte, und bleibt in der Kirche, für die er sich hingegeben, als Ideal des Kirchenmannes, der ‚in contemplatione activus‘ ist.“[3]

Brühl, der 17. August 2018 (Freitag, 2.46 Uhr)

Ich bin so voll von Eindrücken des gestrigen Tages, dass ich nicht mehr schlafen kann.
Am Donnerstag, den 16. August 2018 sind wir nach dem Frühstück nach Mönchengladbach gefahren. Mönchengladbach ist heute eigentlich hauptsächlich bekannt durch einen Fußballclub, der einen ansehnlichen Platz in der Bundesliga erreicht hat. Touristen wie wir verirren sich eher selten in die im zweiten Weltkrieg zu 80 Prozent zerstörte Stadt westlich von Düsseldorf. Auffallend ist, dass die Stadt mitten im Grünen liegt. Hier wurde noch bis in die sechziger Jahre weitflächig Flachs angebaut, der pflanzliche Rohstoff für die sich hier entwickelnde Textilindustrie.  60 Prozent der Gemeindemarkung sind auch heute noch Grünland und werden landwirtschaftlich genutzt. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass nur 30 Kilometer östlich die größte Agglomeration Deutschlands liegt, der Rhein-Ruhr-Verdichtungsraum.



Im Jahr 974 stand hier kein Haus. Der Erzbischof von Köln hatte, so erzählt die Legende, einen Traum, in dem er von Christus den Auftrag erhielt, ein Kloster zu gründen. Zusammen mit seinem Freund Sandrad, einem Benediktinerabt aus Sankt Maximin in Trier, machte er sich auf den Weg, um den geeigneten Platz zu finden. Zuerst wählten sie einen Ort im Bergischen Land. Der war allerdings der falsche, wie sie nach einem Festmahl feststellten, bei dem ein Gast verwundet wurde und starb. Wo einmal Blut geflossen war, konnte man kein Heiligtum errichten.
So zogen die beiden Freunde weiter und kamen schließlich zu einer leichten Erhebung in der Landschaft. Als sie ihr Lager auf dem Hügel aufschlugen, hörten sie in der Nacht Glockengeläut und Chorgesänge. Nun wussten sie, dass ihnen Gott den richtigen Ort angezeigt hatte. Als sie dann auch noch auf einen hohlen Stein mit Reliquien stießen, den die letzten Bewohner der Gegend 954 vor einem Ungarneinfall vergraben hatten, war der Gründungsplan besiegelt. Der einflussreche Erzbischof von Köln erwarb weitere Reliquien, darunter Knochen aus den Schädeln der Heiligen Laurentius und Vitus. Damit begann die Veitsverehrung in Mönchengladbach.
Durch Sandrad, der von 974 – 979 auch Abt von Ellwangen war, kamen schließlich auch leibliche Überreste des Heiligen Vitus nach Ellwangen, wo seit 764 eine Benediktinerabtei bestand. Damals wechselte diese Reichsabtei auch das Patrozinium. Feierten die Mönche von Ellwangen bis dahin den 20. April als Gedenktag der beiden römischen Offiziere Sulpitius und Servilianus, so wurde nun der 15. Juni, der Tag des Heiligen Vitus, neuer Feiertag.
Zur Tausendjahrfeier der Gründung des Klosters im Jahr 1974 erhob Papst Paul VI. die Sankt-Vitus-Kirche von Mönchen-Gladbach zur Basilika Minor, unterstellte sie also gleichsam direkt der Basilika Major, dem Petersdom.
Auch die Sankt-Vitus-Basilika von Ellwangen hatte diesen Ehrentitel erhalten, und zwar bereits zehn Jahre zuvor zur Zwölfhundertjahrfeier im Jahr 1964. Im Schatten der Festlichkeiten des Jubiläumsjahres wurde in dem Ellwanger Filialort Jagstzell mit dem Bau der kleinen evangelischen Christuskirche begonnen, zu deren 40jährigen Jubiläum ich im Jahr 2004 einen Kirchenführer verfasste.
1964 war auch ein entscheidendes Jahr für die Reform der katholischen Liturgie. Damals hatte das Zweite Vatikanische Konzil in Rom beschlossen, dass der Priester von nun an die Heilige Messe nicht mehr mit dem Rücken zur Gemeinde und mit dem Blick nach Osten zelebrieren sollte, sondern am Hauptaltar der Gemeinde zugewandt.
Nur im Kultus der Christengemeinschaft steht der Priester oder die Priesterin noch in der ursprünglichen Weise mit dem Rücken zur Gemeinde.
Wir versammelten uns zu einer zweistündigen Führung auf dem Platz vor dem Westportal. Die Abteikirche ist durch einen Bombenangriff am Ende des Zweiten Weltkrieges komplett zerstört und in mühevoller Arbeit vom Münsterbauverein, einer Initiative aus der Mönchengladbacher Bürgerschaft, innerhalb weniger Jahre zwischen 1947 und 1955 wieder aufgebaut worden.
Die ursprüngliche Bauzeit hatte 300 Jahre umfasst. Erst im Jahr 1275 konnte der vom Kölner Dombaumeister Gerhard fertiggestellte gotische Chor von Albertus Magnus (1200 – 1280) geweiht werden.


Albertus Magnus ist die zweite bedeutende mittelalterliche Individualität,  der wir auf dieser Reise „begegnen“. Er stammt aus Lauingen an der Donau und wanderte später an den Rhein, wo er in Köln eine berühmte Domschule begründete, die Studierende aus ganz Europa anzog, später nach Paris an die Seine, wo er der Lehrer des jungen Thomas von Aquin wurde, und dann wieder an die Donau, wo er  durch einen Spruch des Papstes zum Bischof von Regensburg ernannt wurde. Orvieto, Würzburg, Esslingen und schließlich wieder Köln sind weitere Stationen seines mit 80 Jahren außerordentlich  langen Lebens.
Zuerst ist es mir gar nicht aufgefallen, aber unsere Führerin weist uns auf einen eingeritzten Schriftzug auf der Portaltür hin. Dort steht in Großbuchstaben das lateinische Wort „EXIT“. Das Wort bedeutet eigentlich „Ausgang“. In Wirklichkeit ist aber hier der Eingang in die Kirche. Wir erfahren, dass dieses Wort von Joseph Beuys einst mit Kreide auf die Tür geschrieben worden war und später eingeritzt wurde. Im Kirchenführer finde ich folgende Erläuterung durch den ehemaligen Münster-Propst Edmund Erlemann:



„Es war im Jahr 1972, am Karfreitag. Um 15.00 Uhr sollte wie an jedem Karfreitag die Liturgie des Karfreitags beginnen. Vor dem Gottesdienst kam ich auf den Münsterplatz und sah, dass viele Menschen sich hier versammelt hatten. Mit Jonas Hafner und Joseph Beuys saß eine Gruppe dort im Kreis, mitten auf dem Platz am Boden. Die Leute klopften mit Steinen auf das Kopfsteinpflaster. Es wurde ‚Der Staat‘ von Montesquieu gelesen. Auf einmal – ich war gerade in das Münster gegangen – stand Joseph Beuys auf, nahm ein Stück Kreide, ging an das Portal und schrieb an die Holzpforte das Wort ‚EXIT‘. Diese Karfreitagsaktion von Joseph Beuys ist berühmt geworden. Sie ist dokumentiert: ein Foto hält fest, wie Joseph Beuys am Münsterportal steht.“[4]


Brühl, der 18. August 2018 (Samstag, 6.31 Uhr)

Heute ist der Todestag meines Vaters.
Die Fülle der Eindrücke auf dieser Reise in die Rheinlande kann ich kaum alle wiedergeben. Gestern habe ich bis um 7.00 Uhr geschlafen, heute bis 6.15 Uhr. Und heute fahren wir schon wieder nach Hause.
Diese Fahrt hat nicht nur eine geschichtliche Bedeutung für mich, sondern auch eine persönliche. Jeden Tag gibt es neue, außergewöhnliche Begegnungen mit mitreisenden Ellwangern, die in der einen oder anderen Weise mit meinen Eltern oder dem Orrotsee verbunden waren. Die Vergangenheit wird auf diese Weise für mich wieder ganz lebendig.
Die Abteikirche von Mönchengladbach besitzt ein massives Westwerk. Ursprünglich waren zwei Türme geplant gewesen, wie man am Unterbau sehen kann. Verwirklicht wurde jedoch ein relativ niedriger Westturm, der eine Michaelskapelle überragt. Das Langhaus ist gegliedert durch Pfeiler, an denen abwechselnd Halbsäulen vorgelagert sind, welche die Gewölberippen aufnehmen. Die Formen der Arkadenbögen und der Fenster sind romanisch. Der sieben Stufen höhere Chor ist gotisch und wurde wie die anschließende Sakristei vom Kölner Dombaumeister Gerhard geschaffen. Elf Fenster schmücken ihn, darunter in der zentralen Achse das einzige mittelalterliche Glasfenster, das die Zerstörung des Krieges überlebt hat, das sogenannte Bibelfenster. Die anderen zehn Fenster wurden 1958 von dem Glaskünstler Wilhelm Geyer, der auch die Fenster in der Liebfrauenkapelle im Kreuzgang der Ellwanger Vitusbasilika geschaffen hat, gestaltet. Unter dem Chor befindet sich eine schöne romanische Krypta, die wir besichtigen.



In der Sakristei entdecke ich als nahezu ältestes Werk der Schatzkammer einen wunderschönen Tragaltar, der um das Jahr 1160 gefertigt wurde. Er zeigt an den zwei Längsseiten Christus mit den zwölf Aposteln, an den beiden Breitseiten den Engel auf dem leeren Grab mit den Frauen am Ostermorgen auf der einen, eine Majestas Domini mit Johannes dem Täufer und Maria links von Christus, dem Erzengel Michael und Johannes dem Evangelisten rechts von ihm auf der anderen. Auf der Deckplatte sind Szenen aus dem Alten Testament zu sehen wie die Opferung Isaaks oder auch Melchisedeck mit dem Kelch, typologische Vorausdeutungen auf die  christliche Eucharistie. Auf dem Tragaltar, den der Abt mit sich führte, wenn er außerhalb des Klosters unterwegs war, hatten Kelch und Hostienschale Platz
Es ist ein wunderschönes Werk mit blauen Emailplatten als farbigen Hintergrund für die in Gold gestalteten Figuren. Der Tragaltar ist das kostbarste Stück aus dem Klosterschatz des Mönchen-Gladbacher Münsters, der nach den Plünderungen durch die Franzosen im Jahr 1802 nur noch einen Bruchteil der ehemaligen Fülle umfasst. Die beiden Kopfreliquiare der Kirchenheiligen Laurentius und Vitus in der Schatzkammer nördlich des Chores wurden viel später angefertigt, erst im 19. Jahrhundert.




Schwäbisch Hall, der 19. August 2018 (Sonntag, 6.05 Uhr)

Wir sind wieder zurück.
Die Reise ist zu Ende, aber nicht der schreckliche Sommer: seit Wochen scheint die Sonne, aber es regnet nicht. Wir sind durch Landschaften gefahren, in denen rechts und links der Straße wegen der anhaltenden Trockenheit nicht nur junge Fichten, sondern sogar schon zahlreiche Laubbäume braun geworden waren, ganz zu schweigen von den „verbrannten“ Wiesen. Der Wasserspiegel des Rheins, an dem wir gestern von Rhens bis Bingen entlang fuhren, ist auf einem rekordverdächtig niedrigen Niveau. Und die Meteorologen kündigen für die kommende vorletzte Augustwoche wieder Temperaturen von 30 Grad an. Regen ist nicht in Sicht.

Ich war in zweifacher Hinsicht begeistert von der Reise: Zum ersten habe ich viele neue Orte und  Bauwerke kennen gelernt, zum anderen hatte ich eben all die schönen menschlichen Begegnungen.
Nur Lena war etwas enttäuscht. Sie hatte das Programm nicht gelesen und etwas anderes erwartet. Für sie war die Reise anstrengend: all die Kirchen, die vielen Leute, das dichte Programm, keine Entspannung. Als wir gestern gegen 21. 00 Uhr von Neunheim, wo wir unser Auto beim Busunternehmen Mack geparkt hatten, zurück nach Schwäbisch Hall fuhren, habe ich begriffen, dass es meine und nicht ihre Reise war. Sie wäre lieber mit mir allein ans Meer gefahren und hätte sich eine Woche lang ausgeruht. Das lange Sitzen im Bus, die vielen neuen Eindrücke von Städten und Orten, mit denen sie geschichtlich nichts verbinden kann, die vielen für sie fremden, wenn auch zu ihr sehr freundlichen Leute, das alles war „Stress“ für sie.

In der Schatzkammer auf der Nordseite des Chores, also genau symmetrisch zur Sakristei auf der Südseite, befindet sich auch ein Schrein, in dem das Tuch des Heiligen Abendmahls aufbewahrt wird, das alle sieben Jahre in einer Prozession, der sogenannten Heiligtumsfahrt, umhergetragen und gezeigt wird, das letzte Mal im Jahr 2014. Probst Erlemann erklärt sehr schön einen wichtigen Aspekt der für uns Heutigen kaum noch nachvollziehbaren Reliquienverehrung der mittelalterlichen Christen:
„Die Verehrung der Reliquien aus dem Leben des Erlösers geht auf Kaiserin Helena zurück. Sie war die Mutter Konstantin des Großen, dem Begründer des Staatskirchentums. Die Heilige Helena lebte als Kaiserinmutter mit ihrem Sohn Konstantin, der in Trier geboren wurde, in Konstantinopel. Kaiserin Helena hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Kreuz des Erlösers zu finden. (…) Helena ließ auf dem Berg Golgata Ausgrabungen anstellen. Wie zu erwarten, wurden auch Balken ausgehoben, worauf Helena mit Weitsicht[5] und kluger Einsicht sagte: „Das ist es!“ Damals war Jerusalem ein kleines Städtchen mit einer kleinen christlichen Gemeinde unter Bischof Macarius. Es heißt in der Legenda aurea des Jacobus a Voragine (1264), dass Helena dem Bischof befahl, das Kreuz des Erlösers hinab in die Stadt zu tragen. Macarius aber, ein kräftiger Mann, vermochte sich mit dem geschulterten Kreuz nicht von der Stelle zu rühren. Jesus hatte die schwere Last zu tragen gewusst, aber der Bischof vermochte es nicht. Ein Mönch aus der begleitenden Menge riet, sich der bischöflichen Gewänder zu entledigen, denn auch der Erlöser habe es nackt tragen müssen. Daraufhin habe Macarius seine Gewänder abgelegt und tatsächlich. Er schulterte das Kreuz erneut und zog nunmehr ohne Mühe in die Stadt. Damit schien der Beweis erbracht: es ist das Kreuz des Erlösers.“ (a.a.O. S 51f)
Nach der Besichtigung der Abteikirche machen wir noch einen Rundgang durch die Stadt, in der kaum noch ein altes Haus steht. Dafür werfen wir einen Blick in das nahe gelegene Museum „Abteiberg“, das 1982 als erstes Museum der Postmoderne, noch vor der neuen Stuttgarter Staatsgalerie, eröffnet worden war. Die Architektur entwarf der Wiener Architekt Hans Hollein in enger Zusammenarbeit mit dem Museumsdirektor Johannes Cladders  in den 1960er Jahren. Zuvor hatte im alten Städtischen Museum Mönchengladbach 1967 die erste große Museumsausstellung von Joseph Beuys stattgefunden. So erblicken wir von der Empfangshalle aus auch ein Beuys-Werk, das sogenannte „Revolutionsklavier“ aus dem Jahre 1969. Das alte Klavier ist über und über bedeckt mit vertrockneten Blättern, wie wir sie derzeit wegen der Hitze rechts und links der Autobahn an zahlreichen Laubbäumen erblicken können.



Auch in die ehemalige Stadtpfarrkirche, einen gotischen Bau, werfen wir einen Blick. Das Patrozinium dieser Marienkirche fiel ebenfalls auf den 15. August. Wir erblicken jedoch nicht die geringste Spur eines Heiligen Offiziums, sondern nur allerlei nachgebaute Litfassäulen und andere kirchenfremde Einrichtungen. Aus der Tafel am Eingang der zwischen 1469 und 1533 erbauten Kirche entnehme ich, dass der Bau heute als „Citykirche“ genutzt wird, was auch immer damit gemeint ist.



Schließlich kehren wir ins älteste Gasthaus von Mönchengladbach ein, das seinen Namen dem Stadtpatron verdankt: St. Vith. An einer Ecke steht der jugendliche Heilige mit der Märtyrerpalme in der Rechten und dem Kirchenmodell in der linken. Zu seinen Füßen kauert ein Löwe. Der Heilige Vitus wurde in Sizilien zur Zeit des Kaisers Diokletian geboren und wegen seines christlichen Glaubens verfolgt. Man versuchte ihn mit kochendem Öl in einem Kessel („Hafen“) zu töten oder hetzte einen wilden Löwen auf ihn. Vitus machte das Kreuzeszeichen über dem Tier und es legte sich zahm zu seinen Füßen und leckte sie. Er heilte den besessenen Sohn des Kaisers und wird deswegen bei Anfällen von Epilepsie („Fallsucht“)angerufen. Er wird seit dem 15. Jahrhundert als einer der 14 Nothelfer verehrt, hilft bettnässenden Kindern und Sterbenden, und ist der Patron der Kupferschmiede.



Laurentius, der zweite Kirchenheilige, ist der Patron der Köche. Er erlitt sein Martyrium auf einem Bratrost.
Wegen der Laurentiusreliquie, die in Mönchengladbach aufbewahrt wird, ist die Stadt einst ins Kreuzfeuer internationaler Politik geraten. Edmund Erlemann erzählt:
„Während der Regentschaft von Kaiser Karl V. – dem Kaiser der Reformation, ‚in dessen Reich die Sonne nicht untergeht‘ – geschah es, dass dessen Sohn Philipp bei Ypern in den Spanischen Niederlanden während einer Schlacht am 10. August 1557, dem Fest des Heiligen Laurentius, ein Dominikanerkloster, das dem Heiligen Laurentius geweiht war und in dem sich die Feinde, die Franzosen, verschanzt hatten, mit Kanonen beschoss und zerstörte.
Nun fühlten sich die Herrschenden auch damals nicht sonderlich von ihrem Gewissen geplagt. Aber die Zerstörung jenes Klosters quälte Philipp. Deshalb legte er, nachdem ihm sein Vater nach der Schlacht die spanische Königskrone verlieh (Philipp II., Vater von Don Carlos), das Gelübde ab, dem Heiligen Laurentius ein neues Kloster zu bauen. Das tat er, als er das Escorial erbaute, das spanische Königsschloss, das auch ein Kloster beherbergte, das dem Heiligen Laurentius geweiht wurde.
Der Escorial ist in der Form eines Rostes gebaut, zu Ehren des Laurentius. Nun fehlte Philipp noch die Krönung seines Werks: die Laurentius-Reliquie. Er wusste von seinen Gesandten in den Spanischen Niederlanden, dass das Laurentiushaupt in Besitz der Abtei Gladbach war. – Die Region der Spanischen Niederlande reichte bis nach Niederkrüchten, weshalb die Leute, die dort wohnen, bis heute ‚de spanische Böck‘ heißen. – So forderte Philipp von den Gladbacher Mönchen die Herausgabe der Reliquie. Die Spaltung der Kommunität war die Folge. Die einen meinten, man könne der katholischen Majestät diese Reliquien nicht verweigern; die anderen waren gegen deren Herausgabe. Der König bemühte sich weiter, um das Laurentiushaupt doch noch zu erhalten: er wandte sich an den Erzbischof von Köln, der daraufhin Druck auf die Gladbacher Mönche ausübte.
Der Herzog von Kleve-Jülich-Berg, der Gladbacher Landesherr, unterstützte aber die Mönche. Philipp schaltete jetzt seinen Onkel ein, Ferdinand, den Kaiser, Bruder des abgedankten Karl V. Der forderte nun ebenfalls die Mönche in Gladbach auf, die Reliquie dem König von Spanien zu übergeben. Schließlich drohte der Papst den ungehorsamen Mönchen von Gladbach das Interdikt an; das heißt, es sollte kein Gottesdienst mehr gefeiert werden, falls nicht die Reliquie dem König von Spanien übergeben würde. – Es heißt, dass der Konflikt derart eskalierte, dass der Gladbacher Abt Hülsen aus Kummer über den Streit im Alter von 39 Jahren starb. Seine Grabplatte unter dem Laurentiusbild weist ihn aus als ‚defensor intrepidus capitis sancti Laurentii‘ – den unerschrockenen Verteidiger des Hauptes des Heiligen Laurentius. – Die Mönche aber blieben standhaft. 40 Jahre dauerte der Konflikt, der dann allmählich in Vergessenheit geriet. Alte Gladbacher kennen noch die Redensart, die bei aussichtslosen Unternehmungen gebraucht wurde: ‚Die Saak jeht uut wie die Saak möt et Laurentiushaupt‘ (Die Sache geht aus, wie die Sache mit dem Laurentiushaupt). Hier sei auch an die Laurentius-Legenden erinnert: Jeden Freitag steigt Laurentius ins Fegefeuer, um eine Seele zu retten. Die Sternschnuppen im August heißen Laurentiustränen.“ (a.a.O. S 37f)
So wie die Reliquien des heiligen Vitus, die 775 nach Saint Denis und von dort 887 ins Kloster Corvey kamen, von wo aus ein Schädelknochen nach Gladbach und ein weiterer nach Ellwangen gelangte, durch ein Geschenk, das Kaiser Heinrich II. am Anfang des 11. Jahrhunderts dem Herzog Wenzel machte, nach Prag, in die Hauptstadt Böhmens wanderte, wo sich seit dem 14. Jahrhunderts der heute noch bewunderte Veitsdom erhebt, so sollten die Reliquien des Heiligen Laurentius nach Spanien in den Königspalast in der Nähe von Madrid gelangen. Spanien hat eine besondere Beziehung zu Laurentius, denn in der Kathedrale von Valencia wird ein Kelch aufbewahrt, der unter dem besonderen Schutz des Laurentius steht.
Laurentius war einer von sieben Diakonen des Papstes Sixtus II. Es oblag ihm, einerseits das Kirchengut zu verwalten, andererseits die Armen zu pflegen. Als Laurentius von den Soldaten des Kaisers Valerian verfolgt wurde, verlangten sie von ihm die Herausgabe des Kirchengutes. Er aber verkaufte es heimlich und gab das Geld den Armen, indem er dem Kaiser verkündete, dass diese der wahre Schatz der Kirche seien.
Eine Legende erzählt, dass sich unter dem Kirchengut auch der Kelch befunden hätte, aus dem Christus und seine Apostel beim letzten Abendmahl getrunken hatten. Dieser soll nach Spanien ins Kloster San Juan de la Pena gebracht worden sein. Von dort kam er später nach Valencia, wo er noch heute bewundert werden kann.[6]

Unsere nächste Station an diesem 16. August 2018 ist das Schloss Augustusburg in Brühl. Der Bau wurde im 18. Jahrhundert als  Sommerresidenz des Kölner Kurfürsten und Erzbischofs Clemens August von Bayern (1700 – 1761) konzipiert, der als weltlicher und geistlicher Fürst mit den meisten Ämtern seiner Zeit zu den mächtigsten Reichsfürsten gehörte.
Sein Vater Maximilian II. Emanuel war zur Zeit der Geburt des berühmten Sohnes Generalstatthalter der spanischen Niederlande, deren Gebiet etwa dem heutigen Belgien entspricht. So kam Clemens August am 16. August 1700 in Brüssel zur Welt. Er erhält mit 15 Jahren die Tonsur und wird somit als zweitältester Sohn dem geistlichen Beruf verschrieben, während sein älterer Bruder Karl Albrecht Kaiser wird. Am 12. Februar 1742 wird er in der Bartholomäuskirche in Frankfurt von Clemens August selbst zum einzigen bayrischen Kaiser gesalbt. Allerdings stirbt Kaiser Karl Albrecht schon drei Jahre später im Jahre 1745. Im März 1716 übernimmt Clemens August den ersten Bischofsstuhl und wird Bischof von Regensburg.
Vier weitere Bistümer werden ihm zuerkannt, so dass er von den Franzosen spöttisch „Monsieur de cinq eglises“[7] genannt wird, da Ämterhäufung vom Kirchenrecht offiziell verboten war, und nur durch einen päpstlichen Dispens möglich wurde. Diesen hatte Clemens August, der 1716 und 1717 unter Aufsicht des Papstes in Rom Studien in Theologie, Logik, Physik und Philosophie betrieben hatte, erlangt, nachdem er am 4. März 1725 auf Schloss Schwaben bei München zum Priester geweiht wurde. Im Sommer 1725 reiste Clemens August an den französischen Königshof und besuchte die Schlösser von Versailles, Marly und Chantilly. Im Jahr 1732 krönte Clemens August seine Ämterlaufbahn mit dem prestigeträchtigen Amt des Hochmeisters des Deutschen Ordens.
Der Fürstbischof liebte einerseits die Jagd, wollte sich aber auch immer wieder vom weltlichen Getriebe zurückziehen und seinen religiösen Neigungen Raum geben. So suchte er Kontakt zu der 2001 heiliggesprochenen Mystikerin Crescentia Höß aus Kaufbeuren, die seine Ratgeberin und Seelenführerin wurde.
Aus einer Liaison mit der Bonner Harfinistin Mechthild Brion ging eine Tochter, die spätere Reichsgräfin von Löwenfeld, hervor, die später mit Franz Ludwig von Holnstein, einem illegitimen Sohn seines Bruders, des Kaisers, verheiratet wurde.
Der bereits im 13. Jahrhundert eskalierende Konflikt zwischen den Erzbischöfen als Stadtherren und den reichen und selbstbewussten Bürgern von Köln, führte dazu, dass das Waldgebiet von Brühl zu einem Ausweichquartier ausgebaut wurde. So entstand hier die erste mittelalterliche Wasserburg nahe am Wildpark und der 1285 zur Stadt erhobenen Siedlung Brühl.
Dieses Schloss wurde 1689 von den Truppen Ludwigs XIV. zerstört. Am 8. Juli 1725 legte Clemens August, der am 12. November 1723 nach dem Tod seines Onkels zum neuen Erzbischof von Köln gewählt worden war, den Grundstein für eine nach Osten offene Dreiflügelanlage. 1728 änderte der bayerische Hofbaumeister, der in Frankreich geschulte Francois de Cuvillies der Ältere (1695 – 1768), die ursprünglichen Pläne. Der ebenfalls in bayerischen Diensten stehende französische Gartenkünstler Dominique Gerard legte eine mit den Innenräumen des Südflügels korrespondierende Gartenanlage an. Die Pläne der Haupttreppe des Schlosses stammen von Balthasar Neumann (1687 – 1753). Der Bauherr erlebte die Fertigstellung 1768 nicht mehr, da er sieben Jahre zuvor während eines Reiseaufenthaltes in Koblenz-Ehrenbreitstein überraschend verstorben war.
Eine junge Historikerin führt uns durch die Räume des Schlosses.
Der Höhepunkt der Führung ist das prunkvolle Treppenhaus. Es erinnert mich stark an die „Ehrentreppe“ im Winterpalast der Zaren in Sankt Petersburg, die wir im letzten Sommer etwa um die gleiche Zeit besichtigt haben. Diese in den Jahren 1754 bis 1762 von Francesco Bartolomeo Rastrelli geschaffene Prunktreppe heißt auch „Jordantreppe“, weil über sie die kirchliche Zeremonie der Wasserweihe vollzogen wurde, bei der eine Kreuzprozession zu einem Pavillon über der Neva führte.
Das Augustusburger Treppenhaus, das zu den „triumphalsten Raumkunstwerken seiner Art im 18. Jahrhundert“[8] gehört, entstand in seiner heutigen Form in den Jahren 1740 bis 1750, also vor der „Jordantreppe“ in Sankt Petersburg.
Marc Jumpers beschreibt das barocke Gesamtkunstwerk im Schlossführer sehr treffend:
„Die mehrschichtige Inszenierung erschließt sich nicht mit einem Male, sondern im Nacheinander während des Aufstiegs.
Der erste Blick des Betrachters, der aus dem Vestibül kommt, fällt auf eine Triumpharchitektur mit der vergoldeten Büste des Kurfürsten Clemens August auf einer Pyramide, dem Symbol des hohen und großen Ruhms des Fürsten. Flankiert wird diese von den Allegorien ‚Modestia‘ (Bescheidenheit) und ‚Nobilitas‘ (Adel); als oberer Abschluss der Triumpharchitektur erscheint das Wappen des Kurfürsten mit Fama und die Allegorien ‚Fides‘ (Glaubenstreue) und ‚Justitia‘ (Gerechtigkeit) als Sinnbilder der geistlichen und weltlichen Macht.
Die Büste des Kurfürsten steht somit im Zentrum eines allegorischen Programms und wird schon durch die Erscheinungsform als die Sinnmitte des Treppenhauses begreiflich.
Noch bevor man die ersten Treppenstufen des Unterlaufs betritt, ist der Punkt erreicht, von dem aus man die Hauptszene des Deckenfreskos überschauen kann. Wiederum erblickt man eine Pyramide; diesmal mit den Initialen ‚CA‘. So sind zwei Bezugsmomente zwischen Architektur und Fresko auf die ruhmreiche Person des Fürsten gegeben, noch bevor das Gesamtprogramm des Raumes überschaubar ist.
Zu Füßen der Pyramide im Deckengemälde[9] thront ‚Magnanimitas‘, die Großherzigkeit, eine der Tugenden aus dem Wahlspruch des Bauherrn: ‚Pietate et Magnanimitate‘. Sie wendet sich zur ‚Magnifizenz‘, deren Attribut – ein Schild mit Grundriss – besagt, dass sie den Nachruhm des Fürsten durch Werke der Baukunst sichert. Die Hauptallegorien senden die Freigiebigkeit zu den Künsten, die von ihrer Schutzgöttin Minerva auf die Wohltäterinnen aufmerksam gemacht werden. Am nördlichen Bildrand stürzen ‚Intellectus‘ (der Verstand) und ‚Virtus‘ (die Tugend) Lasterallegorien wie Neid und Trunksucht in die Tiefe.
Die Nebenszene des Freskos, erst erkennbar nach der Drehung auf dem Umkehrpodest vor den oberen Treppenläufen, stellt Venus dar, wie sie den schlafenden Mars entwaffnet, während Putten mit den Waffen des Kriegsgottes spielen und Waffentrophäen verbrennen. Hierin wird auf den Friedenswillen des Hausherrn verwiesen.
Ins Blickfeld kommt ferner eine zweite Triumpharchitektur um die Mitteltür zum Gardesaal mit der Initialkartusche des Kurfürsten und den Allegorien ‚Generositas‘ (Großzügigkeit) und ‚Auctoritas‘ (Autorität). Die Aussage über den Kurfürsten im Treppensaal ist dreifach gestaffelt und in den jeweiligen Symbolen dargestellt: der geistliche Rang Clemens Augusts als fünffacher Bischof und Legatus natus des Papstes im Reich, die weltliche Würde eines Reichs- und Kurfürsten und der einzigartige Rang eines Hochmeisters des Deutschen Ordens.
Diese große Zahl von Ämtern und Würden, die kein anderer Fürst des Reiches auf sich vereinen konnte, deuten die Würdezeichen in den Supraporten der Nord- und Südwand sowie um die Pyramide mit der vergoldeten Büste an. In einer zweiten Ebene über den Supraporten sind die vier Vorgänger aus dem Hause Wittelsbach als Kurfürsten von Köln dargestellt (an der Nordwand links beginnend): Ernst (1554 – 1612), Ferdinand (1577 – 1650), Max Heinrich (1621 – 1688) und Joseph Clemens. Nach zeitgenössischer Auffassung mehrte der Verweis auf die ruhmreichen Vorfahren den Ruhm des regierenden Kurfürsten. Schließlich verkörpern die Hermenpaare, die die oval geöffnete Decke tragen, wesentliche Begriffe, die mit dem Lebens-und Herrschaftskreis eines Fürsten verbunden sind (an der Nordwand links beginnend): Jupiter (Sinnbild höchster Würde und Majestät) und Minerva (kriegerischer Mut und Weisheit), Herkules (Stärke und heroischer Mut) und Venus (Schönheit und Liebe), Pan (arkadisches Dasein) und eine Nymphe (Tanz), Mars (Krieg) und Victoria (Sieg), Dichtkunst und Ruhm, Herrschaft und Fortuna, Platon (Philosophie) und Neid, Samson (Seelenstärke) und bildende Kunst, Apoll (Musik) und Diana (Jagd), Vulkan (Handwerk) und Ceres (Ackerbau).
In der Ikonologie des Raumes stellt das Fresko gleichsam die Schlusserklärung dar: Im Reich dieses ruhmvollen Kurfürsten, dessen Haupttugend Magnanimitas ist, sollen die Künste blühen, sollen das Angenehme und Erhabene herrschen; hier aber soll kein Platz sein für Krieg und böse Mächte.“[10]
Im Rokokozeitalter liebten die Fürsten allegorische Darstellungen, mit denen Tugenden und Laster, gute und schlechte Eigenschaften gleichsam personifiziert wurden. Auch die antike Götterwelt diente ihnen als sagenhafte Quelle der Inspiration.
Weil der Zugang zur realen Götterwelt, der im Mittelalter manchen Menschen noch möglich war, verdämmerte, wurden die Decken in der Barock-und Rokokozeit mit einer Unmenge von Gestalten und Wesen bevölkert: in sakralen Bauwerken ist es meistens Maria, umgeben von Heiligen und Engeln, in profanen Gebäuden ist es der Bauherr selbst, der sich von seinen Tugenden und den Künsten feiern lässt, wie hier in Schloss Augustusburg.
Was einst reales innerliches Erlebnis war, wird nun immer mehr äußerer Blickfang.
Bernhardus Silvestris[11] oder Alanus ab Insulis[12], die großen Lehrer der Schule von Chartres, konnten – ähnlich wie Boethius in seinem „Trost der Philosophie“ – reale geistige Wesen noch erleben und sich von ihnen inspirieren lassen wie einst Homer, der sich seine großartigen Dichtungen, die sowohl im Himmel als auch auf der Erde spielen, von „der Muse“ einsagen ließ: „Sage mir Muse die Taten…“
Solche Darstellungen zeigen nicht nur die finanzielle Potenz der Mächtigen, sondern sie sollen auch ihre gleichsam von höherer Stelle verliehene Herrschaft legitimieren. In der Formel „von Gottes Gnaden“ wird die Legitimation durch eine höhere, nicht irdische Macht direkt angesprochen.
Jede politische Handlung wurde im christlichen Mittelalter mit einer Messe begonnen, so auch die Wahl- und Krönungsfeierlichkeiten eines Königs oder die Reichstage, wie es die Goldene Bulle vorschreibt. In der Regel war die Eröffnungsmesse an den Heiligen Geist gerichtet.
„Die Anrufung des Heiligen Geistes diente zu seligem anfange einer Reichsversammlung, sie galt als fundamentum necessarium totius actus, als notwendige Grundlage des ganzen Aktes, verankerte ihn in der göttlichen Ordnung und verlieh ihm sakrale Autorität.“[13]


Schwäbisch Hall, der 20. August 2018 (Montag, 5.58 Uhr)

Heute, am Todestag von Bernhard von Clairvaux, will ich meinen Bericht von unserer Reise zügig fortsetzen.
Nach der Führung möchte ich noch die Gartenanlage anschauen. Seit ich vor ein paar Jahren in einer Ellwanger Villa, die einmal einem der Stiftsherren gehörte, die Deckenfresken mit Jahreszeitendarstellungen des Rokoko-Malers Johannes Nieberlein erläutern durfte, wusste ich, dass im Brühler Schlossgarten Statuen stehen, die die vier Jahreszeiten verkörpern. Diese wollte ich nun im Original betrachten. Dazu musste ich die ganze wunderschön gestaltete französische Gartenanlage durchlaufen, an deren Ende sie standen. Davor gibt es einen Teich, in dem sich die blendend weißen Statuen spiegeln. Im Schlossführer heißt es:
„Der Garten von Schloss Augustusburg zählt zu den bedeutendsten Anlagen französischer Gartenkunst des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Den einzig bekannten, heute in Schloss Augustusburg aufbewahrten Entwurfsplan lieferte der in Versailles ausgebildete und seit 1715 für den kurbayerischen Hof tätige Gartenkünstler Dominique Girard.



Zentrum der Brühler Gartenanlage ist das große, zweiteilige Broderieparterre. Es wird durch Fontänenbecken und anschließendem Spiegelweiher gegliedert, der über eine flache Kaskade aus dem Rundbecken der großen Abschlussfontäne gespeist wird. Es handelt sich um die Art eines parterre de broderie melee de massifs de gazon, die wohl aufwendigste Form französischer Broderien: Die wie Stickerei wirkenden filigranen Buchsornamente der beiden Zierbeete sind mit Rasenstreifen und farbigen Streumaterialien ausgefüllt und von rhythmisch bepflanzten Blumenrabatten eingefasst. Die Rahmenrabatten sind zur Mitte hin in Form eines Eselsrückens aufgewölbt, was optisch durch die Pflanzfolge der Sommerblumen unterstützt wird, die in der Beetmitte eine hochwachsende und zum Rand hin zwei paarweise angeordnete, niedrigere Sorten vorsieht. Diese Pflanzfolge von Sommerblumen entspricht einem in der Bibliotheque Nationale in Paris aufbewahrten Pflanzplan für das Grand Trianon in Versailles aus dem Jahre 1693.
Von einem umfangreichen Skulpturenprogramm zeugt heute nur noch eine Auflistung im Inventar von 1761. Erhalten geblieben und 2005 restauriert sind die vier steinernen Postamente der im Inventar erwähnten Personifikationen der Jahreszeiten. Von den hier 2009 aufgestellten Figuren aus Bamberger Sandstein stammen drei wohl aus dem 18. Jahrhundert. Die vierte Figur, der Winter, wurde als Neuinterpretation einer Skulptur aus dem Schloss Rheinsberg in Brandenburg von dem Bildhauer Guntram Kretschmar neu geschlagen.“[14]



Ich betrachte und fotografiere die vier Skulpturen: im Osten steht als erste eine weibliche Personifikation des Frühlings mit Blumengirlanden in beiden Händen und einem Putto zu Füßen. Es ist Flora. Es folgt Ceres, die den Sommer verkörpert, mit Ährenbündeln. Den Herbst zeigt ein jugendlicher Dionysus mit Trauben und einem erhobenen Weinbecher in den Händen an. Schließlich schließt der Winter als alter Mann, vermutlich Chronos, die Gruppe ab. Ihm zu Füßen züngeln Flammen aus einer Vase. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein Putto mit einem Beil, um Holz zu schlagen. Der Alte hüllt sich in einen Fellmantel.



Solche Statuen stehen auch im Schlossgarten von Weikersheim oder im Park von Veitshöchheim. Selbst die Jahreszeiten erlebten die Menschen damals als Wesen, während wir sie seit der Aufklärung lediglich als abstrakte Begriffe von ihrem astronomisch-meteorologischen Hintergrund herleiten.
In der Ellwanger Villa Maier und im Gartensaal im Heckengarten des Schlosses Hohenstadt hat der Maler Johannes Nieberlein die vier Jahreszeiten mit dem Tierkreis verbunden.
Vierergruppen stehen in der alten Wissenschaft für die Welt, während Dreiergruppen für die göttliche Trinität oder die geistlichen Tugenden stehen. So zeigen zahlreiche Deckenfresken des Rokoko die vier damals bekannten Kontinente Europa, Afrika, Asien und Amerika als Personifikationen, wie zum Beispiel in der berühmten Decke im Treppenhaus der Würzburger Residenz von Giovanni Tiepolo. Aber auch der Ellwanger Hofmaler Johannes Nieberlein hat Allegorien der vier Erdteile geschaffen, zum Beispiel an der Decke der Schlosskirche von Rechenberg.
Seit dem Mittelalter werden die vier antiken Kardinaltugenden Fortitudo (Kraft und Mut), Prudentia (Klugheit oder Weisheit), Temperantia (Mäßigung) und Justitia (Gerechtigkeit) und die drei theologischen Tugenden Fides (Glaube), Spes (Hoffnung) und Caritas (Liebe) als Personifikationen dargestellt. Man erkennt sie jeweils an ihren Attributen.
Das symbolische und später allegorische Denken unterscheidet sich grundlegend von unserem heutigen abstrakten Denken. Während letzteres in seiner Fülle an differenzierten Informationen für den einzelnen Menschen kaum noch überschaubar ist und im Kopf oftmals ein Chaos erzeugt, war jenes klar geordnet und überschaubar.
Der alte Kosmos steht einem neuen Chaos gegenüber.
Das Tohuwabohu, das die Genesis im ersten Vers des Alten Testamentes als Ausgangszustand vor der Welterschaffung durch die Elohim schildert, ist heute in den Menschenseelen, über die nicht mehr der Geist Gottes schwebt, wieder da. Es hat sich nur von außen nach innen verlagert. In den Kunstwerken aus den Zeitaltern vor der Aufklärung können wir die alte Ordnung noch erleben. Deshalb reisen wir dorthin, wo sie noch erhalten sind und nicht durch Revolutionen, Kriege oder durch den veränderten Zeitgeschmack der Menschen zerstört wurden. Es sind immer nur kleine Reste.
Durch die Entwicklung sind natürlich auch die alten Hierarchien verschwunden: heute gibt es keine Könige und Kurfürsten mehr, die ihr Geld für die Kunst ausgeben und solche Schlösser und Gärten bauen lassen wie Schloss und Park Augustusburg, sondern  Millionäre, die es in eine Privatvilla oder eine Hochseeyacht investieren.
Es gibt für die Seele nichts Wohltuenderes als zum Beispiel eine Gartenanlage im französischen Stil, in der sich alles aufeinander bezieht, wo klare Symmetrien herrschen und wo das Auge in harmonisch ausgeglichenen Schönheiten schwelgen kann.
Zwischen Herkules und Athene hindurch, die am Eingangstor als monumentale Wächter in Stein gehauen sind, verlassen wir Schloss und Garten Augustusburg und kehren in unser Hotel zurück.
Bei der Durchsicht des Schlossführers entdecke ich, dass wir das Schloss des ehemaligen Erzbischofs von Köln und Kurfürsten Clemens August genau an seinem 318. Geburtstag besucht haben. War das Planung oder Zufall?

Am nächsten Tag, am Freitag, dem 17. August, steht Bonn auf dem Programm. Zuerst besuchen wir das Haus der Geschichte und am Nachmittag das Münster von Schwarzrheindorf.
Die Stadt Bonn war eine fränkische Siedlung am Rhein, die aus einem römischen Legionslager hervorgegangen ist. Im 12. Jahrhundert kam sie an das Erzstift Köln und diente ab dem 16. Jahrhundert als Haupt- und Residenzstadt der Erzbischöfe. Von 1815 bis 1945 war Bonn preußisch und gehörte zur Rheinprovinz, die nach dem Sieg über Napoleon im Wiener Kongress dem Staat Preußen zugeschlagen wurde. Zunächst waren es zwei westliche Provinzen, die Provinz Jülich-Kleve-Berg mit dem Sitz Köln und das Großherzogtum Niederrhein mit Sitz in Koblenz. Durch preußische Kabinettsorder wurden sie am 22. Juni 1822 vereint und ab 1830 „Rheinprovinz“ genannt. Die Provinzialregierung hatte ihren Sitz in Koblenz.
Der Historiker Thomas Nipperdey erläutert die Bedeutung der Rheinprovinz für das Deutsche Reich:
„Die Versetzung Preußens an den Rhein ist eine der fundamentalen Tatsachen der deutschen Geschichte, eine der Grundlagen der Reichsgründung von 1866/1871. Mit der Rheinprovinz war die künstliche Existenz Preußens, die Spaltung in eine Ost- und Westhälfte, neu befestigt und schärfer als je zuvor ausgeprägt. Das wurde zur stärksten Antriebskraft preußischer Machtpolitik; letzten Endes ging es darum, diese Spaltung zu überwinden. Preußens Rolle als Schutzmacht Deutschlands an der Westgrenze – in Verbindung mit der Zweiteilung – führte dazu, dass seine eigene Sicherheit unzertrennlich mit seiner Stellung in Deutschland verbunden war; sein Streben nach einer hegemonialen Stellung im Norden war von daher fast eine Notwendigkeit. Wenn die Kleindeutschen später von einer ‚Mission Preußens‘ zum Schutz und darum zur Einigung Deutschlands gesprochen haben, so muss man sagen, dass Preußen strategisch und geopolitisch in diese ‚Mission‘ hineingedrängt worden ist. Schließlich – die Verteidigungsaufgabe hat den preußischen Militarismus neu stabilisiert und legitimiert; zugleich hat gerade die Rheinprovinz Preußen zur stärksten deutschen Wirtschaftsmacht gemacht und seine eigentümliche Modernität weiter ausgeprägt.“[15]
Es ist interessant zu erfahren, dass es schon im 19. Jahrhundert eine Zweiteilung Deutschlands gab. Es ist wie eine Vorankündigung des geteilten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, als es mit dem rheinischen Bonn eine westliche und mit (Ost-) Berlin eine östliche Hauptstadt gab.
Urbildhaft war (Groß-) Deutschland jedoch bis zum Ersten Weltkrieg dreigeteilt: Preußen als werdende Industriemacht im Norden mit einer überwiegend protestantischen Bevölkerung auf der einen, der Agrarstaat Österreich-Ungarn mit einer überwiegend katholischen Bevölkerung im Süden auf der anderen Seite. Dazwischen befanden sich die Mittelstaaten mit dem Königreich Bayern, das mehr mit dem katholischen Österreich verbunden war, mit dem weitgehend reformierten Königreich Württemberg und dem teils katholischen (Südhälfte), teils protestantischen (Nordhälfte) Großherzogtum Baden, um nur die drei im 19. Jahrhundert geschichtlich bedeutendsten zu nennen.[16]
In Bonn begegnen wir wieder dem Kurfürsten Clemens August. Er ließ das Rathaus mit seiner bekannten repräsentativen Freitreppe und das Poppelsdorfer Schloss mit seinem zoologischen Garten als weitere Sommerresidenz erbauen. Ursprünglich war geplant, von diesem Schloss aus eine schnurgerade Straße bis zum etwa 30 Kilometer entfernten Schloss Augustusburg in Brühl zu bauen, wie sie auch zwischen dem Residenzschloss Ludwigsburg und dem Schlösschen Solitude bei Stuttgart bis heute existiert.
Von 1949 bis 1990 war Bonn die vorläufige Bundeshauptstadt, und bis 1999 Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland. Die Lage der alten Hauptstadt am Rhein veranschaulicht die Westorientierung des neuen deutschen Staates nach dem „Untergang“ des Deutschen Reiches und der „Auflösung“ Preußens. Im Jahre 1984 wurde an der Willy-Brandt-Allee das Haus der Geschichte in der Bonner Museumsmeile eröffnet. Hier haben fleißige Sammler über eine Million Objekte zusammengetragen, die man heute in Themenräumen auf mehreren Stockwerken kostenlos besichtigen kann. In diesem zeitgeschichtlichen Museum kann man der deutschen Vergangenheit, wie man sie zum Teil in den Zeitungen oder im Fernsehen „miterlebt“ hat, begegnen. Bei der Fülle der Objekte kann man leicht den Überblick verlieren. Dennoch finde ich die Ausstellung pädagogisch sehr gelungen.
Erwähnen möchte ich hier eine Karikatur, die mir in dem ersten Raum aufgefallen ist, wo es um die Begründung der Bundesrepublik durch den parlamentarischen Rat im Jahr 1949 geht und die mir als symptomatisch erscheinen will. Ich habe sie fotografiert: Sie zeigt den ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, dem eine ganze Vitrine gewidmet ist, vor dem Orakel von Delphi. Die Pythia ist in heller Aufregung und spricht wie immer unverständliche Worte. Ein Berater, den ich nicht identifizieren kann, flüstert dem zukünftigen Präsidenten die „Übersetzung“ ins Ohr.



Hier wird wie am Rande angedeutet, dass auch ein Politiker nur dann seiner Mission gerecht wird, wenn er auf die Stimme des Geistes hört. Aber Theodor Heuss, der mehrere Bücher verfasst hat, darunter auch eine Biographie über den Unternehmer Robert Bosch, die dieser selbst kurz vor seinem Tode von ihm erbeten hatte, wurde später etwas abwertend von den sogenannten „Realpolitikern“ als „Schöngeist“ bezeichnet. Am 12. September 1949 hat die Bundesversammlung den Brackenheimer zum ersten Bundespräsidenten der aus Trümmern wiedererstandenen Republik gewählt. Weil er 1954 für eine zweite Amtsperiode wiedergewählt wurde, blieb „Papa Heuss“, wie ihn die Bevölkerung liebevoll nannte, bis zum 12. September 1959 im Amt. Nach dem Tod seines Nachfolgers Heinrich Lübke schrieb die Londoner Times eine Würdigung des liberalen Politikers, die – wie ich finde – recht gut sein Wesen trifft:
„Professor Heuss war außergewöhnlich erfolgreich als Bundespräsident und verkörperte bis zur Perfektion das Konzept des gebildeten Ehrenmanns (‚Scholar and Gentleman‘) unter den extrem schwierigen Umständen, in denen sich Deutschland selbst fand, nachdem Hitlers Aggressionskrieg verloren war. Er tat als formelles Staatsoberhaupt, was er konnte, um das Image des Landes als eins der Dichter, Philosophen und Musiker wiederherzustellen.“ (The Times, 7. April 1972, S 16, aus dem Englischen übersetzt)[17]
Der Bundespräsident hat bis heute  in unserer Republik nur eine repräsentative Rolle. Viel mehr Macht hat dagegen der Bundeskanzler.
Drei Tage nachdem die Bundesversammlung Theodor Heuss zum Bundespräsidenten gewählt hatte, wurde am 15. September 1949 der „Alte von Rhöndorf“, der 73jährige Konrad Adenauer, mit einer Stimme Mehrheit – es war seine eigene – von der Regierung zum Bundeskanzler gewählt. Am 20. September wurde er als erster Bundeskanzler vereidigt und blieb 14 Jahre lang im Amt. Rhöndorf ist ein Dorf südlich von Bonn auf der rechten Rheinseite.[18]



Am 1. und 2. März 1947 traf im Exerzitienhaus auf dem Schönenberg ein Kreis aus Politikern zu einer „Diskussionsrunde“ zusammen, die über die zukünftige Staatsform nachdachte. Zu den Initiatoren des „Ellwanger Kreises“ gehörte neben dem zukünftigen Bundeskanzler unter anderen auch der zukünftige Außenminister der Bundesrepublik, Franz von Brentano.
„1948/49 standen Fragen der Verfassung im Vordergrund. Der von den Ellwangern erarbeitete Verfassungsentwurf, der dem Parlamentarischen Rat als Drucksache vorlag und nachhaltigen Einfluss auf die Beratungen zum Grundgesetz erlangte, begründete den Ruf des Kreises. Mit der Festlegung der großen Linien einer Bundesverfassung stellte er einen Kompromiss zwischen den zentralistischen Tendenzen der Union im Norden und den stark föderalistischen Positionen der süddeutschen Vertreter dar.“[19]
So gibt es erstaunlicherweise wieder eine Verbindung zu unserem Heimatstädtchen.
Leider gibt es in der Dauerausstellung im Haus der Geschichte keinen Hinweis auf den „Ellwanger Kreis“, genauso wenig wie auf die Politik der Heimatvertriebenenverbände.
Mein Großvater (mütterlicherseits) Dr. Waldemar Rumbaur war als stellvertretender Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien in den 60er Jahren oftmals in Bonn oder Berlin und hat an den Veranstaltungen teilgenommen. Sogar der „Stern“ zeigte ihn einmal in einer Ausgabe bei einer Vertriebenenveranstaltung mit Willy Brandt  und Erich Mende  in seiner Reihe „Bon(n)bons – Prominenten in den Mund gelegt“ in einem witzigen Zusammenhang.



Mit der neuen Ostpolitik Willy Brandts und seinem Kniefall in Warschau hat sich die Bundesrepublik – zum Ärger meines Großvaters – immer mehr von den ehemals deutschen Ostgebieten abgewendet. So werden in einer Vitrine lediglich die beiden Denkschriften der großen Kirchen zu dem Streitthema ausgestellt. Gegen die Denkschrift der EKD hat mein Großvater in zahlreichen Zeitungen wie zum Beispiel im Hausblatt  „Der Schlesier“ Einspruch erhoben, allerdings ohne Erfolg.[20]



Im Jahr 1948 gründete mein Großvater zusammen mit August Haussleiter und anderen die Partei „Deutsche Gemeinschaft“ (DG), die heute in einem Wikipedia-Eintrag unsachgemäß als „rechtsextrem“ eingestuft wird[21], weil sie für die Entschädigung deutscher Kriegsopfer eintrat und den Verlust der deutschen Ostgebiete nicht hinnehmen wollte. August Haussleiter gründete 1965 die AUD (Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher), die sich für Umweltschutz einsetzte und eine Vorläuferpartei der „Grünen“ war. Dieser Partei, die sich 1980 in Karlsruhe gründete, wird im Haus der Geschichte ebenfalls ein Kapitel gewidmet.



Auch dem Künstler Joseph Beuys, der den „Grünen“ nahestand, begegnen wir in einem 1971 im Lichtdruckverfahren hergestellten Großfoto wieder, das er auf Italienisch untertitelte: „La Rivoluzione siamo Noi“ – Wir sind die Revolution. Das klingt ähnlich wie der andere berühmte Ausspruch, den er einmal machte: „Jeder Mensch ist ein Künstler“.



Natürlich wird auch die 68er „Revolution“ thematisiert, die ja in Wirklichkeit keine richtige Revolution war. Immerhin wirkt der damalige Aufstand der Jugend gegen die verstaubten Strukturen der knapp 20jährigen Bundesrepublik bis heute nach, allerdings nicht nur in positiver Weise, wie ich finde. Das Wort „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ wendet sich plakativ gegen das historische Bewusstsein, das der heutigen gymnasialen Jugend in ihrer Mehrheit vollkommen abhanden gekommen ist. Das ist leider auch ein „Erfolg“, den sich die Lehrer aus der 68er Generation auf die Fahnen schreiben dürfen und es ist mit Sicherheit der Grund dafür, dass Lena und ich die jüngsten Teilnehmer der Exkursion an die Orte deutscher Geschichte waren.



Wir bleiben nach dem Besuch der Dauerausstellung in Bonn, während die Gruppe zum Mittagessen nach Schwarzrheindorf, unserer nächsten Station, fährt.
Lena will die Stadt sehen und ein bisschen einkaufen.
So gehen wir zu Fuß die Konrad-Adenauer-Alle an den verschiedenen Bauten der alten Bundesrepublik wie dem dunklen Bundeskanzleramt, dem hellen Palais Schaumburg und der ebenfalls hellen Villa Hammerschmidt vorbei bis zum Koblenzer Tor, an das sich nach Westen die Universität anschließt. Wir folgen einer hässlichen Bauwand und gelangen schließlich auf den Münsterplatz mit seinem Beethovendenkmal.



Bei der Tourist-Information besorge ich mir einen Stadtplan und erkundige mich nach einem Bus in den Stadtteil Schwarzrheindorf, wo ich um 15.00 Uhr rechtzeitig zur angesetzten Führung wieder zu unserer Gruppe stoßen will.
In der Konditorei Fassbender kaufen wir Nougat und Kekse. Wir bewundern das alte Sterntor, ein Überbleibsel der ehemaligen Stadtbefestigung, werfen einen Blick in die Jesuitenkirche und setzen uns auf dem Marktplatz beim Cafe Müller-Langhardt an einen Tisch mit Blick auf einen Marktstand mit schlesischen Wurstspezialitäten, trinken einen Kaffee und essen Baiser-Torte. Lena, die immer auf der Suche nach örtlichen Mitbringseln ist, kauft einen „Baumkuchen“.



Am Rathaus begegnen wir einem jungen Pärchen, dem ich anbiete, es auf der Freitreppe zu fotografieren. So kommen wir ins Gespräch und ich erfahre, dass der junge Mann wie ich eine russische Freundin hat. Das Mädchen kommt aus Moskau. Da meine Zeit knapp ist, lasse ich Lena bei den beiden und fahre mit dem Bus nach Schwarzrheindorf, wo ich beinahe pünktlich zur Führung bei der Doppelkirche eintreffe.
Auch Schwarzrheindorf, ein heutiger Teilort Bonns auf der rechten Rheinseite nicht weit von der Mündung der Sieg in den Strom, war ursprünglich eine römische Siedlung. Hier habe im Jahre 11 vor Christus Drusus, der Stiefsohn des Kaisers Augustus, eine mehrgliedrige Brücke über den Rhein bauen lassen, die Bonna und Gesonia verbanden. Als rechtsrheinischer Brückenkopf des römischen Bonn hatte Gesonia große strategische Bedeutung. Die Ortsnamen Ober- und Niederkassel weisen auf zwei Kastelle hin, die der Siedlung „Flankenschutz“ gewährten.
Der romanische Kirchenbau, der wie die Aachener Pfalzkapelle auf dem Grundriss eines griechisch-byzantinischen Kreuzes erbaut wurde und neben der Unter- auch eine Oberkirche hat, war vermutlich zunächst die Pfalzkapelle der Burg, die auf der natürlichen Erhebung über der Rheinniederung stand. Es waren die Grafen von Wied, die hier neben Koblenz und Köln einen ihrer Sitze hatten.
Die zerstückelte Grafschaft war einst Teil der großen salischen und staufischen Pfalzgrafschaft (palatia major), die ihrerseits aus dem fränkischen Lotharingien hervorgegangen war.
Die Kirche ist eine Stiftung Arnolds von Wied (um 1098 – 1156), der sich für den geistlichen Beruf entschieden hatte. Er wurde bereits 1122 Probst am Limburger Dom und ist 1127 als Domprobst von Köln bezeugt. 1138 wurde er von König Konrad III. zum Reichskanzler berufen. Er begleitete seinen König auf dem zweiten Kreuzzug (1147 – 1149), für den Bernhard von Clairvaux nach der blutigen Eroberung von Edessa durch Zengi von Mossul auf Anregung von Papst Eugen III. gepredigt hatte, der jedoch nach der vergeblichen Belagerung von Damaskus mit einer Niederlage der Kreuzfahrer endete.
Zurückgekehrt übernahm Arnold das Amt des Kölner Erzbischofes von seinem von Papst Eugen III. abgesetzten Vorgänger. Am 9. März 1152 krönte Arnold in Aachen Friedrich I. Barbarossa zum König. Am 14. Mai 1156 starb der Erzbischof und Reichskanzler an den Folgen eines Sturzes, der ihm bei einem Osterwettlauf in Xanten widerfuhr.
Otto von Freising, der Hofhistoriker der Staufer, der am 24. April 1151 den Altar der oberen Kirche von Schwarzrheindorf geweiht hat, rühmt Arnold von Wied in seiner Chronik „Gesta Frederici“ als „ehrenwerten Mann“ und „Wiederhersteller seiner Kirche“ („vir honestus ecclesiae suae reparator“), wie auch auf seiner  1997 erneuerten Grabplatte in der Vierung der Kirche zu lesen ist.



Die Weihe der neuen, von Arnold gestifteten Kirche, bei der auch König Konrad III. und andere hohe Würdenträger anwesend waren, war ein „Staatsakt allerersten Ranges“.[22] Der obere Altar wurde „der allerseligsten Gottesmutter  und Jungfrau Maria sowie dem Evangelisten Johannes“ geweiht. Später kam als Kirchenpatron noch der Heilige Clemens dazu, dessen Namen wohl auch der spätere Erzbischof Clemens August übernahm.
Der Heilige Clemens, einer der ersten Bischöfe von Rom (um 50 – 101), der mir 2015 in der römischen Kirche San Clemente schon einmal begegnet war[23], ist wie Nikolaus ein beliebter Brückenheiliger, dessen Kirchen man gerne an Flüssen baute. Das mag daran liegen, dass er  der Legende nach auf der Halbinsel Krim an einem Anker im Schwarzen Meer ertränkt wurde. Die Slawenapostel Kyrill und Method sollen später seine Gebeine gefunden und nach Rom gebracht haben.

Schwäbisch Hall, der 21. August 2018 (Dienstag, 6.08 Uhr)

Nun ist es doch gut, dass ich diese Woche frei habe. So kann ich mich ganz auf meinen Reisebericht konzentrieren. Heute Nacht träumte ich von unserer Fahrt. Lena und ich hatten ja ziemlich weit hinten auf der Beifahrerseite gesessen. Im Traum saß ich ebenfalls dort, aber ich steuerte von meinem Platz aus auch noch den Bus. Das war ziemlich schwierig und so streifte ich mit dem Bus hin und wieder die Bäume am Straßenrand.
Die Kirche von Schwarzrheindorf mit ihrem außergewöhnlichen Bilderzyklus führt uns zurück ins 12. Jahrhundert, in das „Jahrhundert des Heiligen Bernhard“, wie Karl Königs betont:
„Kein anderer hat dieses 12. Jahrhundert so geprägt wie der heilige Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153), weshalb man es schon ‚das Jahrhundert des heiligen Bernhard‘ genannt hat. Bei seinem Tod zählte der Zisterzienserorden, der ihm sein ungeheures Wachstum verdankte, 843 Abteien. Im Auftrag des Papstes hatte er den zweiten Kreuzzug gepredigt, dessen Scheitern man ihm anlastete. Das ‚Gott will es‘, das Motto des Kreuzzuges war fragwürdig geworden. Bernhard ist sich selber als Chimäre vorgekommen, da er aus dem Kloster, wo er seine Mönche mit Predigten zum Hohen Lied begeistern konnte, immer wieder in die Welt hinausgerufen wurde. Dieser Mystiker und große Marienverehrer war ein wacher Kämpfer gegen eine den Glauben gefährdende Theologie (Abälard), wie er andererseits ein Verfechter der Meinungsfreiheit war, wahrlich eine Chimäre, aber auch ein Mensch jenes 12. Jahrhunderts, jener fernen Zeit, in der wir uns auch als Christen nur bedingt wiedererkennen können.“[24]
Auch an die „deutsche Prophetin“ Hildegard von Bingen (1098 – 1179), eine Zeitgenossin Bernards, erinnert Karl Königs:
„Sie konnte es wagen, Kaiser und Bischöfe mit zum Teil sehr drastischen Worten zur Umkehr zu mahnen. Erstaunlich ist ihre geistige Freiheit, da sie offenbar den Kreuzzügen kritisch gegenüberstand. ‚Baut daheim an Jerusalem‘, womit sie vor allem Reform der Kirche meinte.“ (ebenda)
Es wird vermutet, dass Arnold von Wied in seiner Schwarzrheindorfer Kirche eine Kopie der Grabeskirche von Jerusalem schaffen wollte, die er ja mit eigenen Augen gesehen hatte:
„Arnold hat nun seine Kapelle nicht zuletzt als seine Grabeskirche bauen lassen. Die Form des Zentralbaus (= Mausoleum) erinnert an die Grabeskirche in Jerusalem wie auch die Jerusalemthematik des Bilderzyklus.“ (ebenda, S 31)
Zunächst betrachten wir den romanischen Kirchenbau von außen. Was zuerst ins Auge fällt, ist die restaurierte Farbigkeit des Baus. So ähnlich muss man sich die mittelalterlichen Kirchen vorstellen, die weder innen noch außen den nackten Stein zeigten. Bei genauerer Betrachtung fällt die um den ganzen Bau herumführende Zwerggalerie[25] in mittlerer Höhe auf. Sie ist nicht nur Bauzier wie an vielen anderen romanischen Kirchen, sondern mit einem Gang und einer Brüstung versehen, so dass man sich auf ihr gefahrlos bewegen kann.



„Wie sie als imperiales Baumotiv den Rang des Stifters kundtut, so hat sie auch ihre Funktion: sie schafft auf geniale Weise  den Übergang von unten nach oben“, erläutert Königs (S 49).
Sie ist also das mittlere Motiv in der dreigliedrigen Wandgestaltung des Außenbaus: oben ist der Dachbereich, also gleichsam das Haupt der Kirche mit den Fenstern, die wie die Augen beim Menschen das Licht von außen nach innen lassen. Unten ist der Bauch, der die Gläubigen aufnimmt. In der Mitte ist entsprechend dem dreigliedrigen Aufbau des Menschenleibes der Brustbereich mit den rhythmisch gegliederten Rippen und den lebenswichtigen Rhythmen von Atem und Herzschlag.
Seelisch gesprochen ist dieser mittlere Bereich auch der Ort des Fühlens, so wie der Kopf das Denken beherbergt und die Glieder des Leibes dem Wollen dienen. Folgerichtig sind an den Kapitellen pflanzliche und tierische Motive zu erkennen.
Königs erläutert:
„Von unten ist schon die Vielfalt der Kapitelle der ‚berühmten Galeriesäulchen‘ (Jakob Burckhard, der 1843 die Kirche besuchte) erkennbar. (…) Wenn auch an der Nordseite, der Seite der Nacht, sich figürliche Kapitelle, die dem Bösen wehren, befinden, so fällt doch auf, dass selbst hier fast gar keine monströsen Darstellungen zu sehen sind, wie sie den Hl. Bernhard in Harnisch brachten. Ein Adlerkapitell findet sich (…) in der Wartburg, so dass man annehmen kann, dass dieselben Steinmetze von hier nach Eisenach wanderten.“ (ebenda, S 50)[26]



Das Adlermotiv ist mir auch in der Oberkapelle von Burg Neuenburg oberhalb von Freyburg an der Unstrut begegnet, der östlichen Grenzburg der Landgrafen von Thüringen. Offenbar sind bereits 100 Jahre vor dem Meister von Naumburg hervorragende Steinbildhauer bis an die Saale gelangt und haben dort einen ähnlich schönen Sakralraum für den Burgherrn geschaffen wie hier am Rhein.
Königs fährt fort:
„Ein Engelskapitell krönt eine Säule der Apsis. Sollte es bewusst auf den rheinischen Engelfelsen, den Siegburger Michelsberg, gesetzt worden sein? Schön ist die rhythmische Gliederung der Galerie, wo Pfeiler, Säulen und Doppelsäulen wechseln und vor allem die Vielfalt der Kapitellgestaltung, ein wahres Musterbuch der Steinmetzkunst.“ (ebenda S 50)
Wieder begegnet uns wie schon in Mönchengladbach der Erzengel Michael. Seine Heiligtümer sind meist auf hervorgehobenen Bergkuppen zu finden und datieren wie die Martins- und Peterskirchen weit zurück in die frühesten Zeiten der Christianisierung Europas. Oft finden sich Michaelskapellen wie in Mönchengladbach (Sankt Vitus), aber auch in Ellwangen (Sankt Vitus) oder in Schwäbisch Hall (Sankt Michael) an der Westseite der Kirchen, oft verbunden mit dem oder den Türmen. Vom Westen, dem Bereich des „Jüngsten Gerichts“, versucht das Böse die Christen zu bedrängen, während das Gute von Osten kommt. Michael wehrt die Dämonen (den Drachen) ab und versperrt ihnen den Weg ins Innere.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass es auf der östlichen Seite des Rheins einen Michaelsberg gibt, der nach Westen auf die Ebene des Niederrheins schaut und somit die ganze Region vor dem Bösen behütet. Im Süden schließt unmittelbar das sogenannte Siebengebirge an, welches vulkanischen Ursprungs ist. Einer der Berge heißt „Drachenfels“. Ein Stich aus dem 19. Jahrhundert rückt das Siebengebirge mit seinen Vulkankegeln im romantischen Überschwang unverhältnismäßig nah an die Kirche heran.



Wir betreten nun die Kirche durch den Südeingang und gelangen damit in das Langhaus, einen späteren Anbau an den als Zentralbau konzipierten Raum um die Vierung. Unser Blick fällt auf die ursprüngliche farbige Ausschmückung der drei Chorapsiden und der Westkonche, wie sie durch eine behutsame Freilegung aus dem Putz späterer Zeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zum Vorschein kam.
Karl Königs zitiert einen längeren Abschnitt aus dem Standartwerk über den Kirchenbau der Gotik von Otto von Simson (1912 – 1993), das mir vorliegt. Der bekannte Kunsthistoriker, der von 1959 – 1965 auch eine Gastprofessur in Bonn inne hatte[27], schreibt:
„Der Kirchenbau ist sinnbildlich und liturgisch ein Abbild des Himmels.[28] Mittelalterliche Theologen haben diesen Bezug unzählige Male betont. Die maßgeblichen Formeln des Weiherituals einer Kirche weisen ausdrücklich auf die Verwandtschaft zwischen der Vision der Himmelsstadt, wie sie in der Apokalypse geschildert wird, und dem Gebäude hin, das errichtet werden soll. Um diese symbolische Bedeutung des kirchlichen Gebäudes zu betonen, sind die Wohnstätten der Himmlischen in Darstellungen des Jüngsten Gerichtes an romanischen Portalen gelegentlich als Basiliken gebildet (Conques); und der Mönch, der seine Handschrift mit einem Bild des Himmels schmückte, ‚konnte keine passendere Formel hierfür finden als die Darstellung einer Kirchenapsis‘. Im romanischen Sakralbau wird diese symbolische Bedeutung gewöhnlich in der Apsis durch die monumentale Darstellung des thronenden Christus veranschaulicht, der von dem himmlischen Hofstaat umgeben ist, gelegentlich sogar durch Bilder der Himmelsstadt. (…) Solche Bilder deuten auf den geistigen Untergrund des ‚Antifunktionalismus‘ der romanischen und byzantinischen Kunst hin; das mystische Erlebnis, das solche Wandgemälde oder Mosaiken im Gläubigen wecken sollen, ist ganz und gar nicht von dieser Welt; die dargestellte himmlische Vision soll uns vergessen lassen, dass wir uns in einem Gebäude aus Stein und Mörtel befinden, da wir ja innerlich bereits das himmlische Heiligtum betreten haben.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Absicht findet sich in der Doppelkapelle von Schwarzrheindorf, der prachtvollen Grablege ihres Erbauers, des Kölner Erzbischofs Arnold von Wied (+ 1156). Während die Wandgemälde der Oberkirche vor allem Szenen aus der Apokalypse darstellen, finden sich in der Unterkirche solche aus der Vision des Ezechiel – in mancher Hinsicht das alttestamentarische Gegenstück zur Offenbarung Johannis – mit einem Abbild des Himmels in Gestalt eines Gebäudes, d.h. eines Tempels. Der Zyklus von Wandgemälden in der Unterkirche von Schwarzrheindorf ist einer der eindrucksvollsten des ganzen Mittelalters. Hier wird die gesamte Kirche zum Schauplatz der endzeitlichen Vision des Ezechiel. Die vier zentralen Wölbungsabschnitte um die achteckige Öffnung, die Unterkirche und Oberkirche verbindet, bringen in vier Szenen die Vision des neuen Tempels. Der östliche Gewölbeabschnitt zeigt ein kirchenähnliches Gebilde mit geöffneten Türen, durch die man Christus mit der im Segensgestus erhobenen Rechten erblickt. Dieses Bild stellt das Tor gegen Morgen dar, durch das der Herr sein Heiligtum betreten hat (Ezechiel 43f). Eine Inschrift, ‚porta Sanctuarii‘ oder ‚Sanctuarium‘ scheint die Darstellung erklärt zu haben. Nicht zufällig erscheint diese zwischen Vierung und Chor. Die Szene bezeichnete diesen Teil des Baus als mystisches Abbild des ewigen Tempels im himmlischen Jerusalem.“[29]
Die Frage, was eine Kirche in Wirklichkeit darstellt, behandelt auch der Theologe Karl Königs. Er führt aus:
„Die Bibel selbst stellt die Frage: ‚Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde?‘, denn sie weiß: ‚Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wieviel weniger dieses Haus…‘. Aber König Salomo, der dies bei der Tempelweihe bekannte, durfte doch bitten: ‚Halte deine Augen offen über diesem Haus bei Nacht und bei Tag, über der Stätte, von der du gesagt hast, dass dein Name hier wohnen soll‘ (1. Kön. 8,27f). Im alttestamentlichen Tempel ‚wohnte‘ Gott im Dunkeln, nur der Hohepriester, und auch der nur am Versöhnungstag, durfte das Allerheiligste betreten. Der Christ ist ‚Hausgenosse Gottes‘ (Eph. 2,19) und doch weiß er um das Mysterium dieses ‚Ortes, den Gott geschaffen hat‘, und der darum ein ‚unschätzbares Sakrament‘ ist: LOCUS ISTE A DEO FACTUS EST INAESTIMABILE SACRAMENTUM, wie es in der Kirchweihmesse heißt im Anschluss an Genesis 28,17: ‚Wie ehrfurchtsgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels‘.“ (a.a.O. S 54)
Wenn man bedenkt, dass sich solch ein Heiligtum, ja ich würde sogar sagen, solch ein Mysterienort so nah an der einstigen Hauptstadt der Bundesrepublik befand, dann kann man sich nur wundern, wie sehr die Politiker, die von hier aus das Volk führen sollten, immer mehr von den „guten Geistern“ verlassen wurden und heute nicht einmal mehr das Grundgesetz beherzigen, in dem sie 1949 noch in die Präambel den gewichtigen Satz schrieben: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“
Der Gottesbezug, der vermutlich bei dem Katholiken Konrad Adenauer und bei manchem anderen „christlichen“ Politiker jener Tage noch ernst genommen wurde, hat sich meinen Wahrnehmungen nach inzwischen in Luft aufgelöst. Vermutlich bringt unsere Regierung deshalb nichts mehr „auf die Reihe“…
Es würde zu weit führen, in diesem Reisebericht die einmaligen mittelalterlichen Bilder der Kirche im Einzelnen zu beschreiben. Sie folgen im Prinzip der Theologie des Rupert von Deutz (1075/80 – 1139/30), die manche großartigen Werke christlicher Kunst inspiriert hat, wie Königs feststellt (S 34). Der im Mittelalter hoch angesehene Theologe war in Lüttich der Lehrer von Arnold von Wied und seines Freundes Wibald von Stablo.
Königs  führt aus:
„Gewiss ist die Mehrzahl der Bilder dem Propheten Ezechiel entnommen, aber gemäß der Theologie des Rupert, dessen ‚Ezechielkommentar‘ sich im größeren Ganzen seines Werkes ‚DE TRINITATE ET OPERIBUS EIUS‘ findet, sind es auch hier die vier Mysterien Christi[30], auf denen der Akzent liegt. Rupert hat denn auch nicht einen Ezechielkommentar im heutigen Sinn, eine Exegese des ganzen Buches geschrieben. Er hat aus dem Propheten die Kapitel ausgewählt, die er auf die Mysterien Christi beziehen konnte, angefangen mit seinen wortreichen Ausführungen zur Gottesvision, zur Bedeutung der vier Wesen.“ (S 35).
Das Viergetier aus der Vision des Ezechiel, auch „Tetramorph“ genannt, bezieht sich deutlich auf das Wissen von der makrokosmischen, also himmlischen Dimension des Gottessohnes, das  der heutigen Menschheit verloren gegangen zu sein scheint. Bereits im ersten Kapitel seines Buches beschreibt Ezechiel seine Vision des kosmischen Christus, der sich ihm 600 Jahre, bevor er als Menschensohn in Bethlehem geboren wird, offenbart:
„Und ich sah, und siehe, es kam ein ungestümer Wind von Norden her, eine mächtige Wolke und loderndes Feuer, und Glanz war rings um sie her, und mitten im Feuer war es wie blinkendes Kupfer. Und mitten darin war etwas wie vier Gestalten; die waren anzusehen wie Menschen. Und jede von ihnen hatte vier Angesichter und vier Flügel. Und ihre Beine standen gerade, und ihre Füße waren wie Stierfüße und glänzten wie blinkendes, glattes Kupfer. Und sie hatten Menschenhände unter ihren Flügeln an ihren vier Seiten; die vier hatten Angesichter und Flügel: Ihre Flügel berührten einer den andern. Und wenn sie gingen, brauchten sie sich nicht umzuwenden; immer gingen sie in die Richtung eines ihrer Angesichter. Ihre Angesichter waren vorn gleich einem Menschen und zur rechten Seite gleich einem Löwen bei allen vieren  und zur linken Seite gleich einem Stier bei allen vieren und hinten gleich einem Adler bei allen vieren. Und ihre Flügel waren nach oben hin ausgebreitet; je zwei Flügel berührten einander, und mit zwei Flügeln bedeckten sie ihren Leib. Immer gingen sie in der Richtung eines ihrer Angesichter; wohin der Geist sie trieb, dahin gingen sie; sie brauchten sich im Gehen nicht umzuwenden. Und in der Mitte zwischen den Gestalten sah es aus, wie wenn feurige Kohlen brennen, und wie Fackeln, die zwischen den Gestalten hin- und herfuhren. Das Feuer leuchtete und aus dem Feuer kamen Blitze.[31]
Hier endet die Vision nicht. Sie geht noch über weitere dreizehn Verse und findet mit folgender Schilderung, die stark an die Vision des Johannes auf Patmos erinnert, ihren Höhepunkt:
„Und über der Feste, die über ihrem Haupt war, sah es aus, wie ein Saphir, einem Thron gleich, und auf dem Thron saß einer, der aussah wie ein Mensch.“
In der Oberkirche der Pfalzkapelle von Aachen steht ein steinerner Thron, den man heute noch bewundern kann. Hier durfte nur der gewählte König als Stellvertreter Christi auf Erden bei der Krönungszeremonie Platz nehmen. Wenn er nicht besetzt war, dann „saß“ Christus selbst darauf, wie es im Anschluss an die Vision des Ezechiel in der christlichen Kunst oftmals dargestellt wurde: die Majestas Domini.
Zu diesem Komplex möchte ich wieder die Überlegungen von Karl Königs, der sich als langjähriger Gemeindepfarrer intensiv mit dem Schwarzrheindorfer Kirchenbau und seiner Bedeutung auseinandergesetzt hat, zitieren:
„Wenn der Aachener Thron, wie es neuere dendrochronologische Untersuchungen erwiesen haben, der ‚Thron Karls‘ war, andererseits der Kaiser – wie es schriftlich bezeugt ist – ‚normalerweise‘ unten beim Klerus seinen Platz hatte, so war es vor allem der Thron Christi. In Ravenna ist auf einem Mosaik die ‚hetoimasia‘ dargestellt, der für den Herrn mit Purpurkissen bereitete Thron.“ (S 29)
Vielleicht stand auch in der Oberkirche von Schwarzrheindorf solch ein Thron.
Königs beschreibt sehr schön den ersten Eindruck, den der Besucher haben kann, wenn er von seinem Standpunkt bei der Grabplatte des Erzbischofs hinauf in der Apsiskonche der Oberkirche blickt:
„Gleichsam überirdisch erscheint dem, der sich die Zeit nimmt, unten am Grab des Stifters innezuhalten, das Bild des thronenden Herrn. Die achteckige Öffnung ist der gemäße Rahmen.(…) Vor dem strahlenden Blau des Himmels, eingefasst von der Mandorla, dem mandelförmigen Schein der Herrlichkeit, dessen Farben an den Regenbogen erinnern, thront der Herr auf einem prächtig hergerichteten Thron, das Haupt vor dem Kreuznimbus, die Füße auf einem  von goldenem Kronreif umschlossenen (…) Schemel.“



Zu Füßen Christi liegen Erzbischof Arnold und seine Schwester Hedwig als Stifter der Kirche und ihrer Ausschmückung.
Vor der Kirche bewundern wir nach der hervorragenden Kirchenführung den im Jahre 1989 zur 2000-Jahr-Feier von Bonn und Schwarzrheindorf geschaffenen Marienbrunnen, der die vier Tiere aus der Vision des Ezechiels, die in der Tradition der christlichen Kunst zu den oftmals dargestellten Evangelistensymbolen wurden, noch einmal zeigt, gleichzeitig aber die vier Paradiesesflüsse versinnbildlicht. Die Widmung bezieht sich wieder auf den Theologen Rupert von Deutz:
„Kennzeichnend für die Mariologie Ruperts sind der Begriff der geistlichen Mutterschaft (Maria und Johannes unter dem Kreuz in unserer Kirche!) und die Deutung der Braut des Hohen Liedes auf Maria. ‚Brunnen lebendigen Wassers‘ (Hld 4, 15) steht in der Deutung Ruperts (…) als Widmung auf dem Marienbrunnen: (…) ‚AQUARIUM igitur VIVENTIUM PUTEUS id est sanctarum scripturarum sacrarium SOROR MEA SPONSA tu es’ (Brunnen lebendigen Wassers, heiliger Schriften geweihtes Behältnis bist du, meine Schwester Braut)“ (ebenda, S 34)



Zum Schluss betrachte ich noch die Skulptur, die in einem Rundbogen in der Kirchenmauer steht. Sie zeigt eine Frau, die an eine Säule gebunden ist. Es ist – wie die Inschrift verrät – eine Darstellung Maria Magdalenas als Büßerin. Die mittelalterliche Skulptur wurde in der Rheinniederung an der Stelle des ehemaligen Richtplatzes gefunden und hierher gebracht.



Wir fahren mit dem Bus weiter nach Bad Godesberg. Da ich mich mit Lena beim Haus der Geschichte verabredet hatte, wohin wir laut Programm noch einmal zurückkehren wollten, um den „Weg der Demokratie“ abzuschreiten, muss ich mich nun beeilen, um sie dort abzuholen. Leider brauchen wir mit Bus und U-Bahn länger als gedacht und als wir gegen 18.10 Uhr bei dem Halteplatz unseres Reisebusses bei der Rheinfähre eintreffen, ist dieser schon – ohne uns – abgefahren. So kehren wir auf eigene Faust nach Brühl in unser Hotel zurück. Zum Glück können wir um 18.46 Uhr am Bad Godesberger Bahnhof in einen Regionalexpress der Deutschen Bahn einsteigen, der uns in knapp 20 Minuten nach Brühl an jenen Bahnhof bringt, der im 19. Jahrhundert extra für Queen Victoria gebaut wurde, damit sie das Schloss Augustusburg besuchen konnte.
Mit dem Stadtbus und zu Fuß erreichen wir schließlich gegen 19.30 Unser Hotel H+ an der Römerstraße. Zunächst kennt es niemand, den wir danach fragen. Als wir jedoch angeben, dass es direkt beim „Netto“ liegt, verstehen die Gefragten und versichern: „Ah, Sie meinen das Hotel „Ramada“. So hieß unser Hotel offenbar noch vor einem Jahr, bevor es den Besitzer wechselte.

Der letzte Tag unserer Reise bricht am Samstag, den 18. August an. Nach dem wie immer üppigen Frühstück im weitläufigen Speisesaal des Hotels packen wir unsere Koffer und fahren mit unserem Busfahrer auf der Autobahn A 61 südwärts. Unser Ziel ist die Benediktinerabtei Maria Laach am Laacher Maar.
Der See verdankt sein Entstehen einem Bodeneinbruch. Hier hat etwa 10000 vor Christus, als schon Menschen in der Gegend siedelten, ein gewaltiger Vulkanausbruch stattgefunden. Dabei entstand die Caldera, der Explosionstrichter von Laach, der sich anschließend mit Wasser füllte. Dieser Teil der Eifel, der auch „Vulkaneifel“ genannt wird und etwa 2000 Quadratkilometer von Wittlich bis an den Rhein umfasst, ist geprägt durch zahlreiche Maare und Vulkankegel, die wir beim Vorbeifahren bemerken. Auch heute gibt es noch Vulkanismus in diesem Gebiet. Unser Klosterführer, der Benediktinerbruder Jakobus, erzählt uns von gelegentlichen leichten Erdbeben und von den an bestimmten Stellen aus dem See austretenden Gasen.



Leider führt uns Bruder Jakob, einer von 27 verbliebenen Benediktinermönchen des Klosters, nicht in die Klosterkirche. Dafür sehen wir die umfangreiche Bibliothek, einige Wirtschaftsgebäude und den Friedhof mit der romanischen Nikolauskapelle. Am meisten beeindruckt mich die Bibliothek. Hier findet sich neben den Schriften Martin Luthers zum Beispiel auch eine Studienausgabe der Werke von Marx und Engels. Auch ein zweibändiges „Lexikon der Frau“ entdecke ich.



Die im Jahre 1093 von dem kinderlosen Pfalzgrafenpaar Heinrich II. aus dem Hause Luxemburg-Gleiberg und seiner Gemahlin Adelheid von Orlamünde gestiftete Abtei wurde bereits 1156 eingeweiht. Sie ist architektonisch erstaunlich einheitlich.



Die dreischiffige Basilika besitzt einen Ost- und einen Westchor, eine Ost- und eine Westvierung, über denen sich jeweils ein Vierungsturm erhebt, zwei runde Westtürme und zwei quadratische Osttürme. Im Westen schließt sich an die Apsis ein „Paradies“ an, ein lichtes Geviert mit schönen Arkaden und einem Löwenbrunnen (19. Jahrhundert). Baumaterial ist abwechselnd schwarzer Basalt, grauer und weißer Tuffstein und roter Sandstein. Der westliche Vierungsturm ist an drei Seiten von einer Zwerggalerie umgeben.



Als wir ankommen, fällt uns sofort die reiche Beflaggung auf. Wir erfahren, dass wir gerade in der Festwoche der Abtei gekommen sind, die vom 15. August (Mariä Himmelfahrt) bis zum 24. August (Sankt Bartholomäus) dauert. Auch eine Hochzeit wird hier gefeiert, so dass wir erst nach der offiziellen Führung in die Kirche können. Die Mönche haben früher, so erfahren wir, auch Kirchenführungen gemacht, aber sie haben vor ein paar Jahren beschlossen, es nicht mehr zu tun, um wieder Ruhe in den Sakralraum zu bringen. An der Fülle der Autos auf dem riesigen Parkplatz sehen wir, dass Maria Laach und der See ein beliebtes Ausflugsziel sind.
Geweiht wurde die Kirche der Gottesmutter Maria und dem Heiligen Nikolaus. Von dem Halbrund über der Apsis leuchtet ein Mosaik dem Eintretenden entgegen. Es zeigt den segnenden Christus mit dem Buch des Lebens, umgeben von den zwölf Tierkreiszeichen. Geschaffen wurde das Christusbild im byzantinisch-normannischen Stil  zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Beuroner Kunstschule.
Im Ostchor steht ein auf sechs Säulen ruhender gotischer Altarbaldachin, im Westchor das farbig gefasste Grabmal des Stifters.



Leider ist die Krypta nicht zugänglich. Sie konnte noch zu Lebzeiten des bereits zwei Jahre nach der Gründung verstorbenen Pfalzgrafen Heinrich II. weitgehend fertig gestellt werden, gehört also zu den ältesten Teilen des Baus.
In der westlichen Apsis gibt es ein modernes Glasfenster von W. Rupprecht, das Konrad Adenauer 1956 gestiftet hat. Es zeigt Johannes den Täufer, der seine Jünger zu Christus, dem Lamm Gottes führt.
Unser letzter Halt ist bei dem oberhalb der Stadt Rhens am Rhein in freier Natur stehenden, steinernen Königsstuhl. Bei der Stadt „Rhense am Rhein“ grenzten vier Kurfürstentümer aneinander: die drei Erzbistümer Trier, Mainz und Köln und das Territorium des Pfalzgrafen bei Rhein. Hier trafen sich die Kurfürsten vor der Königswahl, bevor Frankfurt schließlich zum bevorzugten Wahlort wurde. Zur Krönung zogen sie dann mit großem Gefolge weiter nach Aachen.



Es war Kaiser Karl IV., der „letzte Eingeweihte auf dem Kaiserthron“[32], der in der „Goldenen Bulle“ von 1356 die Formalitäten der Königswahl im Reich und die Anzahl der Kurfürsten festsetzte. Die sieben Kurfürsten, darunter die schon genannten drei geistlichen und außer dem Pfalzgraf noch drei weitere weltliche, sind, so erfahren wir, im Grunde Vorläufer eines föderalen Staates, wie er im Gegensatz zum Zentralstaat in Frankreich oder in England bis heute in der Bundesrepublik Deutschland besteht.
Leider musste der ursprünglich in der Stadt stehende Königsstuhl an seinen heutigen Platz umziehen, weil ein Unternehmer seine Sprudelfabrik erweitern wollte. Das kann man als Symbol für die moderne Zeit ansehen, wo nicht mehr die Politik bestimmend ist, sondern die Wirtschaft.



Nach einem leckeren Mittagessen in Spay am Rhein fahren wir durch das romantische Mittelrheintal an all den Burgen mitsamt der Lorelei vorbei bis Bingen, wo wir wieder auf die Autobahn gelangen. Gegen 20.30 Uhr kommen wir in Ellwangen an, nicht ohne zuvor den Organisatoren der Reise und dem Busfahrer unseren Dank ausgesprochen zu haben.




[1] Ekkehard Meffert (1940 – 2010), ein Professor für Kulturgeografie an den Universitäten Bonn und Köln, hat viel über die Zisterzienser geforscht. 2010 erschien sein Werk „Die Zisterzienser und Bernhard von Clairvaux – Ihre spirituellen Impulse und die Verchristlichung der Erde Europas“, 2012 (posthum) „Klöster der Zisterzienser – Ein Reisebegleiter“, beide Verlag Urachhaus, Stuttgart. Dort heißt es: „An Himmerod fasziniert die klassische, einsame, hochmittelalterliche Rodungslage in einem spät erschlossenen deutschen Mittelgebirge. Deutlich zu erkennen ist die Tallage an der Salm, die die Mönche zu zahlreichen Fischteichen aufgestaut haben, während die leichten Hanglagen noch einen klosternahen Ackerbau ermöglichen. Es handelt sich somit um den idealtypischen Standort eines Zisterzienserklosters, an dem sich das Prinzip der Weltabgeschiedenheit und der Wunsch nach Autarkie (Wasser und Ackerland) vortrefflich studieren lassen“ (S 87).
Auch der Ellwanger Archivar Professor Immo Eberl hat eine Monografie über die Zisterzienser geschrieben: „Die Zisterzienser. Geschichte eines europäischen Ordens“, Thorbecke-Verlag, Stuttgart 2002. Meffert nennt den Band von 614 Seiten eine „grundlegende Darstellung zur Ordensgeschichte“.
[2] Er entwarf auch die Ordensregel für die Templer, einen 1120 in Jerusalem gegründeten Ritterorden, in den auch Verwandte von Bernhard eintraten und der später zum mächtigsten Ritterorden Frankreichs, ja Europas wurde, so mächtig, dass ihn der französische König Philipp der Schöne verfolgen und vernichten ließ.
[3] Theodor Schnitzler, Die Heiligen im Jahr des Herrn – Ihre Feste und Gedenktage, Herder, Freiburg, Wien, Basel, 1978, S 285f
[4] Zitiert nach dem Kirchenführer von Edmund Erlemann, Hans Bange und Barbara Maiburg aus dem B.Kühlenverlag, Mönchen Gladbach 2006, S 14
[5] Ich würde sagen: Helena konnte das wahre Kreuz aus ihrer Hellsichtigkeit heraus erkennen. Denn zu jener Zeit hatten die Menschen noch diese übersinnliche Fähigkeit, hinter der materiellen Hülle die geistige Substanz wahrzunehmen. Nur so kann man überhaupt die Reliquienverehrung verstehen. Es geht nicht um den materiellen Knochen oder Stoff, sondern um das, was in ihm als Geist seines einstmaligen heiligen Trägers noch lebt. Natürlich verflüchtigt sich dieses „Leben“, genau wie die alte Hellsichtigkeit, allmählich im Lauf der fortschreitenden Geschichte, so dass es zur Zeit der Reformation nur noch sehr wenige Menschen gab, die in den Reliquien etwas Geistiges wahrnehmen konnten. Deshalb verloren sie auch ihre „Wirkmächtigkeit“, die im Mittelalter vielfach bezeugt ist. Zur Zeit der Französischen Revolution und der Aufklärung wurden viele dieser Reliquien als abergläubische Überbleibsel des „finsteren Mittelalters“, das man überwunden glaubte, zerstört.
[6] Diese Legende deutet auf eine Gralsströmung hin, die nach Spanien weist, wo schon Richard Wagner die Gralsburg Monsalvat vermutete. Eine andere Gralslegende lässt Joseph von Arimathia mit der Abendmahlsschale, in der er auch das Blut Christi unterm Kreuz aufgefangen haben soll, nach Glastonbury in Südengland bringen. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass das Tuch, das auf dem Abendmahlstisch gelegen hatte, in Mönchengladbach verehrt wird. Gladbach lag bei seiner Gründung nicht auf dem Gebiet des Erzbistums Köln, sonder auf dem Territorium des Bischofs von Lüttich. In Lüttich wirkte im 13. Jahrhundert die Nonne und Mystikerin Juliana. Seit 1209 sah sie immer wieder in ihren Visionen eine unvollständige Mondscheibe und deutete dies folgendermaßen: im Kirchenjahr würde ein Fest fehlen, das der Verehrung des Altarsakraments gewidmet ist. Auf die Anregung Julianas setzte Papst Urban IV. 1264 das Fronleichnamsfest, das in Lüttich schon seit 1246 gefeiert wurde, verbindlich für die ganze Kirche fest. Thomas von Aquin, der dieses Fest begrüßte, schrieb daraufhin mehrere Hymnen auf das Altarsakrament.
[7] Osnabrück, Paderborn, Hildesheim, Münster und Kurköln.
[8] Schlossführer  „Schloss Augustusburg in Brühl“, Deutscher Kunstverlag Berlin München, zweite durchgesehene Auflage 2015, S 32
[9] Geschaffen hat das Fresko, das die flache Decke des Treppensaals wie eine Kuppel erscheinen lässt, Carlo Carlone (1668 – 1775). Der lombardische Künstler hat unter anderem auch in Ansbach, Ludwigsburg, Weingarten und Ellwangen gearbeitet, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. https://de.wikipedia.org/wiki/Carlo_Carlone
[10] A.a.O. S 36ff
[11] Sein Werk „De Universitate Mundi“ gewährt Einblick in die Welt realer, schöpferischer Wesen
[12] Im ersten Buch des „Anticlaudian“ beruft „Natura“ die Tugenden zu einem himmlischen Konzil, um einen neuen, göttlichen Menschen zu erschaffen.
[13] Barbara Stolberg Rilinger „Des Kaisers alte Kleider – Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches“, C.H. Beck, München, 2009, S 32.
[14] A.a.O. S 104f (Text von Christiane Winkler)
[15] Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, Verlag C.H. Beck, München 1994.  Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Rheinprovinz
[16] Am 22. August 1818 gewährte der Großherzog Karl von Baden seinen Bürgern eine neue Verfassung, die als die modernste der damaligen Zeit galt. Sie enthielt schon ein Wahlrecht und die Bürgerrechte. In diesen Tagen feiern wir das 200. Jubiläum.
[21] Siehe dagegen Richard Stöss, Vom Nationalismus zum Umweltschutz, Westdeutscher Verlag, Opladen 1980.
[22] Ich beziehe mich bei all meinen Angaben auf den Kirchenführer von Pfarrer Karl Königs aus dem Jahr 2001 (Neuauflage: 2014)
[24] Karl Königs, a.a.O. S 20
[25] Königs erläutert: „Der Name rührt von einem alten Wort für ‚quer‘, wie es sich noch in ‚Zwerchfell‘ erhalten hat, her“ (a.a.O. S 49)
[26] Auch im Ostchor der Oberkirche der Schwarzrheindorfer Kirche begegnet mir das Motiv des Adlers an einem Kapitell wieder.

[28] Otto von Simson zitiert in einer Fußnote: „Der Abschnitt Offenbarung 21, 2 – 5 wird während der Einweihungsfeierlichkeiten verlesen.“
[29] Otto von Simson, Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1968 (deutsche, überarbeitete Ausgabe), S 21f.
[30] Es gibt nach dem Kirchenvater Irenäus von Lyon (um 135 – ca. 200) diese vier Mysterien Christi: „…Denn das erste Lebende, heißt es, ist ähnlich dem Löwen, das Kraftvolle, Fürstliche und Königliche in ihm bezeichnend, das zweite ähnlich einem Stiere, seinen Opfer- und Priesterberuf dartuend, das dritte mit dem Angesicht eines Menschen, seine Ankunft als Mensch beschreibend, das vierte, aber ähnlich einem fliegenden Adler, die Gnade des auf die Kirche niederfliegenden Geistes anzeigend.“ Zitiert nach Königs, a.a.O. S 34
[31] Die vier „Tiere“ kann man auch stellvertretend als ein Abbild des zwölfteiligen Tierkreises deuten, wobei sich Löwe und Wassermann („Mensch“), Stier und Skorpion (der zur Erde gefallenen Adler) kreuzförmig gegenüberstehen.
[32] Rudolf Steiner