Freitag, 12. Juli 2019

"Wer ist die heilige Katharina?" eine Führung durch die Haller Katharinenkirche


Schwäbisch Hall, der 11. Juli 2019 (Donnerstag, 6.57 Uhr)


Bei der Vorbereitung für meine Führung durch die Haller Katharinenkirche hatte ich im Hintergrund immer schon die alexandrinische Philosophin Hypatia (380 – 415) im Auge, um derentwillen ich eigentlich die Führung machen möchte. Nun las ich gestern auf dem Wikipedia-Eintrag, dass es eine Heilige Katharina von Alexandria wahrscheinlich gar nicht gab, sondern dass diese Heilige „erfunden“ wurde, um sozusagen das Unrecht, das Christen der orphischen Philosophin im März  415 angetan hatten, indem sie sie töteten und zerstückelten, zu verdecken. Hypatia wurde, so lese ich auf dem Eintrag in Wikipedia, ähnlich zerstückelt wie Katharina, die man auf ein Rad gebunden haben soll.
Dann fiel mir das Buch „Das Rätsel des Urvorstandes“ (Verlag am Goetheanum, 2007) von Erdmuth Grosse wieder ein und ich las in dem Kapitel 12 über „Marie Steiners Inkarnationen“ von jenem Vortrag, den Rudolf Steiner am 27. Dezember (Marie Steiners späteren Todestag) 1910 in Stuttgart über „Okkulte Geschichte“ gehalten hat, in dem er zum ersten Mal vor den Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft ausführlich über Inkarnationsreihen und insbesondere über Hypatia sprach.
Auch Peter Selg hat am 14. März 2017 im Goetheanum anlässlich ihres 150. Geburtstages einen sehr schönen Vortrag über Marie Steiner gehalten, der heute unter dem Titel „Wir müssen vorwärts – Rudolf Steiner und Marie von Sivers“ (Verlag des Ita Wegman Instituts, 2017) gedruckt vorliegt.
In Okkulte Geschichte führte Rudolf Steiner aus:
„Es gehörte in einer gewissen Weise zum Höchsten, was man an Einweihungsgeheimnissen hat erleben können, wenn dasjenige, was ich eben angedeutet habe, menschliches Erlebnis geworden war. Und viele Schüler der orphischen Mysterien haben solche Erlebnisse durchgemacht, haben auf diese Weise ihre Zerstückelung in der Welt erlebt und haben damit das Höchste durchgemacht, was in vorchristlichen Zeiten als eine Art Vorbereitung für das Christentum hat erlebt werden können.“
Dadurch steht mir die andere bedeutende Frau, die Rudolf Steiner bei seiner Menschheitsaufgabe so aufopferungsvoll begleitete, wieder deutlich vor Augen: die in Sankt Petersburg aufgewachsene Marie von Sivers. Katharina ist nur eine Metapher für diese Individualität. Aber davon weiß hier noch niemand.
Interessant ist, dass die Katharinenkirche der Michaelskirche genau gegenübersteht, nur auf der anderen Seite des Flusses Kocher.

Bei meiner Vorbereitung auf meine morgige Führung bin ich unversehens – auf der Suche nach den mittelalterlichen Tugenden – beim Südportal der Kathedrale von Chartres gelandet, das Roland Halfen im zweiten Band seiner Chartres-Tetralogie so wunderbar beschreibt. Ich habe jetzt die ersten 25 Seiten (von S 313 – S 347) gelesen und viel über das mittlere Portal und die zwölf Apostel erfahren, die ja auch in der Katharinenkirche dargestellt sind, nämlich auf dem dreizehnseitigen Taufstein aus dem Jahre 1470. Es gäbe noch so viel zu lesen und zu lernen, aber ich schaffe es gar nicht mehr. Es kann nur eine erste Annäherung sein.
Was mich aber noch mehr beschäftigt, das ist die Individualität von Marie Steiner, die für mich hinter der Heiligen Katharina aufzuleuchten scheint, wie ich bereits heute Morgen erwähnt habe. Wenn ich bei Peter Selg lese, wie lieb sie sich um den immerzu aktiven Rudolf Steiner gekümmert hat, dann bin ich ganz gerührt. Auch das Motiv des „Bohemiens“ taucht in seinen Schilderungen wieder auf. Da heißt es auf den Seiten 21 bis 23:
„Nicht ganz ohne Schwierigkeiten versuchte Marie von Sivers, Rudolf Steiners Leben zu ordnen, das vor der Jahrhundertwende ausgesprochen unruhig, ja streckenweise chaotisch verlaufen war; sein Lebensstil erschien – vorsichtig formuliert – unkonventionell (…) Er war nie ein leichtfertiger ‚Bohemien‘ gewesen, wie mitunter vermutet und behauptet wurde, sondern ein ‚Gast‘ seines Zeitalters, wie Christian Morgenstern einmal betonte, ein Gast, der aus ‚Raumesweiten‘ und ‚Zeitenfernen‘ mit einer besonderen Aufgabe gekommen war, wie Marie von Sivers früh erkannte. Aber eben auch ein Mensch, der leben musste (…) Meistens war er und nicht sie auf Reisen und sandte Berichte und Nachrichten, inhaltlicher wie atmosphärischer Art. Sie brachte ihn oft zum Anhalter Bahnhof und sah, wie er in die übervollen Züge stieg, ein spiritueller Geisteswissenschaftler und hochsensibler Mensch, der ihrer Auffassung nach eine andere Art des Reisens verdient hatte …“

Schwäbisch Hall, der 12. Juli 2019 (Freitag, 5.52 Uhr)
Vor sechs Jahren habe ich das Buch „Der Fall Hypatia – Eine Verfolgung“  (Europäische Verlagsanstalt, Hamburg, 2002) von Peter O. Chotjewitz gefunden und gekauft. Auf dem Titel ist eine hellenistische Statue abgebildet, die mich in gewisser Weise an die Nike von Samothrake erinnert, aber sie hat keine Flügel. Es ist „Hygieia“.
Über neuere Romane und Erzählungen arbeitet sich Chotjewitz vor zu den spärlichen zeitgenössischen Quellen, die über die alexandrinische Philosophin erhalten sind. Schon zu Lebzeiten Hypatias dichtete Palladas von Alexandria ein Epigramm, das so lautet:

„An die Philosophin Hypatia
Bewundernd blick ich auf zu dir und deinem Wort,
Wie zu der Jungfrau Sternbild, das am Himmel prangt.
Denn all‘ dein Thun und Denken strebet himmelwärts,
Hypatia, du Edle, süßer Rede Born,
Gelehrter Bildung unbefleckter Stern.“

Mehrere Motive vereinigt der Dichter hier: Der Bezug zu den Sternen und insbesondere zum Sternbild der Jungfrau, aber auch zu der Jungfrau Maria, deren „unbefleckte“ Empfängnis die katholische Kirche am 8. Dezember feiert.
Das Epigramm erinnert mich an einen Meditationsspruch, den Rudolf Steiner seiner Frau, die er immer wieder in seinen Briefen als „Mein Liebling“ oder „mein Liebes“ bezeichnet,  gab:

„In Sternenweiten
Zu Götterorten
Wendet den Geistesblick
Meine Seele.

Aus Sternenweiten
Von Götterorten
Strömet die Geisteskraft
In meine Seele

Für Sternenweiten
Nach Götterorten
Lebt m e i n Geistesherz
Durch meine Seele“

 Im November 1903 schrieb Rudolf Steiner an Marie von Sivers aus Weimar:
„Heute habe ich Deine lieben Zeilen erhalten. Sie sind ganz Du. Doch sollst Du nicht glauben, dass ich den Zug in Dir, der uns zusammengeführt hat, auch nur im geringsten unterschätze. Für uns ist ja das gemeinsame Ziel eine der Meister-Kräfte, denen gegenüber wir beide ‚lenksam‘ sein müssen in treuer, fester Waffenbrüderschaft.“ (Peter Selg, S 15)
Im April 1904 hat  Rudolf Steiner in einem Brief  folgende Formulierungen gewählt:
„Ich denke in Liebe an dich, und alle Arten des Nahekommens sind bei uns nur Bestätigung unseres tiefen geistigen Zusammenhangs. Du bist mir die Priesterin, als die Du mir entgegenblicktest, als ich Deine Individualität erkannt hatte. Ich schätze Dich in der Reinheit Deiner Seele, und nur deshalb darf ich Dir zugetan sein.“
Noch wenige Tage vor seinem Tod, am 20. März 1925 schrieb er ihr:
„Ich schaue mit Bewunderung  allem zu, was Du in solcher Hingabe vollbringst (…) Wie dankbar bin ich Dir.“
Damit meinte er ihr künstlerisches Wirken für die Sprache und die Eurythmie in der Stuttgarter Waldorfschule. Am 23. März, sieben Tage vor seinem Tod, schrieb er in einem Brief an sie nach Stuttgart:
„Ich kann Dir wirklich nicht ausdrücken, wie ich Deine hingebungsvolle Tätigkeit bewundere, und wie dankbar ich Dir für alles bin, was Du so segensreich vollbringst.“

Wieder einmal fühle ich mich, wie vom Blitz getroffen. Die Idee, dass Katharina und Hypatia identisch sein könnten, hatte ich schon, als ich vor ein paar Monaten Frau Kristalli die Führung durch die Katharinenkirche unter dem Titel „Wer ist die Heilige Katharina?“ vorschlug.
Vor ein paar Tagen erfuhr ich die Bestätigung meiner Vermutung auf der Wikipedia-Seite, wie erwähnt. Nun lese ich bei Peter O. Chotjewitz im Kapitel „Die doppelte Hypatia“, dass auch er schon 2002 diese Parallelität entdeckt hatte. Ich bin berührt. Aber mehr noch berührt mich – und das war der Blitzschlag, von dem ich eben sprach – folgende Passage:
„Es gab eine Heidin namens Hypatia. Um das Jahr 1000 erkannten irgendwelche Christen, dass es ein Fehler war, sie zu ermorden, und dass sie noch gebraucht wurde, ihrer bedeutenden Schriften wegen. Man machte sie also zur Christin, gab ihr einen christlichen Namen (Katharina = die Reine) und verlegte ihre Geburt etwas vor, um ihre Ermordung den Heiden in die Schuhe zu schieben.“ (S 83).
Der Blitz traf mich, als ich die Klammer las. Ich wusste, dass meine erste Freundin immer ein wenig stolz auf ihren Namen war. Sie sagte mir dann: das bedeutet „die Reine“. Nun schaute ich sofort im Duden-Lexikon der Vornamen nach und erfuhr, was ich bisher überhaupt nicht geahnt hatte: „Karin ist die Kurzform von Katharina“. Ich war baff.
(...)
Nur wenige Menschen verstanden Rudolf Steiners wahre Mission innerhalb der theosophischen Logen wirklich.
Am 4. Dezember 1906 (Barbara-Tag) schreibt er aus Bonn an Marie Steiner:
„Wenn wir die Logentreiberei als etwas anderes betrachten, denn ein notwendiges Übel, so treiben wir in einen philiströsen Sumpf hinein. Das einzige, auf das es ankommt, ist, dass den Leuten geistiges Leben zugeführt wird. Was sie gegenseitig in den Logen schwatzen, ist nicht zu vermeiden, aber zu gar nichts nütze.
Aus München schreibt er am 9. Januar 1905:
„In den Köpfen der sogenannten Theosophen wird sich noch einmal aller Materialismus unseres Zeitalters am krassesten spiegeln. Weil die theosophische Gesinnung selbst eine so hohe ist, werden diejenigen, die nicht ganz von ihr ergriffen werden, gerade die schlimmsten Materialisten werden. An den Theosophen werden wir wohl noch viel Böseres zu erleben  haben als an denen, die nicht von der theosophischen Lehre berührt worden sind. Die theosophischen Lehren als Dogmatik, nicht als Leben aufgenommen, kann gerade in materialistische Abgründe führen. Wir müssen das nur verstehen. Sieh Dir einmal Keightley an. Der ist auf dem besten Weg, eines der schlimmsten Opfer der Theosophie zu werden. Ohne Theosophie wäre er ein schlichter, unbegabter, aber wahrscheinlich braver Gelehrter geworden. Durch die Theosophie wird er ein hochmütiger, neidischer, nörgelnder Streber. Das sind Erwägungen, denen der Okkultist immer wieder nachhängen muss, wenn er daran denken soll, die hohe Weisheit der heiligen Meister in das Publikum zu streuen. Das ist seine große Verantwortlichkeit. Das ist es, was uns die Brüder immer wieder entgegenhalten, die im Okkultismus konservativ bleiben und die Methode des Geheimhaltens auch ferner pflegen wollen. – Und kein Tag vergeht, an dem die Meister nicht die Mahnung deutlich ertönen lassen: ‚Seid vorsichtig, bedenkt die Unreife eures Zeitalters. Ihr habt Kinder vor euch, und es ist euer Schicksal, dass ihr Kindern die hohen Geheimlehren mitteilen müsst. Seid gewärtig, dass ihr durch eure Worte Bösewichter erzieht.‘ Ich kann Dir nur sagen, wenn der Meister mich nicht zu überzeugen gewusst hätte, dass trotz alledem die Theosophie unserem Zeitalter notwendig ist: Ich hätte auch nach 1901 nur philosophische Bücher geschrieben und literarisch und philosophisch gesprochen.“
Rudolf Steiner konnte auch – allerdings nur Marie Steiner gegenüber – sehr direkt sein: So schrieb er ihr in einem Brief aus Bremen im November 1906 über den führenden deutschen Theosophen Wilhelm Hübbe-Schleiden:
„Hübbes ganzes Auftreten ist der Ausfluss eines schwachen Kopfes und einer starken Eitelkeit. Daher redet er auch stets von seiner Bedeutung und von seiner Bescheidenheit. (…) Hübbes Reden wirken doch wie sinnlose Wortzusammenstellungen; das tiefste Mitleid ist das einzige Gefühl, das man haben kann.“
Bei diesen Worten musste ich unmittelbar an Karl Langenstein denken, der im Jahre 1987 im Pforzheimer Raum eine Loge begründete, die er als Verwirklichung der „Stiftung für theosophische Art und Kunst“, die 1911 nicht zustande kam, ansah. Der unmittelbare Leiter dieser Loge sollte Christian Rosenkreutz sein.
Solche Menschen innerhalb der Theosophie und später innerhalb der Anthroposophie bedeuteten für Rudolf Steiner eine wahre „Zerreißprobe“. Marie Steiner spürte das. Einmal sprach sie es gegenüber ihrer Sekretärin Johanna Mücke aus:
„Mit dem Doktor kann ich überhaupt kaum mehr ein Wort sprechen, er wird buchstäblich zerrissen.“
Hier erlebe ich die gleiche Stimmung wie am Anfang des fünften Jahrhunderts, als die aufgebrachte Menge unter dem Erzbischof Kyrill von Alexandria die Philosophin Hypathia ergriffen hat, durch die Stadt schleifte, zerstückelte und ihre Überreste schließlich verbrannte. An genau dieser Stelle steht heute eine Moschee, die aus einer ehemaligen christlichen Kirche hervorgegangen ist. Sie war der Heiligen Katharina von Alexandria geweiht.
Das Tragische ist, dass sowohl die Philosophin, als auch ihre Verfolger in die Geheimlehre der Neuplatoniker eingeweiht waren, die damals in Alexandria Mode war.

Schwäbisch Hall, der 13. Juli 2019 (Samstag, 5.41 Uhr)
Nun ist es vollbracht.
Zu meiner Führung sind 14 Menschen gekommen: 12 Mitglieder der Haller Gemeinde der Christengemeinschaft und Frau Kristalli, unsere Priesterin. Eine besondere Ehre aber war es für mich, dass auch Frau Colette Deutsch gekommen ist, die Witwe des Haller Kunsthistorikers Dr. Wolfgang Deutsch.
Die Führung ist mir gut gelungen, was ich an den positiven Reaktionen meines Publikums ablesen konnte. Nach 75 Minuten war ich fertig. Danach kam es noch zu einem schönen Gespräch in der Kirche. Dabei konnte ich auf Nachfrage sogar auf die innere Beziehung der alexandrinischen Philosophin Hypatia zu Marie Steiner eingehen, was ich bei meinem Vortrag nicht getan habe.




Besonderes Interesse erlebte ich bei der Betrachtung des Südostfensters, in dem Glasfenster aus dem Jahre 1360 den kunstgeschichtlich-ästhetischen Höhepunkt der Führung ausmachten. Ich hatte diese bewusst an den Schluss meiner Führung gestellt. Dort sind sechs der mittelalterlichen Tugenden dargestellt, die über die entsprechenden Laster siegen. Schriftbänder erläutern sowohl die Tugenden, als auch die Laster. Mittelalterliche Philosophie war in erster Linie Moralphilosophie. Die Platoniker der Schule von Chartres versuchten die Übereinstimmung der „vita activa“ und der „vita contemplativa“ zu leben, ähnlich wie die Mönche des Benediktinerordens, deren „Ora et labora“ das gleiche Ziel hatte. Ich nannte die einzelnen Tugenden und ihre Gegenbilder. Die Wurzel oder Basis des mittelalterlichen Tugendkataloges bildet die Humilitas (Demut), die über die Superbia (Hochmut) siegt. Die Pietas (Frömmigkeit) siegt über den Geiz (Avaritia), die Humanitas (Güte) über den Neid (Invidia), Die Mäßigung (Temperantia) über die Gula (Völlerei) und die Keuschheit (Castitas) über die Luxuria (Wollust).
Bei dieser Gelegenheit trage ich auch die zwölf Monatstugenden vor, die Rudolf Steiner zur Meditation empfahl: Im April (Widder): Devotion (Ehrfurcht) wird zur Opferkraft, im Mai (Stier): (inneres) Gleichgewicht wird zu Fortschritt, im Juni (Zwillinge): Ausdauer wird zu Treue; im Juli (Krebs): Selbstlosigkeit wird zu Katharsis (Reinigung); im August (Löwe): Mitleid wird zu Freiheit; im September (Jungfrau): Höflichkeit wird zu Herzenstakt; im Oktober (Waage): Zufriedenheit wird zu Gelassenheit; im November (Skorpion) Geduld wird zu Einsicht; im Dezember (Schütze): Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden; im Januar (Steinbock): Mut wird zur Erlöserkraft; im Februar (Wassermann): Diskretion wird zu Meditationskraft und im März (Fische): Großmut wird zu Liebe.
Auffällig ist, dass hier nicht Laster bekämpft werden, sondern Tugenden verwandelt werden zu höheren Seelenfähigkeiten.
Eigentlich gab es im Mittelalter sieben als weibliche Allegorien dargestellte Tugenden und sieben Laster[2], wobei wir wieder bei der Zahl vierzehn sind, mit der ich meine Führung begonnen hatte, denn die heilige Katharina gehört zusammen mit den zwei anderen „madln“ Margareta und Barbara[3] als weibliche zusammen mit den elf männlichen Heiligen zu den 14  Nothelfern, die von den Menschen in allerlei Lebensnöten angerufen wurden:  der heilige Georg bei Seuchen der Haustiere, der heilige Blasius bei Halsleiden, der heilige Erasmus bei Leibschmerzen, der heilige Vitus gegen Fallsucht (Epilepsie), der heilige Christopherus gegen einen unerwarteten Tod, der heilige Dionysius gegen Kopfschmerzen, der heilige Cyriakus gegen Anfechtungen in der Todesstunde, der heilige Achatius gegen Todesängste und Zweifel, der heilige Eustachius in allen schwierigen Lebenslagen, der heilige Ägidius vor der Ablegung der Beichte; Sankt Pantaleon ist der Patron der Ärzte, Sankt Margaretha die Patronin der Gebärenden und Sankt Barbara die Patronin der Sterbenden. Die Heilige Katharina schließlich wird angerufen bei Leiden der Zunge. Sie ist die Patronin der Philosophen und Universitäten.[4]
Zu den drei heiligen Frauen gehört oft auch noch eine vierte; zusammen mit Dorothea bilden sie die „virgines cardinales“ und entsprechen dadurch – zumindest von der Anzahl her – den vier platonischen Kardinaltugenden Iustitia (Gerechtigkeit), Sapientia (Weisheit), Temperantia (Mäßigung) und Fortitudo (Stärke). Alle Heiligen sind erkennbar an ihren Attributen.




Auf der Predella des aus einer Werkstatt im brabantischen Löwen stammenden besonders kunstvollen Hauptaltars aus dem Jahr 1449 mit der neunteiligen Darstellung der Passion Christi von Palmsonntag bis Pfingsten[5] finden sich vier der genannten Nothelfer wieder: Die heilige Barbara mit Turm und Kelch für das letzte Abendmahl, die heilige Katharina mit dem Rad, der heilige Erasmus mit der Darmwinde und der heilige Vitus mit dem Ölkessel. Auch der fünfte dargestellte Heilige, der von Pfeilen durchbohrte heilige Sebastian, wird bisweilen zu den Nothelfern gezählt.




Insgesamt erscheint die heilige Katharina fünfmal in der evangelischen Kirche, in der zur Zeit der Reformation Michael Gräter, der Bruder von Margarete Gräter, der ersten Frau des Reformators Johannes Brenz, Pfarrer war: In der Predella des Löwener Altars, als spätgotische Sandsteinstatue und als farbig gefasste Statue an einem nördlichen Turmpfeiler im Chor, in dem südöstlichen Glasfenster aus dem Jahre 1360, wo sie an oberster zentraler Stelle mit fünf Philosophen diskutiert, und selbst noch als Bekrönungsfigur auf dem Deckel der barocken Kanzel. Besonders beachtenswert ist die farbig gefasste Statue im Chor aus dem 14. Jahrhundert. Hier hält die Heilige ihr Schwert auf eine unter ihr liegende gekrönte Gestalt, die den römischen Kaiser Maxentius darstellen soll, der der Legende nach fünfzig Philosophen zusammenrief, um die Heilige mit Argumenten vom christlichen Glauben abzubringen. Das Gegenteil geschah: Katharinas Argumente waren besser und die fünfzig Philosophen bekehrten sich zum Christentum. Daraufhin „werden sie von dem enttäuschten und erzürntem Kaiser unmittelbar dem Feuertod überantwortet.“[6]
Diese Haltung erinnert nicht nur an die Tugendallegorien, die die Laster unter ihren Füßen oft mit Lanzen in Schach halten, sondern auch an die berühmte Statue des Erzengels Michael, die in der Turmvorhalle der Michaelskirche am nordöstlichen Hang der Stadt Schwäbisch Hall steht und gleichsam zu Katharina am südwestlichen Hang jenseits des Kochers hinüberschaut. Dabei entspricht der Kaiser, auf den Katharina ihr Schwert stützt, dem Drachen, den Michael mit der Lanze unter sich hält.
Ich erzähle auch von der beliebten Methode der katholischen Kirche, Kirchen, die oft an den Orten vorchristlicher Heiligtümer errichtet wurden, Heiligen zu widmen, die ebenfalls auf heidnische „Götter“ zurückgehen. So kann man als vorchristliche Urbilder der drei heiligen Madln drei weibliche keltische Gottheiten erkennen, die die drei wichtigsten Lebenssituationen des Menschen auf Erden begleiteten und behüteten: die Geburt, das Leben und den Tod. In dieser Sicht kann man das andere Attribut der heiligen Katharina, das Rad, das eigentlich ihr Marterwerkzeug darstellt, auch als Lebensrad deuten, während der „Wurm“ der Margaretha, der das Neugeborene meinen könnte, das man oft als „kleines Würmchen“ bezeichnet, und der Turm der Barbara, den man auch als Mausoleum oder Gruft ansehen kann, auf Geburt und Tod hinweisen.
Die Bildsprache des Mittelalters lässt Raum für viele Deutungen, setzt jedoch jenes bewegliche Denken voraus, das noch mit dem Geistigen rechnete. Erst die kirchliche Dogmatik hat dieses Denken in enge Schranken eingesperrt, aus denen es sich jetzt wieder befreien muss.
Als Urbild der heiligen Katharina, die erst ab dem 10. Jahrhundert verehrt wurde, obwohl sie angeblich im 4. Jahrhundert ihr Martyrium erlitten hat, erscheint nun vor unseren Augen die heidnische Philosophin Hypatia, die an der Universität der durch Alexander den Großen im Nildelta gegründeten Stadt Alexandria Scharen von Studenten anzog. Ihre Erfolge erregten den Neid des damaligen Patriarchen der Stadt, der auf den Namen Kyrill hörte. Er zog eine „Rotte“ von fanatischen Christen zusammen, ließ die Philosophin im März 415 im Musaion, wo sich die Universität und die berühmte Bibliothek befunden hatten, ergreifen, führte sie zum Kaisarion, dem Königspalast, in dem sich auch das Mausoleum Alexanders des Großen befunden hatte, um der schönen Frau dort die Kleider vom Leib zu reißen und die Nackte zu töten und zu zerstückeln. Anschließend wurden die Leichenteile auf den Kinarion-Platz gebracht, wo sie verbrannt wurden.
In dieser Geschichte ist die heidnische Philosophin die Gute und die Christen sind die Bösen. Das hat die katholische Kirche um das Jahr 1000, also 600 Jahre nach Hypatias Tod, auch gemerkt und die Geschichte umgedreht. Man erfand in den Schreibstuben des Papstes eine Heilige, die angeblich von einem heidnischen Kaiser aufs Rad gebunden, zerstückelt und zum Schluss noch mit dem Schwert enthauptet wurde, nachdem sie 50 heidnische Philosophen zum Christentum bekehrt hatte. Nun ist die Christin die Gute und der heidnische Kaiser der Böse. 
Somit passte die Geschichte wieder ins Bild und der Kult der Heiligen verbreitete sich nach und nach. Aber erst im Zusammenhang mit der Vision des Klosterschäfers Hermann Leicht, der im Jahre 1445 und 1446 zweimal den himmlischen Auftrag erhielt, auf der Weide des Klosters Frankental eine Kapelle bauen zu lassen, an deren Stelle 300 Jahre später (1744) von Balthasar Neumann die Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen erbaut wurde, verbreitete sich der Kult in Europa. Selbst das heute Katharinenkloster genannte Kloster am Fuße des Berges Sinai war, als es im 5. Jahrhundert gebaut wurde, ursprünglich der Muttergottes gewidmet. Erst im 14. Jahrhundert wurde es umbenannt, nachdem Engel der Legende nach die Gebeine der heiligen Katharina von Alexandria an die Stelle gebracht hatten, wo einer anderen Legende zufolge Moses den brennenden Dornbusch erblickt hatte.[7]
Man kann davon ausgehen, dass es die heilige Katharina von Alexandria gar nie gegeben hat, sondern dass sie eine christlich-katholische Umwidmung der neuplatonischen Philosophin Hypatia war. 
Die heilige Katharina von Siena dagegen hat es wirklich gegeben. Die im Jahre 1347 geborene Tochter eines Wollfärbers tritt 15-jährig in den Dominikanerorden ein, pflegt mit Hingabe Kranke und Arme und gerät während des Gebets in ekstatische Zustände, in denen ihr Visionen zuteilwerden. So reicht ihr in einer ihrer Erscheinungen Christus den Trauring. Statt des Rings wählt sie die Dornenkrone und erhält die Wundmale. Sie stand in Kontakt mit wichtigen Persönlichkeiten der damaligen Zeit und soll 1376 die Rückkehr des Papstes von Avignon nach Rom bewirkt haben. Sie stirbt 1380 in Rom, wird in der Kirche Santa Maria sopra Minerva bestattet und 1461 heiliggesprochen. Mir ist keine Kirche bekannt, die zu ihren Ehren errichtet wurde. Aber es verbreitete sich in jener Zeit die Legende, dass auch Katharina von Alexandria eine Braut Christi war. Hans Memling, der bekannte flämische Meister, hat im Jahre 1479 ein Triptychon geschaffen, das die mystische Hochzeit der heiligen Katharina zeigt. Es befindet sich heute im Johanneshospital in Brügge.
Das zeigt, dass Wesenszüge der Sieneser Katharina mit denen der alexandrinischen vermischt wurden, um die Popularität der letzteren im Zeitalter des Humanismus und der Reformation zu verstärken. So hat die katholische Kirche in der Zeit der Gegenreformation auch den böhmischen Heiligen Johannes Nepomuk gefördert, der noch heute in katholischen Regionen an vielen Brücken zu sehen ist. Wie Renate Riemek in ihrer Ketzergeschichte aufzeigt, soll dadurch das Unrecht der Kirche an Johannes Hus, eines anderen Prager Predigers, verdeckt werden. Johannes Hus, der 1415 während des Konstanzer Konzils verbrannt wurde, obwohl ihm die Kirche freies Geleit zugesagt hatte, gilt als Vorläufer der Reformation. Er war hundert Jahre zu früh gekommen, denn Johannes Gutenberg musste 1455 erst den Buchdruck erfinden, damit Luthers 95 Thesen 1517 (ohne sein Wissen) überall in Deutschland verbreitet werden konnten. Das löste die längst fällige Reformation und leider auch die zweite Kirchenspaltung (nach der Trennung der katholischen von der orthodoxen Kirche im Jahre 1054) aus.
Ich beende meine Führung mit dem Epigramm von Palladas von Alexandria aus dem Jahre 400:
„An die Philosophin Hypatia
Bewundernd blick ich auf zu dir und deinem Wort,
Wie zu der Jungfrau Sternbild, das am Himmel prangt.
Denn all‘ dein Thun und Denken strebet himmelwärts,
Hypatia, du Edle, süßer Rede Born,
Gelehrter Bildung unbefleckter Stern.“

Dabei weise ich auch auf den Vortrag hin, den Rudolf Steiner am 27. Dezember 1910 in Stuttgart gehalten hat, in dem er zum ersten Mal versucht hatte, karmische Reihen aufzustellen. Die vier Vorträge sind in dem Band „Okkulte Geschichte“ (Ga 126) veröffentlicht. Damals waren die Theosophen jedoch noch nicht bereit, solche Vorträge anzuhören und Rudolf Steiner musste noch 14 Jahre warten, bis er im Jahre 1924 seine Karmavorträge halten konnte, die heute meiner Meinung nach neben den Impulsen für die Pädagogik, die Medizin, die Landwirtschaft und die religiöse Erneuerung zu dem Wesentlichsten gehören, das er geleistet hat.
Am 27. Dezember, dem Tag des Evangelisten Johannes und späteren Todestages Marie Steiners, führte er aus:
„Es gab eine wunderbare Persönlichkeit in den alten orphischen Mysterien; sie machte die Geheimnisse dieser Mysterien durch; sie gehörte zu den allersympathischsten, zu den allerinteressantesten Schülern der alten griechischen orphischen Mysterien. Sie war gut vorbereitet, namentlich durch eine gewisse keltische Geheimschulung, die sie in früheren Inkarnationen durchgemacht hatte. Diese Individualität hat mit einer tiefen Inbrunst die Geheimnisse der orphischen Mysterien gesucht. Das sollte ja an der eigenen Seele durchlebt werden von den Schülern der orphischen Geheimnisse, was in dem Mythos enthalten ist von dem Dionysos Zagreus, der von den Titanen zerstückelt wird, dessen Leib aber Zeus zu einem höheren Leben emporführt. Als ein individuelles Erlebnis sollte es gerade von den Orphikern nacherlebt werden, wie der Mensch dadurch, dass er einen gewissen Mysterienweg durchmacht, sozusagen sich auslebt in der äußeren Welt, mit seinem ganzen Wesen zerstückelt wird, aufhört, sich in sich selber zu finden. (…) Es gehörte in einer gewissen Weise zum Höchsten, was man an Einweihungsgeheimnissen hat erleben können, wenn dasjenige, was ich Ihnen eben angedeutet habe, menschliches Erlebnis geworden war. Und viele Schüler der orphischen Mysterien haben solche Erlebnisse durchgemacht, haben auf diese Weise ihre Zerstückelung in der Welt erfahren und haben damit das Höchste durchgemacht, was in vorchristlichen Zeiten als eine Art Vorbereitung für das Christentum hat erlebt werden können.“
Anschließend geht Rudolf Steiner ausführlich auf die nachchristliche Wiederverkörperung dieser Schülerin der orphischen Mysterien als Hypatia, die Tochter des großen Mathematikers Theon, ein. Einleitend sagt er:
"Wir sehen, wie in ihrer Seele alles das auflebt, was man durchleben konnte in den orphischen Mysterien an der Anschauung der großen, mathematischen, lichtvollen Zusammenhänge der Welt. Das alles war jetzt persönliches Talent, persönliche Fähigkeit. Jetzt brauchte selbst diese Individualität einen Mathematiker zum Vater, um etwas vererbt zu bekommen; so persönlich mussten diese Fähigkeiten sein.“[8]
Es wird den Einsichtigen bald klar, dass mit dieser Individualität Marie von Sivers gemeint war, die 1914 Rudolf Steiners zweite Frau wurde.
Ihr hat der Geisteslehrer einmal einen Meditationsspruch überreicht, den ich nach dem anregenden Gespräch nach meiner Führung auch noch vorlese, weil er Motive aus dem Epigramm des Palladas aufgreift:

„In Sternenweiten
Zu Götterorten
Wendet den Geistesblick
Meine Seele.

Aus Sternenweiten
Von Götterorten
Strömet die Geisteskraft
In meine Seele

Für Sternenweiten
Nach Götterorten
Lebt m e i n Geistesherz
Durch meine Seele“

Nachtrag vom 15. Juli 2019:

Am Sonntagabend las ich den Vortrag vom 27. Dezember 1910, von dem ich bei meiner Führung in der Katharinenkirche gesprochen hatte, noch einmal ganz und war erstaunt, dass Rudolf Steiner in diesem Vortrag zuerst von Gilgamesch und Eabani sprach, die sich eine Kulturepoche später in Griechenland als Alexander und Aristoteles wiederverkörpert haben, bevor er auf die orphische Geheimschülerin einging, die später in Alexandria als Hypatia reinkarnierte.
Es ist schon unglaublich spannend zu erfahren, dass Rudolf Steiner in seinem ersten Karma-Vortrag ausgerechnet von den beiden Individualitäten sprach, die ihm auch im Leben am Beginn des 20. Jahrhunderts so nahe standen.
Ich denke einmal, dass die meisten Zuhörer, die damals in der Stuttgarter Landhausstraße anwesend waren, gar nicht ahnten, von wem der Geisteslehrer real sprach: von Ita Wegman, Marie Steiner und von sich selbst. Diese drei Individualitäten waren durch viele Leben eng miteinander verbunden und griffen ihre gemeinsame Erdenmission immer wieder auf.
Leider kam es dann unmittelbar nach dem Tod Rudolf Steiners zu dem hässlichen „Urnenstreit“ zwischen den beiden Frauen und dem anschließenden Zerwürfnis, das schließlich zur Katastrophe der Ausschlüsse führte. In gewisser Weise trägt Marie Steiner dabei die größere „Schuld“ und muss wohl dafür in ihrem nächsten Leben „büßen“. So muss sie immer wieder in die Zerreißprobe geraten, in die schon die schöne und beliebte Philosophin Hypatia in Alexandria geraten war. Dieses schreckliche „Zerrissenwerden“ gehört offenbar zu Marie Steiners Lebenseinweihung dazu wie der große Schmerz, den Ita Wegman erleben musste, als man sie furchtbar verleumdete und aus dem Vorstand entfernte, zu ihrer.
Nun fand ich mit Hilfe von Peter O. Chotjewitz („Der Fall Hypatia“) heraus, dass sich die beiden Frauen einmal in einem Leben – zumindest äußerlich – schon ganz nahe gekommen waren. Die Situation ist symptomatisch, denn sie erinnert in gewisser Weise an den „Urnenstreit“.
Alexanders Leichnam wurde nach seinem Tod einbalsamiert und über Damaskus nach Alexandria im Nildelta gebracht, wo sie in einem Sarkophag mit gläsernem Deckel in einem „Turm“ (Mausoleum) im Königspalast Kaisarion verehrt werden konnte. Dieser Königspalast war später der Schauplatz von Hypatias Zerstückelung. Peter O. Chotjewitz schreibt (S 66f):
„Bleibt nur die Frage, was aus Alexanders Mumie wurde. Sie wurde weggeworfen, um Hypatias Ermordung in die Wege zu leiten. Als Orestes, Hypatias Freund, den verehrten Mönch und Volksredner Ammonius hinrichten ließ, um den Bürgerkrieg zwischen Ägyptern und Griechen, Christen und Heiden zu beenden, dachte Kyrillos, der Patriarch, nur daran, die Massen noch mehr aufzuwiegeln und nun auf Hypatia zu hetzen.
Was aber lässt die Massen lauter nach Vergeltung und Blut schreien als ein gut inszeniertes Begräbnis? Erbischof Kyrillos hatte eine geeignete Leiche, die des neuesten Märtyrers Ammonius. Ihm fehlte ein angemessener Sarg. Er ließ also die Reste Alexanders aus dem Sarkophag räumen und legte den Märtyrer Ammonius hinein.“
Peter O. Chotjewitz zitiert noch eine Stelle aus Fritz Mauthners Roman „Hypatia“ (Stuttgart 1892):
„Alexander der Große, der Heide, der Grieche, der Gotteslästerer, den man nun lange genug als Götzen verehrt hatte. Die Bronzetür flog aus den Angeln, und der goldene Deckel des Sarkophags hob sich, und was er enthielt, war nach wenigen Augenblicken verschwunden. Der goldgestickte Purpurmantel, die Waffen, der Königsring, die seltsame Krone, alles verschwand, und die Vase mit der Asche Alexanders ging von Hand zu Hand, und auch sie verschwand, Staub zu Staub.“
Rudolf Steiner kannte mit Sicherheit diesen Roman des Sprachforschers Fritz Mauthner, den er oftmals in seinen Vorträgen erwähnt. Interessant ist, das Fritz Mauthner in seinem Roman von einer Urne mit der Asche Alexanders spricht, während doch in Wirklichkeit der einbalsamierte Leib des Welteroberers auch 700 Jahre nach seinem Tod noch unversehrt geblieben sein soll, wie andere Quellen behaupten.
Peter O. Chotjewitz kommentiert abschließend:

„Also keine Mumie, sondern Asche, kein Deckel aus Glas. Aber das sind unerhebliche Details. Der Kern der Erzählung ist wichtig und der ist schlüssig: die Leiche des großen Alexander wurde gefleddert, um die Masse gegen Hypatia aufzuhetzen.“





[2] Im Fenster der Katharinenkirche fehlt industria (Fleiß), die die Faulheit  bzw. Trägheit (acedia) bekämpft
[3] In katholischen Regionen ist bis heute der Spruch im Umlauf: „Die Margret mit dem Wurm, die Kathrin mit dem Radl, die Bärbel mit dem Turm, das sind unsere drei heiligen madl“
[4] Ich hatte sowohl die Aufteilung der Glasfenster mit den sechs Tugenden und Laster, als auch die 14 Nothelfer als Kopien verteilt.
[5] Von links nach rechts: auf der ersten Tafel der Einzug Christi in Jerusalem, auf der zweiten Tafel der Kuss des Judas; im geschnitzten Mittelschrein sehen wir Dornenkrönung, Kreuztragung, Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung. Auf den beiden letzten Tafeln Christi Himmelfahrt und das Pfingstwunder mit der Taube des Heiligen Geistes. Interessant ist, dass im Schrein vier Engel mit Kelchen das Blut Christi aufsammeln.
[6] Reclams Lexikon der Heiligen und biblischen Gestalten (von Hiltgart L. Keller), 7. Durchgesehene Auflage, 1991
[8] Zitiert nach Erdmuth Johannes Grosse, Das Rätsel des Urvorstandes – Blicke auf die Konflikte in der Anthroposophischen Gesellschaft nach Rudolf Steiners Tod. Eine karmisch-psychologische Betrachtung, Verlag am Goetheanum, Dornach 2007

Donnerstag, 4. Juli 2019

Sieben Tage auf den Spuren eines Meisters, ein Aufsatz aus dem Jahre 2011







Endlich komme ich dazu, ein wenig von den wunderbaren Erlebnissen zu erzählen, die Andrea und ich in diesen Sommerferien haben durften. Es waren eigentlich nur sieben Tage, aber die waren so intensiv, dass ich mehr oder weniger die ganze restliche Zeit, also vier Wochen, brauchte, um diese Erlebnisse zu verarbeiten.
Wir waren hauptsächlich auf den Spuren der drei mittelalterlichen Kaiserdynastien unterwegs, der sächsischen Ottonen, der fränkischen Salier und der schwäbischen Staufer.
Im Mittelpunkt aber stand die Landesausstellung des Bundeslandes Sachsen-Anhalt in Naumburg über den  „Naumburger Meister“. Wir tauchten in 350 Jahre mittelalterlicher Geschichte ein, in eine Geschichte, die im Jahre 919 begann und im Jahre 1268 endete.
Am 31. Juli 2011 machten wir einen Tagesausflug zum Kloster Lorch und auf die Stammburg Hohenstaufen.
Vom 14. bis 17. August waren wir in Wethau bei Naumburg bei Andreas Bruder Michael und seiner Lebensgefährtin Kathrin zu Gast, besuchten die Landesausstellung und machten eine Rundreise zum Kyffhäuser südlich und nach Quedlinburg nördlich des Harzes.
Am Wochenende vom 27. zum 28. August waren wir in Ludwigshafen bei Fritz und Marianne zu Gast und besuchten mit ihnen die beiden Kaiserdome zu Worms und Speyer am Oberrhein.
Um die Reiseeindrücke zu vertiefen, las ich im Ausstellungskatalog über den Naumburger Meister, bei Johannes Fried (Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 1) über die Ottonen, bei Stefan Weinfurter über „Das Jahrhundert der Salier“ und in Johannes Lehmanns „Die Staufer“. Keines der drei Bücher habe ich bisher ganz gelesen, immer nur etwa das erste Drittel beziehungsweise die erste Hälfte (Salier), aber wenn ich jetzt nicht schreibe, sondern weiter lese, sind die Ferien um und all die schönen inneren und äußeren Erlebnisse werden vom Staub des Alltags zugedeckt.

Als Andrea und ich am Sonntagnachmittag, den 14. August im Cafe im Domgarten eine kleine Pause von unserem Besichtigungsmarathon im Naumburger Dom einlegten, kamen wir zunächst ins Gespräch mit einem Dozenten für christliche Archäologie von der Universität Marburg und später mit einem Pensionär, der an der Universität Münster Philosophie studiert. Die beiden Herren, die mit ihren Frauen an unserem Tisch Platz nahmen, waren nur zwei von vielen hundert interessierten Besuchern der Landesausstellung. Schon von ihrer Erscheinung her beeindruckten sie uns. Beide waren groß, hatten weiße Haare und freundliche, wache Gesichtszüge.
Es handelt sich um Menschen, die offenbar – wie wir selber –  interessiert an Geschichte sind. Auf der anderen Seite sehen wir außerhalb der „Domfreiheit“ unzählige Menschen, die weniger Interesse für die Ausstellung und an der Vergangenheit zu haben scheinen. Es ist vermutlich die überwiegende Mehrheit.
Dieser Kontrast zwischen einer Minderheit von Geschichtsinteressierten und einer Mehrheit von Menschen, denen Geschichte „egal“ ist, beschäftigt mich immer wieder und ich hatte in jenem Augenblick eine Eingebung, an die ich mich auch jetzt noch erinnere:
Es ist mir, als seien diejenigen Menschen, die staunend durch die Ausstellung wandeln und dadurch ihr Geschichtsinteresse bekunden, wieder verkörperte Grafen, Bischöfe, Ministerialen, also Leute, die im Mittelalter selbst „Geschichte“ gestaltet haben, diejenigen aber, die „draußen“ ihren Alltagsgeschäften nachgehen und wenig mit solch einer Ausstellung anfangen können, wieder verkörperte Bauern und Unfreie. Die einen drinnen sind die Herren, die anderen draußen die Diener, die drinnen sind die Herrschenden, die draußen die Beherrschten.
Es ist nun kurios zu erleben, dass Andrea wie ihre Familie einerseits eher zu der Gruppe von Menschen gehört, die achtlos an so einer Ausstellung vorbeigegangen wäre, wenn ich sie nicht „mitgenommen“ hätte, dass ich andererseits aber gerade durch sie und ihre Familie auf Naumburg und diese Ausstellung gestoßen bin…

Als wir am 21. und 22. Januar in Wethau weilten, um Andreas Mutter, die am Sylvestertag des vorangegangenen Jahres in einem Naumburger Krankenhaus verstorben war, die letzte Ehre zu erweisen, hatte ich Zeit, den Naumburger Dom und vor allem seinen Westchor mit den großartigen Stifterfiguren allein zu besuchen. Damals erfuhr ich zum ersten Mal von der bevorstehenden Landesausstellung und mein Entschluss stand sofort fest: in den Sommerferien werden wir an die Saale fahren.
Damals kaufte ich für 50 Euro den Bildband „Der Naumburger Dom“ von Ernst Schubert (Text) und Janos Stekovics (Fotos). Die Stifterfiguren waren zum Teil eingerüstet, weil die Vorbereitungen für die Ausstellung bereits begonnen hatten. Dennoch fand ich an diesem Vormittag die Ruhe, mich in die Stimmung dieses besonderen Raumes zu vertiefen.
Obwohl ich den Dom bereits 1995 zum ersten Mal und dann noch einige weiter Male besucht hatte, wurde mir erst an diesem Tag bewusst, dass es sich bei den Statuen im Westchor um genau zwölf Figuren handelt, acht Männern und vier Frauen. Dass es ausgerechnet zwölf waren, die den Kirchenraum schmücken, ist an und für sich nicht verwunderlich. Man kennt das. In der Regel handelt es sich dabei um die zwölf Apostel, wie zum Beispiel in der gleichzeitig mit dem Naumburger Westchor in Paris durch König Ludwig IX. den Heiligen errichtete Sainte Chapelle auf der Ile de la Cite.
Im Westchor des Naumburger Doms stehen aber nicht die zwölf Apostel, sondern zwölf weltliche Herren und Damen!
Angeblich handelt es sich bei den dargestellten Grafen, Markgrafen und Markgräfinnen um die Stifter des Domes, die im Jahre 1249, als sie aufgestellt wurden, schon seit über 200 Jahren tot waren. Ihre lebensvolle, geradezu naturnahe Erscheinung, zu der auch die zum Teil erhaltenen Farben beitragen, lassen jedoch vermuten, dass mit diesen Personen Menschen, die in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts wirklich gelebt haben, gemeint sind. Natürlich kann es sich dabei nur um idealisierte Darstellungen handeln. So lese ich im Katalog: „Ein vergleichbares komplexes Bildprogramm findet sich in der ikonographischen Vielfalt und in der inhaltlichen Verknüpfung der in dieses Programm integrierten Einzelthemen und Medien weder in Frankreich noch andernorts.“ (Claudia Kunde, Katalog Band 2, S 976). Es handelt sich bei diesem „Sakralraum“ mit den zwölf Stifterfiguren um etwas ganz und gar Einmaliges.

Schon im Januar erlebte ich die geheimnisvolle Stimmung, die diese Figuren und der ganze Westchor ausstrahlen. Ich musste bereits vor einem halben Jahr unwillkürlich an den Vortrag denken, den Rudolf Steiner am 27. September 1911, also vor genau 100 Jahren, in Neuchatel gehalten hat (GA 130). Dort schildert er, wie sich an „einem Ort in Europa“, dessen Namen er noch nicht bekannt geben könne, um das Jahr 1250 zwölf weise Männer versammelt hätten, um einen Jüngling einzuweihen, der zur Zeit des Mysteriums von Golgatha gelebt hatte und sich in den „darauf folgenden Inkarnationen durch demütiges Gemüt, durch inbrünstiges, gottergebenes Leben (…) für seine Mission vorbereitet“ habe (GA 130, S 61 der Taschenbuchausgabe, Dornach 2001). Dabei unterscheidet Rudolf Steiner zwischen sieben Persönlichkeiten, die das Wissen der atlantischen Zeit an den Jüngling weiterzugeben hatten, die er also mit den sieben heiligen Rishis gleichsetzt und vier Männern, die das Wissen der vier ersten nachatlantischen Kulturepochen vermitteln sollten. Außerdem gab es noch einen „Zwölften, (…) der besonders die äußeren Wissenschaften zu pflegen hatte“.
Irgendwie will es mir scheinen, dass Rudolf Steiner damals zwar das Wort „Männer“ für die zwölf benutzte, aber in Wirklichkeit den Begriff „Meister“ im Sinne der Geheimwissenschaft meinte. Vielleicht handelte es sich auch um „Meister“ im Sinne der äußeren damaligen Wissenschaft, um „Magistri scholarum“.

Ich bin in der Zeit zwischen Januar und August nicht dazu gekommen, meiner „Ahnung“ weiter nachzugehen und setzte alles auf den Ausstellungsbesuch. Die innere Frage, die ich das vergangene halbe Jahr bewegte, bis wir wieder nach Naumburg kamen, kann ich heute so formulieren: Ist es möglich, dass der Ort, an dem der Jüngling eingeweiht wurde, hundert Jahre nach der oben genannten Mitteilung Rudolf Steiners, bekannt gegeben werden darf und dass die Ausstellung, die sich um einen „europäischen Meister“ dreht, Teil davon ist? Hellhörig kann man werden, wenn Eckhard (!) Fuhr in der „Welt“ vom 29. Juni 2011 die Ausstellung zu einem Zeitpunkt, wo europäische Politiker um die Rettung des Euro ringen, unter dem viel sagenden Titel „Europa hat seinen Meister gefunden“ bespricht.
Das Wort „Meister“ begegnet uns während unseres Ausstellungsbesuches so oft, dass es schon fast gewöhnlich wird. Seinen besonderen Klang müssen wir uns behutsam innerlich wieder erarbeiten. Und das ist es, was ich mit diesen Zeilen versuchen will.

Auf den ersten Eindruck machen die zwölf Stifterfiguren keinen sehr spirituellen Eindruck. Viele nehmen eine beinahe kriegerische Haltung ein: Markgraf Ekkehard II. umschließt mit der Linken fest den Griff seines Schwertes, auch der Markgraf Hermann und die Grafen Thimo, Wilhelm, Dietrich und Konrad haben ihre Hände am Schwert, Graf Dietmar scheint sein Schwert sogar soeben zu ziehen und Graf Syzzo hebt sein Schwert mitsamt der Scheide bedrohlich in die Höhe, runzelt die Stirn und öffnet den Mund, als wolle er jeden warnen, der ihm zu nahe kommt.
Die acht männlichen Stifter sind also mit Schwertern bewaffnet, mit denen sie in jedem Augenblick den Kampf beginnen können. Dabei sind die Hände, die zur Waffe greifen, jedes Mal völlig unterschiedlich gestaltet. Dadurch entsteht in den unterschiedlichen Griffgebärden eine Art Gestensprache.
Wenn man bedenkt, dass das Schwert im Mittelalter nach Paulus (Eph. 6, 17) auch ein Symbol für „das Wort Gottes“ war, dann kommt man der tieferen Aussage der Kunstwerke schon näher.
Nur zwei der acht Schwertträger haben den Mund geöffnet und scheinen wirklich zu sprechen, aber ihr Gesichtsausdruck und ihre Haltung sprechen mehr als Worte. Sie sind als christliche Krieger dafür da, den Glauben gegen die Feinde des Christentums zu verteidigen.

Stifterfigur des Grafen Dietmar im Westchor – blindbild

Ausgehend von den beiden Ritterfiguren am linken Portal des Südquerhauses der Kathedrale von Chartres, die die Ritterheiligen Theodor und Georg darstellen, stellt Helene Sanwald im zweiten Band des Kataloges (S 998ff) einen interessanten Zusammenhang zu den Tempelrittern und den Grabbildnissen in der Londoner Temple Church her. Sie erwähnt auch die damals in der Adelsgesellschaft sehr beliebten Gralsromane.
Damit kommen wir der tieferen  Bedeutung der Stifterfiguren noch näher. Könnte es sich bei den „Modellen“ für die männlichen Stifterfiguren nicht um Mitglieder des Templerordens gehandelt haben? Immerhin weist die Ausstellung deutlich darauf hin, dass Steinmetzen, die im 13. Jahrhundert die Templerkapelle Iben südlich von Mainz errichtet haben, auch in Naumburg tätig waren, wie man aus identischen Steinmetzzeichen schließen kann.
Wenn der anonym gebliebene Naumburger Meister, der zugleich Architekt und Bildhauer gewesen sein dürfte, der Leiter einer weit gereisten Bauhütte war, die auch in Kontakt zu den Tempelrittern gestanden hat, dann dürfte er über das esoterische Wissen verfügt haben, das sowohl im Innern des Templerordens als auch im Inneren der mittelalterlichen Bauhütten gepflegt und schließlich bis hin zur modernen Freimaurerei tradiert wurde.

Unter den acht Männerfiguren ist nur eine einzige, die einen Bart trägt: der Graf Syzzo, der so entschlossen sein Schwert hebt und seine Gegner zu warnen scheint.
Graf Syzzo von Thüringen ist auch der einzige Stifter, der eine identifizierbare Wappenfigur auf dem Schild führt: den steigenden Thüringer Löwen. Er ist auch, wie schon erwähnt, der einzige, der das Schwert wie ein Richter erhoben hat. Außerdem fällt auf, dass Uta ausgerechnet in seine Richtung schaut.
Graf Syzzo, der als einziger den üblichen Aposteldarstellungen ähnelt, wurde zusammen mit Graf Wilhelm an einem besonderen Platz aufgestellt: die beiden Stifter stehen links und rechts des mittleren Fensters des Chorpolygons, das ja mit seinem Fünf-Achtel-Abschluss auf einen achteckigen Grundriss verweist, wie er am Dom von Meißen, dem letzten Werk des Naumburger Meisters, erhalten ist. Achteckgrundrisse kennt man in der Kunstgeschichte von den Nachbauten des „Heiligen Grabes“, von denen man im Konstanzer Münster ein hervorragendes Beispiel bewundern kann. Aber auch viele Templerkapellen basieren auf achteckigen Grundrissen wie zum Beispiel die wunderschöne Templerkirche von Eunate am spanischen Camino unweit von Puente la Reina.
Graf Syzzo hat  im Rund der zwölf Figuren nach Ernst Schubert „im Scheitel des Polygons in rechter Position“ (…) „den würdigsten Platz“ (S 104) erhalten. Die Mitte war dem Christus vorbehalten. In den Vierpässen der Glasfenster des Westchores werden rechts von Christus der Erzengel Michael, links von ihm der Erzengel Gabriel abgebildet, was der traditionellen Widmung der Westtürme eines Domes entspricht. Über Syzzo, dessen Name eigentlich Siegfried bedeutet, wacht also der Erzengel Michael.
Graf Wilhelm steht zur Linken Christi unter dem Erzengel Gabriel. Er hebt sich durch seine Kopfbedeckung und seine ruhige, nach innen gekehrte Körperhaltung deutlich von dem leidenschaftlich „argumentierendem“ Grafen Syzzo ab. Seine Identifizierung ist schwierig, denn auf seinem Schild steht nur: „Graf Wilhelm, der eine der Stifter“. Bei allen anderen Stifterfiguren im Chorrund ist durch die eindeutigen Inschriften eine Verwechslung ausgeschlossen. Hier aber wird nicht mehr gesagt, als dass Graf Wilhelm ein Stifter war. Das gilt aber für alle elf anderen auch. „Sein in den Umhang eingewickelter rechter Unterarm mit der zum Hals geführten und ebenfalls von dem Gewand verdeckten rechten Hand ist so auffällig und durch die künstlerische Komposition, durch den Verlauf der Gewandfalten betont, dass eine besondere Bedeutung unterstellt werden kann. Einen festen Anhaltspunkt dafür hat man aber bisher nicht gefunden.“ (Ernst Schubert, S 108). Wir haben es also auch hier mit einer rätselhaften Gestalt, die in ihrer Haltung stark an die Figur der Uta erinnert, zu tun. Auch Wilhelm schaut in die Richtung von Graf Syzzo.
Der Westchor des Naumburger Domes setzt sich aus den fünf Seiten eines Achteckes und aus den drei Seiten eines Quadrats zusammen. Die Stifterfiguren sind so aufgestellt, dass auf jeder Seite sechs stehen, wobei immer drei im quadratischen Raum und drei im Chorpolygon stehen. Dort, wo Polygon und Quadrat aufeinander treffen, in der Scharnierposition sozusagen, stehen die Stifterpaare. Verständlich ist, dass die beiden ranghöchsten Stifter, die Markgrafen Hermann und Eckehard II., mit ihren Ehegattinnen gezeigt werden. Dadurch werden diese „Scharnierstellen“ auch inhaltlich besonders hervorgehoben.

Bild 14 aus Beitrag: Unsere Begegnungen im Saale-Unstrut-Land

In diesen beiden Paaren hat der Bildhauer seine Meisterwerke geschaffen. Auf diesen vier Stifterfiguren ruht der Blick des Betrachters besonders lang. Die Blicke der vier Stifterfiguren scheinen wiederum in einer engeren Beziehung zueinander zu stehen. Nur der Blick der geheimnisvollsten der Figuren, der Blick der Uta, geht ganz woanders hin. Sie schaut, wie bereits gesagt, in die Richtung von Graf Syzzo.
Stifterfigur des Grafen Syzzo

Dass wir die Namen der Stifter kennen, verdankt die Wissenschaft einer Urkunde, die in der Bischofskapelle, einem Raum, der sich südlich des Westchors im Anschluss an das Dormitorium befindet und von dem aus man durch ein kleines Rundfenster auf die Nordseite desselben, also auf Uta und Ekkehard, blicken kann, ausgestellt wird. Es ist die „Urkunde 88“ des Domstiftsarchivs, ein „Schlüsselzeugnis für jegliche Beschäftigung mit den Naumburger Stifterfiguren“ (Holger Kunde, Katalog Band 1, Kapitel VIII, S 753ff). Allerdings werden in dieser Urkunde, die der damalige Bischof Dietrich II. und sein Naumburger Domkapitel als „Spendenaufruf“ im Jahre 1249 ausgestellt haben, nur elf „Erststifter“ (primi ecclesie nostre fundatores)  namentlich genannt, und zwar in folgender Reihenfolge: Markgraf Hermann, Markgräfin Regilindis, Markgraf Ekkehard, Markgräfin Uta, Graf Syzzo, Graf Konrad, Graf Wilhelm, Gräfin Gepa, Gräfin Berchta, Graf Dietrich und Gräfin Gerburch. Es sind also sechs männliche und fünf weibliche Stifter genannt. Im Dom befinden sich aber abweichend davon acht männliche und nur vier weibliche Standbilder. Hier gibt es in diesem an Rätseln reichen mittelalterlichen Gebäude  wieder ein Geheimnis zu lüften.
Markgraf Ekkehard II. und Markgraf Hermann lebten im 10. Jahrhundert und waren Brüder. Sie waren die Söhne des Markgrafen Ekkehard I., der nach dem Tode Kaiser Ottos III. nach der Königskrone strebte, jedoch vorher ermordet wurde. Den beiden Markgrafen von Meißen, die als Ekkehardiner die direkten Vorläufer der Wettiner sind und mit den thüringischen Ludovingern verwandt waren, gestattete Konrad II., der erste Salier auf dem Kaiserthron, im Jahre 1028, den Bischofssitz von Zeitz nach Naumburg zu verlegen. Sie gelten also als die eigentlichen Stifter und haben deshalb an den Ecksäulen hervorragende Positionen. Dabei gilt Markgraf Hermann auf der helleren Südseite als der Fromme, Markgraf Ekkehard auf der dunklen Nordseite als der Kriegerische.
Wir finden hier wieder einen wichtigen Aspekt, den wir schon in der Gegensätzlichkeit zwischen Graf Syzzo und Graf Wilhelm beobachtet hatten, nur dass die Rollen nun vertauscht sind: der fromme Markgraf Hermann steht auf der Seite des energischen Grafen Syzzo, der stolze Markgraf Ekkehard auf der Seite des besonnenen Grafen Wilhelm.
Der Architekt und Bildhauer stellt offenbar zwei mögliche Geisteshaltungen einander gegenüber, die auch Wolfram von Eschenbach in seinem etwa im Jahr 1210 vollendeten „Parzival“ thematisiert: der ideale Ritter will der Welt und Gott gleichzeitig dienen, auch wenn das nicht immer leicht vereinbar erscheint, wie sein Weg von der „tumbheit“ über den „zwifel“ zur „saelde“ im Epos beweist. Diese beiden Lebenshaltungen wollte bereits Benedikt von Nursia innerhalb des Mönchtums durch das „Ora et Labora“ seiner Mönchsregel zusammenbringen. Sie gehen zurück auf die griechische Philosophie, die von dem „praktischen“ und dem „theoretischen“ Leben spricht. Im Mittelalter drückte man es lateinisch aus und nannte die beiden Geisteshaltungen „Vita activa“ und „Vita contemplativa“ Eine schöne Plastik der beiden „Wege“ findet sich am Nordportal des Querschiffes der Kathedrale von Chartres.
Der Orden der Tempelritter versuchte am konsequentesten den Dienst an der Welt mit dem Gottesdienst zu vereinen. Der Orden erhielt von Bernhard von Clairvaux, der auch den Zisterzienserorden gegründet hat, eine mönchsähnliche Regel und gehörte von daher zu der mittelalterlichen Gruppe der „oratores“. Da er aber gleichzeitig als Ritterorden „Witwen und Waisen“ zu beschützen hatte, durften die Mitglieder des Templerordens Waffen tragen und gehörten dadurch auch zur Gruppe der „bellatores“. Man kann sie also mit Recht als „Mönchsritter“ bezeichnen.
Im Westchor des Naumburger Domes geht es, wie wir gesehen haben, um die Vereinigung der beiden Gegensätze, die in der „Tempellegende“ der Bauhütten bis auf das gegensätzliche Brüderpaar Kain und Abel zurückgeführt wurden: Abel war der Fromme, dessen Opfer gottgefällig war. Kain aber war der Ackerbauer und Erzvater aller Handwerke. Sein Rauch stieg nicht zum Himmel auf und so erschlug er den Bruder.
Diese Geschichte erzählt Trevrizent dem irrenden Parzival in der Klause bei der Fontane de Salvaesche an jenem entscheidenden Karfreitag, an dem der „Zweifler“ seine Fehler erkennt und die „Erneuerung“ erfährt, die ihn zum Gralskönigtum befähigen wird (Neuntes Buch).
In der Tempellegende wird die Geschichte von Kain und Abel weitergeführt bis in die Zeit Salomos. Salomo ist ein Nachkomme Abels, Hiram Abiff, sein Baumeister, ein Spross aus der Kainslinie. Beide Strömungen scheinen sich unversöhnlich wie Feuer und Wasser gegenüber zu stehen und müssen doch für die Errichtung des Tempels zusammenarbeiten.
Der Naumburger Dom ist den Apostelfürsten Petrus und Paulus geweiht, ebenfalls zwei sehr gegensätzlichen Patronen. Der Westchor ist in Wirklichkeit eine Marienkapelle. Hier  scheinen sich unter dem Patronat der die Gegensätze vereinenden Gottesmutter die beiden Strömungen aus der Tempellegende vereinen zu wollen. Dennoch kommt es zwischen den zwölf lebensnahen Figuren zu dramatischen Auseinandersetzungen. Hier werden keine leeren Posen eingenommen. Die zwölf unterschiedlichen Gesichtsausdrücke verraten von innerer Anteilnahme bis zu leidenschaftlicher Stellungnahme alle möglichen Positionen in einem Streitgespräch zwischen zwei Parteien.

So kann ich mir durchaus eine Einweihungssituation vorstellen…

Die geheimnisvollste Gestalt unter den zwölf Stifterfiguren ist zweifellos Uta, die Gemahlin des Markgrafen Ekkehard. Sie verhüllt ihre rechte Hand unter dem Mantel und schlägt den Kragen hoch, als ob sie sich schützen wollte. Andererseits rafft sie mit der Linken ihren Mantel demonstrativ zusammen, als wollte sie ihr kostbares Gewand besonders hervorheben. Stolz und Demut scheinen in ihr einen inneren Kampf zu führen. Die Lilienkrone auf ihrem Haupt zeigt an, dass die höchste christliche Tugend den Kampf gewonnen hat.
Diese Frau ist die einzige Person unter den zwölfen, die eine Königskrone trägt, obwohl sie im wirklichen Leben als Markgräfin im Adelsrang noch unter Regilindis, der Gemahlin ihres Schwagers Hermann auf der gegenüberliegenden Seite steht, die dem polnischen Herzogshaus entstammt. Daran sieht man schon, dass es sich hier nicht um reale, lebende Personen handelt, sondern dass jede der zwölf Figuren für eine „Idee“ steht.
Utas Krone deutet auf die Krönung der Himmelskönigin hin. Der Westchor ist eben dieser Himmelskönigin, Maria, geweiht. Von daher steht die „regina“ Uta der „regina coeli“ am nächsten.
Einerseits ist Uta die geheimnisvollste unter den zwölf Stifterfiguren, andererseits ist sie aber auch die populärste. Unzählige Male wurde sie abgebildet, sogar auf einer 25 Pfennig Briefmarke aus dem Jahre 1957. Es gibt Romane und Theaterstücke, die von ihr inspiriert sind. Der russische Esoteriker Nicolai Roerich hat sie im Jahre 1933 als „die Frau, die die Welt trägt“ auf den Gipfeln des Himalaya gemalt. 1937 verewigte der Amerikaner Walt Disney, der zwei Jahre zuvor eine Europareise gemacht hatte, die Gesichtszüge der Uta in der bösen Stiefmutter seines Trickfilms „Schneewittchen und die sieben Zwerge“. In jedem Kreuzworträtsel wird die schönste Frau Naumburgs „mit drei Buchstaben“ gesucht: oft beginnt man sogar das Rätsel mit UTA, weil sie inzwischen fast jeder kennt. Man kann also bei dieser Frauenfigur mit Goethe von einem „öffentlich Geheimnis“ sprechen.
Von den zwölf Figuren tragen sieben eine Kopfbedeckung, darunter drei der männlichen und alle vier Frauen. Das ergibt eine Teilung von  sieben zu fünf. Nur wenn man die Konstellation der zwölf Stifter äußerlich exoterisch betrachtet, gelangt man zu dem Zahlenverhältnis acht zu vier. Die Zahlen acht und vier weisen auf das Kreuz hin und stehen damit auch in einem tieferen Sinne für das christliche Mysterium. Sie stehen aber nur für die Todesseite. Die Zahlenkombination sieben zu fünf dagegen hat eine ganz andere Qualität.  Sie steht für Leben und Auferstehung. Sie enthüllt daher die innere, esoterische Bedeutung der zwölf Stifterfiguren.
Verfolgt man diese Beobachtungen weiter, so gelangt man zu der von Rudolf Steiner angegebenen Verteilung der zwölf Meister bei der Einweihung des „dreizehnten“: die sieben Personen mit Kopfbedeckungen entsprechen den sieben heiligen Rishis, die in gewisser Weise die atlantische Weisheit aufbewahrten. Die vier bartlosen Männer ohne Kopfbedeckung entsprechen den vier Vertretern der jungen nachatlantischen Menschheit in ihren aufeinander folgenden Kulturepochen. Graf Syzzo, der einzige Bartträger, ist der Mensch, „der im höchsten Maße die intellektuelle Weisheit seiner Zeit hatte.“ (Rudolf Steiner, 27.09.191). Sein Schwert ist erhoben, aber es steckt in der Scheide. Auf ihn richtet sich der Blick der „regina“ Uta. Er scheint die ganze Zeremonie anzuführen, die hier veranstaltet wird.

Die Bischofsmetropole Naumburg gehörte in der Mitte des 13. Jahrhunderts, als der anonyme „magister operis“, der an der Baustelle der Krönungskirche der französischen Könige in Reims sein Handwerk gelernt und am Dom des Erzbischofs und Erzkanzlers des „sacrum imperium“ in Mainz hervorragende Zeugnisse seiner Kunst hinterlassen hat, dort wirkte, zu einer vergleichsweise „jungen Kulturlandschaft“, während „Nordfrankreich, das Rhein-Main-Gebiet und die Wetterau, jene Stationen, die der Meister vor seiner Ankunft in Naumburg kennen gelernt hatte, (…) zu den Kernregionen des einstigen Frankenreiches (…) gehörten“ (Stefan Tebruk, Katalog Band 1, S 642) und deshalb in ihrer Kulturentwicklung weit fortgeschritten waren.
Das Grenzgebiet zwischen germanischen und slawischen Bevölkerungen wurde erst im 10. Jahrhundert unter den sächsischen Kaisern dauerhaft christianisiert. Die Saale, an der Naumburg liegt, war also lange ein Grenzfluss mit einer besonderen Ausstrahlung nach Osten. Östlich des Flusses erstreckte sich das Markengebiet mit einer deutsch-slawischen Mischbevölkerung. Hier herrschten die Markgrafen von Meißen, deren Burg in der Domstadt Meißen an der Elbe noch weiter nach Osten gerückt war.
Westlich der Saale befand sich dagegen Thüringen, jene Landschaft zwischen Thüringer Wald und Harz, die zum Kern des im 6. Jahrhundert von den Franken unterworfenen Thüringerreiches gehörte. Thüringen war mit seinen Städten Jena, Weimar und Erfurt lange die  geographische und kulturelle Mitte Deutschlands. Aus dieser Landschaft stammt, wie erwähnt, als einziger Stifter der Graf Syzzo.
Schon Thüringen „zeigte (…) im Hochmittelalter einen deutlichen Entwicklungsvorsprung vor den östlich der Saale gelegenen Marken“ (Tebruk, a.a.O.). Während die Mark Meißen zu dem 968 von Kaiser Otto I. gegründetem Erzbistum Magdeburg gehörte, war Thüringen mit seiner Zugehörigkeit zum Erzbistum Mainz viel stärker in der Mitte des Reiches verankert. Naumburg befand sich also genau an dieser Grenze zwischen „entwickeltem“ Thüringerland und „unterentwickeltem“ Meißener Land.
Spirituell gesehen hat die deutsche Expansion in slawisches Siedlungsgebiet noch eine tiefere Bedeutung. Die junge slawische Volksseele soll nach der Geisteswissenschaft der Träger der sechsten nachatlantischen Kulturepoche werden. Damit ist das „Wassermannzeitalter“ der New-Age-Bewegung gemeint. Rudolf Steiner sprach von der Kulturepoche des „Geistselbst“.

Wenn man nun einen Ort sucht, an dem jener Mensch eingeweiht wurde, der für die zukünftige Kulturepoche wie ein Vorbereiter ist, dann liegt es nahe, solch einen Grenzort ins Auge zu fassen, an dem die geballte westliche Kultur auf ihrem Zug nach Osten um das Jahr 1250 zu einem beeindruckenden Höhepunkt gelangte. Und damit fällt der Blick auf Naumburg und seine Umgebung.
Rudolf Steiner sagt in seinem Vortrag vom 27. September 1911, dass die zwölf Männer, die den dreizehnten erzogen und schließlich einweihten, zwar „tief durchdrungen“ von „der Größe des Christentums“ waren, aber „äußerlich als Feinde (…) der Kirche“ galten und er führt aus: „Sie hatten als Ziel, eine Synthesis aller Religionen zu erlangen.“ In diesen Worten leuchtet das Ideal des Wassermannzeitalters auf.
Wenn man von Christen, die der römisch-katholischen Kirche kritisch gegenüber standen, spricht, so kommt man wieder ins thüringische Land. Dort hatte zu Beginn des 13. Jahrhunderts Elisabeth von Thüringen (1207 – 1231), die Gemahlin des Landgrafen Ludwigs IV., gelebt und gewirkt. Sie hielt sich mit ihrem Gemahl nicht nur auf der bekannten Wartburg auf, in der im Jahre 1206, einige Jahre vor ihrer Ankunft, der sagenhafte Sängerkrieg stattgefunden haben soll, sondern oft und gern auch in der wenige Kilometer nordwestlich von Naumburg über der Stadt Freyburg an der Unstrut thronenden Neuenburg, der östlichsten Burg der Landgrafen von Thüringen.
Durch Elisabeth kam 1227 nach dem frühen Tod ihres geliebten Ehemanns der franziskanische Impuls ins thüringische Land. Die Elisabethenkapelle im Nordwestturm des Naumburger Doms und die dort stehende spätromanische Steinplastik der bereits vier Jahre nach ihrem Tod Heiliggesprochenen entstanden, bevor die Bauhütte des Naumburger Meisters in der Stadt an der Saale eintraf und gilt als die erste Darstellung der Heiligen in der Kunstgeschichte. Sie wirkt wie ein Vorbote des franziskanischen Geistes an diesem Ort.
Der neue Reformorden hatte einen der größten spirituellen Meister der Christenheit zum Gründer: Franz von Assisi (1181 – 1226). Die Mitglieder des ersten „Bettelordens“ wären zusammen mit ihrem Haupt als Gruppierung der damals an verschiedenen Orten aufkommenden Armutsbewegung beinahe, wie die südfranzösischen Katharer oder Waldenser, von der römischen Kirche zu Ketzern erklärt worden, wenn der Papst Innozenz III. nicht jenen berühmten Traum von der einstürzenden Lateranbasilika gehabt hätte, die durch Franz rechtzeitig abgestützt wurde, wie es Giotto in einem seiner Fresken in der Oberkirche von Assisi so schön dargestellt hat.
Schon zuvor war mit den Zisterziensern ein bedeutender Reformorden in die unmittelbare Nähe Naumburgs, in das wenige Kilometer südwestlich gelegene (Schul-) Pforta gerufen worden. Der Neubau der Klosterkirche in der Mitte des 13. Jahrhunderts (Grundsteinlegung am 21. März 1251) deutet ebenfalls auf die leitende Hand der Werkstatt des Naumburger Meisters hin, wie im ersten Band des Kataloges von Christoph Brachmann („Der gotische Neubau der Zisterzienserkirche Pforte“, S 663ff) ausgeführt wird.
Die Naumburger Bischöfe meinten es vermutlich also ernst mit dem Christentum, das durch selbstherrliche Kirchenfürsten immer wieder in die Gefahr der Veräußerlichung geriet und deswegen immer wieder „reformiert“ werden musste. Sie „bauten die Pfarrseelsorge in ihrer Diözese auf und hatten damit einen wesentlichen Anteil an der vertieften Christianisierung und kirchlichen Durchdringung dieser deutsch-slawischen Kontaktzone“ (Tebruk, Katalog Band 1, S646).
Dass es sich bei dem Meister von Naumburg um einen Christen handeln könnte, der „als Feind der Kirche“ angesehen wurde, vertrat 1952 der protestantische Theologe Paulus Hinz. Er rechnete ihn der „Sekte“ der Waldenser zu.
Ausgehend von dieser These erschien 1955 in der damaligen DDR der Roman „Der Ketzer von Naumburg“ von Rosemarie Schuder, der bis heute unzählige Male aufgelegt wurde und im Book-Shop des Domes immer wieder nachbestellt werden musste, weil er „wegging wie warme Semmeln“.
Die Aussage Rudolf Steiners, dass die zwölf Eingeweihten, die sich der Erziehung des Jünglings annahmen, „Feinde der Kirche“, also Ketzer gewesen seien, wird durch den großen Erfolg des Romans auch in Teilen der nicht-anthroposophischen Öffentlichkeit  zumindest für den geheimnisvollen „Meister von Naumburg“ gestützt.

Der DDR-Kunsthistoriker Richard Hamann hat im selben Jahr, in dem „Der Ketzer von Naumburg“ veröffentlicht wurde, aufgezeigt, dass es Parallelen zwischen der Passionsdarstellung auf dem Fries am dreiteiligen Westportal der südfranzösischen Kirche Saint Gilles du Gard und der des Naumburger Meisters am Westlettner des Naumburger Domes gibt und wollte dadurch eine Verbindung des Meisters nach Südfrankreich beweisen.
Die südfranzösische Provence und die Languedoc waren im 12. und 13. Jahrhundert die Regionen, in denen neben Italien eine neue Rückbesinnung auf die Wurzeln des Christentums begonnen hatte. Franz von Assisi durchwanderte den damals blühenden Kulturraum Südfrankreichs, die Katharer wurden vom Grafen von Toulouse hofiert, die Waldenser hatten ihr Zentrum in der reichen Kaufmannsstadt Lyon und der Gründer des Dominikanerordens, der Spanier Dominikus von Gusman versuchte, die Ansichten der Ketzer in theologischen Disputationen zu widerlegen.
Weil der spanische Prediger mit dem „Wort“ nicht weiter kam, griffen die Ritter zum Schwert. So kam es zum ersten und einzigen Kreuzzug, den Christen gegen Christen führten. Im Jahr 1209 rief die römische Kirche ein Heer von französischen Rittern und Baronen zusammen und leitete bis 1229 den blutigen „Kreuzzug gegen die Albigenser“.
Am längsten konnte sich die Pyrenäen-Festung Montsegur halten. Eine Armee von 8000 Kreuzfahrern erschien in den ersten Maitagen des Jahres 1243 am Fuße des unzugänglichen Gipfels. Der Widerstand der Burgbewohner wurde erst nach einer mehrmonatigen Belagerung gebrochen. Am 16. März 1244 wurden die 210 Ketzer auf einem gigantischen Scheiterhaufen auf einem Feld ("camp des cramats") vor dem Burgberg bei lebendigem Leib verbrannt.
Ich erwähne dies, weil es immer wieder Schriftsteller gibt, die solch geheimnisvolle Begebenheiten wie die Einweihung des Jünglings in das Gebiet der Pyrenäen verlegen und sie in Verbindung zu den Katharern bringen wollen.
Bereits in den Dreißiger Jahren behauptete Otto Rahn, dass der Kreuzzug gegen die Albigenser in Wirklichkeit ein „Kreuzzug gegen den Gral“ gewesen sei. Die Burg Montsegur identifizierte Otto Rahn mit der bei Wolfram von Eschenbach „munsalvaesche“ genannten Gralsburg. Ausführlich ging Otto Rahn auf die von Burg zu Burg ziehenden südfranzösischen Troubadoure ein.
Die englischen Autoren Lincoln, Baighent und Leigh machten in ihrem Bestseller „Der Heilige Gral und seine Erben“ eine Bruderschaft aus, die ein von der Kirche als Sakrileg angesehenes Geheimnis zu bewahren hatte und ließen viele Fäden in dem südfranzösischen Dorf Rennes-Le-Chateau zusammenlaufen.
Zuletzt schilderte die australische Schriftstellerin Adriana Koulias in ihrem 2004 erschienenen Roman „Temple of the Grail“ (deutsch: 2007) im Stile von Umberto Ecos „Name der Rose“ genau jene Einweihung, von der Rudolf Steiner spricht. Sie verlegt sie in ein Zisterzienserkloster in Sichtweite des Montsegur, wo in unterirdischen Geheimgängen zwölf Männer, welche „die Stillen“ genannt werden, einen Jüngling erziehen und bestimmte Rituale an ihm vollziehen.
Das ist nicht verwunderlich.
Auch die Pyrenäen sind ein Grenzland. Das Reich Karls des Großen erstreckte sich von den Pyrenäen bis zur Elbe. Wie sich an der Elbe germanische und slawische Bevölkerung durchmischen, trafen seit der Westgotenzeit in Südfrankreich und Nordspanien romanische mit germanischen Volkschaften aufeinander und vermischten sich.
Geisteswissenschaftlich ausgedrückt war der Pyrenäenraum dafür prädestiniert, von der vierten nachatlantischen Kulturepoche, der griechisch-lateinischen, zur fünften nachatlantischen Kulturepoche, der germanisch-europäischen überzuleiten. Hier war im Mittelalter lange Zeit die Grenze zwischen christlicher und islamischer Kultur. Die damals viel fortgeschritteneren Moslems übermittelten den Christen die „arabischen“ Ziffern und die exakte Naturwissenschaft, die Grundlagen für unser „fünftes“ Zeitalter.
An einem Pyrenäenpass spielt das altfranzösische Rolandslied, das der Pfaffe Lamprecht im 12. Jahrhundert ins Mittelhochdeutsche übertrug. An dieser Grenze spielt aber auch Wolfram von Eschenbachs zweiter Roman, dessen Titel „Willehalm“ sich auf Wilhelm (Guillaume) von Aquitanien bezieht.

Die Bischöfe Naumburgs gehörten in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu den hervorragenden Reichsfürsten und standen in der Auseinandersetzung der Päpste („welfische Partei“) und dem Kaiser („staufische Partei“) auf der Seite des Stauferkaisers Friedrich II.
Die Staufer waren Anhänger eines romfernen Christentums, wie es in den gleichzeitigen Gralsromanen vertreten wurde. Auch der damals herrschende wettinische Markgraf Heinrich der Erlauchte, der selber als Minnesänger auftrat und dem nach dem Tod Heinrich Raspes IV., des letzten kinderlosen Ludowingers, im Weißenfelser Vertrag von 1249 die Landgrafschaft Thüringen zufiel, war ein Parteigänger Kaiser Friedrichs, heiratete doch sein Sohn Albrecht  die Kaisertochter Margarethe, die den Wettinern als Mitgift das staufische Reichsgut im Pleißenland (Altenburg, Chemnitz, Zwickau) einbrachte.
Unter Heinrich dem Erlauchten „setzte jener glanzvolle Aufstieg des Hauses ein, der als erste große Blütezeit der wettinischen Herrschaft im mitteldeutschen Raum gilt“ (Tebruck, S 650). Im Spätmittelalter gelangte das Haus Wettin zu seiner zweiten Hochblüte, als 1486 dem 23jährigen Friedrich dem Weisen (1453 – 1525) nach dem Tod seines Vaters Sachsen und damit die Kurwürde zufiel. Die Wettiner wurden ab 1521, als der Kurfürst Martin Luther (1483 – 1546) auf die Wartburg bringen ließ, zu Förderern der Reformation. Sachsen-Anhalt gilt bis heute als das „Land der Reformation“.
Hervorzuheben unter den Naumburger Bischöfen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind besonders zwei Persönlichkeiten: der Bischof Engelhard (1206 – 1242) und der Bischof  Dietrich II. (1243 – 1272).
Bischof Engelhard stammte höchstwahrscheinlich aus einem schwäbischen Adelsgeschlecht und war ein treuer Ratgeber Kaiser Friedrichs II, den er zweimal, 1217/18 und 1227/28, bei Kreuzzügen ins Heilige Land begleitete. Unter ihm wurde der Neu- und Umbau des Naumburger Domes 1213 begonnen. Der weit gereiste Bischof war 1233 auch in Ellwangen, wo er die neu erbaute spätromanische Sankt-Vitus-Basilika weihte. Unter ihm fand 1230 auch der lange währende Konflikt zwischen Zeitz und Naumburg ein Ende, der mit der Verlegung des Bistums 1028 begonnen hatte.
Sein Nachfolger, Bischof Dietrich, war ein Halbbruder des wettinischen Markgrafen Heinrich des Erlauchten. Der ehemalige Domprobst wurde nach der Intervention des Markgrafen beim Pabst 1243 auf den Bischofsthron gehoben, obwohl dieser dem ursprünglich vom Domkapitel zum Bischof gewählten angesehenen und gelehrten Magister Peter von Hain zustand, der aber damals in Paris weilte. Obwohl wir nicht viel mehr aus dieser Zeit wissen, kann man ahnen, dass hier innerhalb der Kleriker des Domkapitels zwei Parteien entstanden, die gewiss auch unterschiedliche Auffassungen vom Christentum hatten.
Peter von Hain war einer von sechs Domherren der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, von denen wir wissen, dass sie an einer Universität studiert hatten.
Damals gab es nur zwei Universitäten in Europa: in Italien die vorwiegend auf römisches Recht spezialisierte Universität von Bologna und in Frankreich die weithin berühmte Universität von Paris, die neben der Artistenfakultät auch die drei anderen Fakultäten – Theologie, Philosophie und Medizin – umfasste, und an der Studenten aus vier „Nationen“ studieren konnten. Enno Bünz versucht im ersten Band des Kataloges (S 700 – 710) nachzuweisen, dass Peter von Hain bereits in den 1230-er Jahren in Paris studiert und dort den Magister-Titel erhalten hat.
Außer Peter von Hain taucht in einer Urkunde aus dem Jahre 1246 ein weiterer namentlich genannter „magister“ in Naumburg auf: es handelt sich um den „magister Iohannes dictus Dialectica“, einen geheimnisvollen Mann, der allerdings nicht dem Domkapitel angehörte.
Die Häufung des Magistertitels zu jener Zeit an der Saalestadt „mag (…) als Reflex eines intellektuellen Klimas unter den Domherren zu verstehen sein, die noch vor der Mitte des 13. Jahrhunderts einen europäischen Meister der Bildhauerkunst nach Naumburg geholt haben“ (Bünz, a.a.O. S 708).

Die alten Domschulen waren bis zu Beginn des 13. Jahrhunderts die einzigen Institutionen, die zu einer Zeit, als nicht einmal die Mehrzahl der Geistlichen lesen und schreiben konnte, im Rahmen der sieben Freien Künste Bildung vermittelten. Die berühmteste dieser Domschulen war die Schule von Chartres. An dieser Schule lehrten so berühmte „magister“ wie Johannes von Salisbury, Thierry von Chartres, Bernhardus Sylvestris und vor allem der große Alanus ab Insulis. Ihre Lehren standen ganz in der Tradition Platos.
Die Platoniker gingen von Ideen aus, die sie durchaus noch als reale Wesen wahrnahmen und zum Beispiel als weibliche oder männliche Gottheiten beschrieben. Eine wichtige Stellung in diesem Kosmos der platonischen Ideen nahm zum Beispiel die Göttin „natura“ ein. Solche platonischen Domschulen gab es nicht nur in Frankreich, sondern auch im Gebiet des „heiligen“ ostfränkischen Reiches, so zum Beispiel in Hildesheim oder in Gandersheim, wo im 10. Jahrhundert die berühmte Nonne Roswitha wirkte.
In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts lösten sich die Lehrer der Domschule an der Kathedrale Notre Dame von Paris aus dem Zugriff des Bischofs und gründeten die erste „freie“ Universität. Nun berief man sich nicht mehr auf die Ideen Platos, sondern orientierte sich an den über den arabischen Kulturkreis, vor allem über Spanien, nach Europa zurückgekehrten naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles.
Die Aristoteliker stellten zum ersten Mal genaue Naturbeobachtungen an.
Einen Abglanz dieser Entdeckung der Natur findet sich auch in den Schöpfungen der Bildhauer von Naumburg. Nun findet man nicht mehr symbolisch stilisierte Formen von Fabelwesen, wie an den Kapitellen in den dunklen Zonen der romanischen Dome. An den gotischen Kapitellen kann man in Stein gehauene Pflanzenformen bewundern, die exakt nach Vorbildern aus der Natur gearbeitet sind. Neben Weinlaub und Eichenblättern kann man zum Beispiel Feldahorn-, Hahnenfuß- und Haselnussblätter klar voneinander unterscheiden. Diese botanisch exakten Darstellungen setzen ein naturwissenschaftliches Studium voraus, das nun nicht mehr von einer platonischen Göttin „natura“ ausgeht, sondern die sichtbare Natur zum Gegenstand der Untersuchung nimmt.
Aber auch das Thema der Bewegung kann man in den Werken des Naumburger Meisters wieder finden. Die Säulenheiligen am Westportal der Kathedrale von Chartres schauen noch ruhig und regungslos in eine geistige Welt der Ideen. Innere und äußere Bewegung kommt erstmals in den Steinfiguren der 1209 begonnenen Kathedrale von Reims, an der unser Meister seine Lehrzeit verbrachte, zum Ausdruck. Bewegt sind alle zwölf Stifterfiguren, und zwar in zweifacher Weise: einmal äußerlich, was man an der unterschiedlichen Weise sehen kann, wie die männlichen Stifter zu ihren Schwertern greifen oder wie die weiblichen ihre Gewänder raffen. Andererseits kann man die innere, seelische Bewegung bei einigen Stifterfiguren, zum Beispiel bei Graf Wilhelm oder auch bei der Markgräfin Uta in den Gesichtszügen erleben.
Ein ganz neuer Geist kommt mit den Universitäten auf, der sich schnell in Europa verbreitet und heute unter dem Namen „Scholastik“ zusammengefasst wird.
Diesen Geist dürfen wir auch bei den sieben „Scholastikern“ von Naumburg voraussetzen, von denen zumindest einer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an der neu gegründeten Universität von Paris studiert hat.

Interessant ist nun, dass gerade im Jahr 1243, als der Bischofswechsel in Naumburg stattfand, der „Meister von Naumburg“ in die Stadt an der Saale kam. Hängt das vielleicht mit der Abwesenheit Peter von Hains zusammen? Hat der „magister Petrus“ den „magister operis“ berufen, oder zumindest empfohlen?
Im Jahre 1243 legte Kaiser Friedrich II. in einer Urkunde fest, dass der östliche Teil der Landgrafschaft Thüringen im Falle des kinderlosen Ablebens des Ludowingers Heinrich Raspe an den Markgraf von Meißen übergehen sollte. Als der Landgraf 1247 tatsächlich kinderlos starb, trat der Erbfall ein und Markgraf Heinrich III. von Meißen, der „Erlauchte“, wollte das Lehen übernehmen, wogegen sich allerdings die Witwe des letzten Ludowingers, Jutta, wehrte.
Erst im Vertag von Weißenfels wurde Heinrichs Anspruch bestätigt. Man kann annehmen, dass der Halbbruder des Naumburger Bischofs erst zu diesem Zeitpunkt die Herrschaft in Thüringen antrat, auch wenn es in der Folge bis 1268 weiterhin zu Erbstreitigkeiten kam.
Das Jahr 1243 ist nach dem eben Ausgeführten von besonderer Bedeutung für die Naumburger Kulturlandschaft: Es trat ein Bischofswechsel ein, es wurde ein Thronwechsel vereinbart und der Naumburger Meister kam in die Stadt an der Saale. In den folgenden sieben Jahren schuf er als Architekt und Bildhauer einen Sakralraum, der seinesgleichen in ganz Europa sucht: den Westchor des Domes.
In diesen sieben Jahren dürften sich an einem Ort, den Rudolf Steiner 1911 in Neuchatel noch nicht bekannt gegeben hat, dessen Bekanntgabe er jedoch „für eine nahe Zukunft“ ankündigte, die zwölf „hervorragenden Individualitäten“ um die Erziehung des Jüngling gekümmert haben. „Dieser Dreizehnte wuchs ganz und gar auf in der Pflege und Erziehung der Zwölf, und er erhielt von jedem an Weisheit, soviel ihm jeder nur geben konnte. Mit der größten Sorgfalt wurde dieser Dreizehnte erzogen, und es werden alle Einrichtungen so getroffen, dass niemand als diese Zwölf einen Einfluss auf ihn ausüben konnten. Er wurde von der übrigen Welt abgesondert“ (a.a.O. S 62).
Rudolf Steiner spricht auch von einem „Kollegium der Zwölf“, ja von einer „hochgeistigen Loge“. Er deutet an, dass die Pflege des Jünglings an einem verborgenen Ort stattgefunden haben muss, „abgesondert von der Welt“. Das kann natürlich nicht in einer Stadt gewesen sein, in der in diesen Jahren eine rege Bautätigkeit herrschte.
Der Westchor von Naumburg mit seinen geheimnisvollen Stifterfiguren deutet zwar auf das Kollegium der Zwölf hin, aber nur in verschlüsselter Form…

Die „sorgfältige Erziehung“ muss woanders stattgefunden haben!

Und da geht unser Blick über die Saale hinüber einige Kilometer nordwestlich. Dort erhebt sich über der Stadt Freyburg die bereits erwähnte „Neuenburg“. Während die Wartburg an der Westgrenze der Landgrafschaft Thüringens stand, bewachte die mächtige Neuenburg die Ostgrenze.
Beide Burgen gehörten dem Landgrafen Hermann I. von Thüringen, dessen „Musenhof“ zwischen 1180 und 1217, seinem Todesjahr, die berühmtesten mittelalterlichen Dichter anzog. Walter von der Vogelweide rühmte den Landgrafen vor anderen Herren und nannte ihn „der Dürnge bluome“, die Blume von Thüringen.
Heinrich von Veldecke hat seinen Eneasroman damals im Auftrag Hermanns gedichtet. Das Epos erzählt im Anschluss an Vergil die Gründung Roms durch den Trojaner Aeneas in mittelhochdeutschen Versen. Herbort von Fritzlar dichtete im Auftrag des Landgrafen „Das Liet von Troye“, Albrecht von Halberstadt die mittelhochdeutsche Fassung von Ovids „Metamorphosen“ und Wolfram von Eschenbach  den „Willehalm“.
Diese vier Dichtungen nennen den Landgrafen ausdrücklich als Auftraggeber. Ob sie sich dabei auf der Neuenburg oder vielleicht eher auf der berühmteren Wartburg aufgehalten haben, ist nicht klar. Die Sage vom „Sängerkrieg“ lässt vermuten, dass die Wartburg das eigentliche Zentrum war.
Das berühmte Bild vom Sängerkrieg aus der großen Heidelberger Liederhandschrift zeigt den Landgrafen Hermann mit seiner Gemahlin Sophia und die sechs „Sänger“ Heinrich der Schreiber, Walter von der Vogelweide, Reinhard von Zweter, Wolfram von Eschenbach, Biterolf und Heinrich von Ofterdingen. Außerdem ist der Magier „Klingsor von Ungarland“ zu sehen, der damals (1206) auch die Geburt der Heiligen Elisabeth in seinem Heimatland vorausgesagt haben soll, was dann auch ein Jahr später, am 7. Juli 1207 eintraf.
Auf dem Bild hält der Landgraf Hermann ganz ähnlich wie Graf Syzzo im Naumburger Westchor das Schwert in der Scheide hoch, was ihn als Richter im Streit kennzeichnet.
In der Sage geht es vornehmlich um Heinrich von Ofterdingen, der in seinem Lied den Herzog von Österreich als „Sonne“ über alle anderen Fürsten  erhob. Das löste den Streit aus und so beschlossen die Mitsänger, dass Heinrich sterben sollte. Dieser begab sich jedoch in den Schutz der Landgräfin Sophia. Nur mit Hilfe des von Ungarn herangeeilten Zauberers Klingsor konnte der Streit geschlichtet werden und Heinrich von Ofterdingen behielt sein Leben.
Diesen Sänger Heinrich von Ofterdingen machte Friedrich von Hardenberg (Novalis) wenige Jahre vor seinem Tod zum Titelhelden eines unvollendeten Romans. Novalis schrieb einen „große(n) Teil des Ofterdingen“ nach der Aussage seines Freundes Ludwig Tieck „an einem einsamen Orte in der güldenen Aue in Thüringen, am Fuße des Kyfhäuser Berges“. In dem Roman wird Kaiser Friedrich II. „als das Muster eines Königs“ dargestellt.
Novalis lebte seit 1796 mit Unterbrechungen in der Stadt Weißenfels an der Saale, die im unmittelbaren Umkreis von Naumburg, Freyburg und Schulpforta liegt. In dieser Stadt ist er am 25. März (Mariä Verkündigung) 1801 mit nicht einmal 29 Jahren gestorben.

Während die Wartburg bis heute im Glanze der Öffentlichkeit steht, tritt die Neuenburg eher in den Hintergrund. Nur Heinrich von Veldecke erwähnt die „Neuenburg an der Unstrut“ im Epilog seiner „Eneit“.
Wie über die Wartburg hat sich auch über die Neuenburg eine Sage gebildet, die die Brüder Grimm in ihre Sagensammlung aus dem Jahre 1816 aufgenommen haben: „Die Mauer von Neuenburg“.
Als im Jahre 1172 der Kaiser Barbarossa auf der Neuenburg weilte, soll er zwar den Bau der Burg gelobt, aber die Mauer als allzu schwach bemängelt haben. Der damalige Landgraf Ludwig II., der „Eiserne“ soll ihm darauf erwidert haben, dass er innerhalb von drei Tagen eine stärkere Mauer errichten lassen könne, wenn er nur wolle. Barbarossa war ungläubig und widersprach: „Das wäre ja ein Wunder. Selbst wenn alle Bauleute des Reiches hier versammelt wären, könnte das nicht gelingen.“
Der Landgraf schickte daraufhin Boten zu allen Grafen und Herren Thüringens  und gebot ihnen, dass sie zur Nacht mit einem kriegerischen Aufgebot vor die Neuenburg rücken sollten. Am Morgen standen die Männer mit ihren Schwertern rund um den Graben der Burg. Der Landgraf weckte den Kaiser und sagte beim Blick durch das Fenster zu ihm: „Treue Mannen sind die beste Mauer.“ Der Kaiser musste zugeben: „Fürwahr, eine besserer Mauer habe ich zeit meines Lebens nicht gesehen.“
Diese Sage von der lebendigen Mauer aus treuen Vasallen zeigt etwas vom Charakter der Neuenburg an. Sie ist nicht durch eine tote Mauer aus Stein, sondern durch eine „lebendige Mauer aus treuen Mannen“ geschützt. Im Schutze einer solchen Mauer kann auch ein „Programm“ ablaufen, das durch eine Mauer des Schweigens „von der übrigen Welt abgesondert“ werden musste, wie es die Erziehung des Jünglings erforderte…

Natürlich könnte man sich auch eine streng von der Welt geschiedene Mönchsklausur als Ort dieser Erziehung vorstellen, wie es die Schriftstellerin Adriana Koulias in ihrem historischen Roman „Der Tempel des Grals“ tut. Dann käme in unserer Region am ehesten das Zisterzienser-Kloster Pforte in Frage, in dem ja in der Tat später berühmt gewordene Persönlichkeiten „erzogen“ wurden, wie zum Beispiel im 18. Jahrhundert der aus Quedlinburg stammende Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 – 1803) oder im 19. Jahrhundert Friedrich Nietzsche (1844 – 1900).
Es ist aber nicht anzunehmen, dass alle zwölf Persönlichkeiten, die die Erziehung des besagten Jünglings zu besorgen hatten, Mitglieder des Zisterzienserordens waren, was in jener Zeit Voraussetzung für den Eintritt in die Klausur war.
Es ist viel wahrscheinlicher, dass unter den zwölf zumindest einer war, der dem Dominikanerorden angehörte. Rudolf Steiner sagt ausdrücklich von dem „Zwölften“: „Er besaß verstandesmäßig das ganze Wissen seiner Zeit“ (a.a.O. S 61).

Mit dieser Charakterisierung kann im Grunde nur einer gemeint sein: Thomas von Aquin (1225 – 1274). Der Dominikaner, der in seiner „Summa Theologica“ das gesamte damals verfügbare Wissen zusammenfasste, war 1245 nach Paris gekommen, wo er im Dominikanerkloster Saint Jacques studierte. In den Jahren 1248 bis 1252 weilte er als Schüler des Albertus Magnus in Köln. Von 1256 bis 1259 lehrte er an der Universität von Paris. Wo er von 1252 bis 1256 war, weiß man nicht sicher.

Nun gibt es auf der Neuenburg eine heute noch erhaltene Pfalzkapelle, die Georg Dehio „zum Besten und Bezeichnendsten (…), was uns von der höfischen Kunst der Hohenstaufenzeit geblieben ist“ rechnet. Sie ist in den 1170er und 1180er Jahren als Doppelkapelle ausgebaut worden.
Das Gewölbe der oberen Kapelle wird von einer reich verzierten Mittelstütze getragen, die aus vier um einen quadratischen Kernpfeiler gruppierten Säulen besteht. „Die Ornamentik von Kapitellen und Kämpfern besitzt in entsprechenden Formen der Westvorhalle der Kölner Andreaskirche sehr auffällige Parallelen. Nach dort verweisen auch die bekannten ‚gezackten’ Gurtbögen, während die hängenden Schlusssteine schon fast Allgemeingut der niederrheinischen Architektur jener Jahre waren. Sie belegen (…) die engen familiären Kontakte der Landgrafenfamilie zum niederrheinischen Raum“ ((DKV-Kunstführer Nr. 516: Schloss Neuenburg, vierte erweiterte Auflage 2008, S 18).
Diese Kapelle wird im Jahre 1458/59 als „Elysabethin Capelln“ bezeichnet und weist daher auf die Landgräfin Elisabeth hin, deren Gebeine am 1.Mai 1236 im Beisein Kaiser Friedrichs II. und Heinrichs Raspes IV. in Marburg „erhoben“ wurden.
Heinrich Raspe war der dritte Sohn von Landgraf Hermann I. und seiner Gemahlin Sophia und somit der jüngere Bruder Ludwigs IV., des Gemahls von Elisabeth, der 1227 in Bari an einer ausgebrochenen Seuche gestorben ist. Heinrich Raspe war zunächst ein treuer Vasall der Staufer, wechselte aber dann im Jahre 1243  auf Betreiben des Mainzer Erzbischofs Siegfried III. von Eppstein (1194 – 1249) die Seiten. Dieser einflussreiche Kirchenfürst „instrumentalisierte“ Heinrich, machte ihn zum Exponent der antistaufischen Partei im Reich und ließ ihn in Veitshöchheim bei Würzburg 1246 zum Gegenkönig wählen. „Siegfried III. war daher maßgeblich am Untergang der staufischen Dynastie beteiligt“ (Wikipedia).
Innozenz IV., der 1243 zum Papst gewählt worden war,  bezichtigte Friedrich II. auf dem allgemeinen Konzil von Lyon 1245 „des Eidbruchs, der Häresie, des Sakrilegs und der Unterdrückung der kirchlichen Freiheit“ (Wikipedia) und belegte den Kaiser mit dem Kirchenbann. Der Kampf zwischen „Guelfen“ und „Ghibellinen“ begann wieder und tobte vor allem in Italien. Rudolf Steiner spricht mit Recht von einer „kurzen Zeit der Verfinsterung“ in der Mitte des 13. Jahrhunderts.
In den Wirren, die ab 1243 im Reich begannen, geriet die Neuenburg für ein paar Jahre aus dem Blickfeld der großen Politik. Hier konnte nun die Erziehung des Jünglings ungestört stattfinden, bevor 1249 mit Heinrich dem Erlauchten ein neuer Herr auf der Burg einzog.
Am 13.Dezember 1250 starb Friedrich II in eine Zisterzienserkutte gehüllt auf Castel Fiorentino in der Nähe des Michaelheiligtums des Monte Gargano am Fieber. Obwohl Papst Innozenz IV., der noch bis 1254 lebte, und seine Nachfolger die letzten Staufer weiter verfolgten und keine Ruhe gaben, bis das Geschlecht  mit dem letzten männlichen Nachkommen, dem 16jährigen Konradin, der am 29. Oktober 1268 auf dem Marktplatz von Neapel hingerichtet wurde, ausgelöscht war, so war doch 1250 der stärkste Gegner der römischen Kirche geschlagen. Etwa gleichzeitig endete die Zeit der geistigen Verfinsterung.
Nun erst, „nach Ablauf der kurzen Zeit der Verfinsterung“ (Rudolf Steiner, S 59) konnte die Einweihung des Jünglings geschehen.

Die Obere Kapelle der Neuenburg erscheint dafür als geeigneter Ort.

Sie wurde von kölnischen Baumeistern errichtet, denn die Landgrafen von Thüringen hatten enge Verbindungen zum Erzbistum. Die größte Stadt des Reiches war in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wiederholt die Wirkensstätte des Albertus Magnus (um 1200 – 1280).
Der im schwäbischen Lauingen an der Donau geborene Albert trat 1223 in den Dominikanerorden ein und absolvierte sein Noviziat im Kloster in der Stolkgasse in Köln, „wo er auch das Studium der Theologie aufnahm und zum Priester geweiht wurde“ (Wikipedia). 1243 ging Albertus für fünf Jahre an die Universität von Paris, wo er 1245 den Magister in Theologie erwarb. Damals schloss sich ihm Thomas von Aquin als Schüler an. 1248 ging er mit Thomas nach Köln. „Unter ihm entwickelte die Kölner Klosterschule einen hervorragenden Ruf und zog Studierende aus ganz Europa an. (…) Wahrscheinlich war er am 15. August 1248 Zeuge der Grundsteinlegung des Kölner Doms“ (Wikipedia). Seine Gebeine ruhen seit der Auflösung des Dominikanerklosters in einer der zwölf großen romanischen Kirchen Kölns, in St. Andreas.
Die Obergeschosskapelle von Neuenburg ist ein beeindruckendes Bauwerk, so schlicht sie auch zunächst erscheinen mag. Das Gewölbe wird von elf schwarz glänzenden Säulen getragen. Dabei befinden sich vier Säulen in der Mitte und sieben an den Wänden. Die zwölfte Säule fehlt, weil an der Ostseite der Wandaltar steht. Jede Säule wird bekrönt von einem in Gold gefasstem Kapitell. Insgesamt zählt man zwölf solcher Kapitelle, weil sich auch über dem Altar ein Kapitell befindet, während die dazugehörende Säule fehlt. Die Kapitelle sind vor allem mit Pflanzenmotiven verziert. Wenn man aber genauer hinschaut, entdeckt man zwischen den Pflanzenformen überall Tiere.
Wieder haben wir ein Teilungsverhältnis von sieben zu vier plus eins. Das entspricht genau der Differenzierung der zwölf Weisen, wie sie Rudolf Steiner im Vortrag vom 27.9.1911 angibt. Und es entspricht, wie wir festgestellt haben, der „esoterischen“ Aufteilung der Stifterfiguren im Westchor des Naumburger Doms.
Die vier Joche mit ihren Kreuzrippengewölben werden voneinander getrennt durch die „gezackten“ Gurtbögen, die der Kapelle ein maurisches Aussehen verleihen. Sie erinnern an die mozarabischen Kirchen in Nordspanien, dem Grenzgebiet zwischen Christentum und Islam.
Im Osten der Kapelle fällt das Licht durch zwei lilienförmige Fenster in den Raum.
Diese Einzelheiten, die Lilienfenster und der mozarabische Baustil geben der Kapelle eine besondere Atmosphäre. Es ist die Stimmung jenes christlich-islamischen Grenzgebietes zwischen Frankreich (Lilie) und Spanien (mozarabische Bauform), das zu jener Zeit der Vermittlungsraum der aristotelischen Naturwissenschaft war.

In der Südostecke der Kapelle befindet sich ein Kapitell, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es zeigt einen Adler, der sich über einen Hasen beugt.
Der Adler gilt als Sonnensymbol, der Hase als Mondsymbol.
Das wunderschöne Fotobuch des Fotografenehepaars Schütze, das es im Museums-Shop zu kaufen gibt (Freyburg Unstrut 1207), fügt jeder Schwarz-Weiß-Fotographie einen mittelalterlichen Text bei. Beim Foto des Adlerkapitells steht eine Stelle aus dem „Wiener Physiologus“ (um 1120) mit folgendem Wortlaut (Übersetzung):
„Wenn der Adler alt wird, so steigt er hoch in die Luft, bis seine Federn im Sonnenlicht verbrennen. Dann fällt er zurück in sein Nest, wo ihn seine Jungen pflegen, bis er das alte Federkleid wiedergewinnt. Genauso sollen wir mit den Gnaden des Heiligen Geistes gebrannt werden, dass unsere Sünden verdorren müssen, bis wir Erneuerung für die Ewigkeit erfahren.“
Dieser für die Tierdarstellungen des Mittelalters, die immer symbolisch gemeint waren, wichtige Text deutet mit Ausdrücken wie „verbrennen“, „Erneuerung“ „Gnaden des Heiligen Geistes“ auf eine einschneidende menschliche Erfahrung hin, die man auch „Einweihung“ nennen kann.
Der Adler ist auch das Symboltier des Evangelisten Johannes Mit diesem Namen bezeichnet die Tradition den Autor des vierten, immer als besonders geistig angesehenen Evangeliums und der „Geheimen Offenbarung“. Der Jünger, „den der Herr lieb hatte“, war der einzige Schüler, der seinem Meister bis zum bitteren Ende treu blieb.
Der Adler hat den flüchtigen Hasen der irrenden Gedanken gefasst, um ihn mit dem „Heiligen Geist“ zu inspirieren.
„Die Doppelkapelle ist (…) in engstem baulichen Zusammenhang mit dem seit etwa 1170/75 errichteten  und jene überlagernden Palas entstanden. Neben der Obergeschosskapelle befand sich ein profaner Raum. (…) Insbesondere die gegenüber den schlichteren Formen der Untergeschosskapelle architektonisch reich ausgestattete herrschaftliche Privatkapelle des landgräflichen Burgherrn unterstreicht die bedeutsame, fürstliche Stellung innerhalb der Reichspolitik, die Hermann I. bzw. Ludwig IV. und Elisabeth innehatten“ (Schlossführer, a.a.O., S 17f).
An diesem „von der übrigen Welt abgesonderten“ Ort kann also von den Räumlichkeiten und von der Lage her das geschehen sein, wovon Rudolf Steiner im Vortrag vom 27. September 1911 spricht.
Sechs Magister sind in den überlieferten Urkunden für den Umkreis des Naumburger Domes in dieser Zeit bezeugt, dazu ein nicht zum Domkapitel zählender siebenter „magister Iohannes dictus Dialektika“. Ist es nicht denkbar, dass die fehlenden fünf für eine bestimmte Zeit von außerhalb dazu stießen, vielleicht aus der Kölner Domschule? Wer kann heute noch feststellen, ob Albertus Magnus und Thomas von Aquin tatsächlich die ganze Zeit von 1248 – 1252 in Köln verbracht haben? Wäre es nicht denkbar, dass sie die Domschule für mehrere Wochen im Jahr einem Präzeptor überließen und gleichsam in den „Semesterferien“ in „geheimer Mission“ nach Thüringen reisten?
Der einzige Stifter, der durch sein Wappentier auf Thüringen und damit auf die nahe gelegene Neuenburg verweist, Graf Syzzo, nimmt auch im Westchor, wie erläutert, eine besondere Stellung ein. Durch das erhobene Schwert erscheint er – wie der Landgraf Hermann I. im Sängerstreit – als Richter im Wettstreit der verschiedenen Weltanschauungen. Als Schützling des Erzengels Michael ist er vor den anderen auch geistig besonders ausgezeichnet.



Ob Rudolf Steiner die Neuenburg persönlich besucht hat, ist nicht überliefert. Aber er beschäftigte sich seit dem Jahre 1889 mit Friedrich Nietzsches Schriften. Er war in seiner Weimarer Zeit „mehrere Wochen“ in Naumburg, um den „Umnachteten mit der wunderbar schönen Stirne“ zu besuchen, am neu entstehende Friedrich-Nietzsche-Archiv mitzuarbeiten und im Auftrag der Schwester Elisabeth Förster Nietzsche die Bibliothek des Philosophen zu sichten und zu ordnen.. Der „geistbefeuerte Kritiker seiner Zeit“, den „die eigene Kritik krank machte“ (Rudolf Steiner, Mein Lebensgang, 18. Kapitel) war damals Gegenstand eines Buches von Rudolf Steiners, das 1895 in Weimar gedruckt wurde: “Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit“.
Rudolf Steiner, der von seiner Begegnung mit dem kranken Philosophen „tief ergriffen, ja erschüttert“ war, schreibt in seiner Autobiographie selber über dieses frühe Werk: „Ich konnte in meinen Gedanken nur stammeln von dem, was ich damals geschaut.“
Bei der Art, wie Rudolf Steiner die Begegnung mit dem „Umnachteten“ in seinem „Lebensgang“ beschreibt, kann man an die Erfahrung denken, die der Jüngling des Mittelalters an jenem unbekannten Ort in Europa bei der Einweihung durchgemacht hat:
„Und so stand vor meiner Seele: Nietzsches Seele wie schwebend über seinem Haupte, unbegrenzt schön in ihrem Geisteslichte; frei hingegeben geistigen Welten (…) aber gefesselt an den Leib. (…) Ich hatte vorher den Nietzsche gelesen, der geschrieben hatte; jetzt hatte ich den Nietzsche geschaut, der aus weit entlegenen Geistgebieten Ideen in seinem Leib trug, die noch in Schönheit schimmerten, trotzdem sie auf dem Wege ihre ursprüngliche Leuchtkraft verloren hatten.“
Das erinnert sehr an jene Adlersymbolik aus dem Wiener Physiologus: die Seele steigt wie ein Adler hoch hinauf bis zum Sonnenlicht. Die Federn verbrennen und der Vogel stürzt zurück auf die Erde, wo er von seinen Jungen gepflegt werden muss. Nun kann sich das Federkleid „für die Ewigkeit“ erneuern.
Rudolf Steiner sieht in Friedrich Nietzsche eine „Seele, die aus früheren Erdenleben reiches Lichtgold brachte, es aber nicht ganz in diesem Leben zum Leuchten bringen konnte“ (Mein Lebensgang).
Wer diese Seele in früheren Erdenleben war, gibt er in seinen zahlreichen Karmavorträgen aus dem Jahr 1924 nicht preis. Dort nennt er zwar unter vielen anderen die späteren Inkarnationen Walters von der Vogelweide (GA 238, Vortrag vom 7. September 1924) und Heinrichs von Ofterdingen (GA 238, Vortrag vom 18. September 1924), die alle an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wiedergeboren waren, aber er verliert kein Wort über Friedrich Nietzsche, was umso auffallender ist, als er seine Bedeutung etwa gleichzeitig in seiner Autobiographie mit so bemerkenswerten Worten hervorhebt.
Die Individualität Friedrich Nietzsches begleitete Rudolf Steiner vom Jahre 1889, als er zum ersten Mal in einer seiner Schriften liest, bis ins Jahr 1924/25, wenn er sein Nietzsche-Erlebnis im „Lebensgang“ schildert. Noch unmittelbar vor dem Vortrag von Neuchatel befand sich Rudolf Steiner zusammen mit seiner späteren Frau Marie von Sievers „In Turin (…) auf Nietzsches Spuren“ (Brief an Johanna Mücke vom 29. September 1911).

In Neuchatel, das von den Deutschschweizern Neuenburg genannt wird, enthüllt Rudolf Steiner vor einem kleinen Kreis von Menschen zum ersten Mal, wer der Jüngling war, der da um das Jahr 1250 „an einem Orte in Europa, von dem noch nicht gesprochen werden darf“ eingeweht wurde.
Der Jüngling wurde, so führt er aus, 100 Jahre später, im Jahre 1378 als der legendäre Christian Rosenkreutz wiedergeboren, der nach der 1604 verfassten und 1614 veröffentlichten „Fama Fraternitatis“ über 100 Jahre alt wurde und im Jahre 1484 starb.
Die „Fama“ ist eine von drei Rosenkreuzerschriften, die den Orden und ihre Ziele im damaligen Europa zwischen 1614 und 1616, unmittelbar vor dem Dreißigjährigen Krieg bekannt machten. Die Titel der anderen beiden Schriften lauten „Confessio Fraternitatis“ und „Chymische Hochzeit: Christiani Rosencreutz. Anno 1459“. Die Originaltexte finden sich in der Universitätsbibliothek Salzburg („Confessio“) und in der Herzog-August Bibliothek Wolfenbüttel („Fama“ und „Chymische Hochzeit“). In Wolfenbüttel hat sie Johann Gottlieb Herder entdeckt und so gelangten sie nach Weimar auch in die Hände von Goethe, der, angeregt durch die Lektüre, im Jahre 1785 sein Gedichtfragment „Die Geheimnisse“ schrieb. Dort erscheint ebenfalls eine Gemeinschaft von zwölf Männern, die in einem weltabgewandten „sanft geschwungenem Tal“ in einem Kloster leben. Auch von einem Jüngling ist die Rede. Er ist „der Erwählte (…), den sich das Aug’ der Vorsicht ausersah“ (V242). Die Männer des Klosters nennen ihn „Humanus“.
Rudolf Steiner weist im Vortrag von Neuchatel auch auf die gleichzeitig im Jahre 1785 anonym in Altona erschienene Schrift „ Die geheimen Figuren der Rosenkreuzer“ des Hinricus Madathanus Theosophus hin.  Sie besteht aus zwei Heften mit je einer Abhandlung und 13 bzw. 12 Tafeln mit Figuren in Folio. Auf einer dieser Tafeln, die den „Mons Philosophorum“, den Berg der Philosophen symbolisiert, ist die Jahreszahl 1604 eingezeichnet, also das Jahr, in dem die „Fama“ verfasst wurde.
Das ist insofern wichtig, weil dieses Jahr auf den 120 Jahre früher erfolgten Tod Christian Rosenkreutz’ verweist und weil dadurch der sechste Artikel der Bruderschaft erfüllt wird, in dem es heißt: „die Brüderschafft sol ein hundert Jahr verschwiegen bleiben.“ Richard van Dülmen, der die drei Schriften nach den Salzburger und Wolfenbütteler Originalen 1973 in einer textkritischen Fassung herausgab, ergänzt in einer Fußnote: „Später heißt es richtig 120 Jahre“.
Auf dieses „Gesetz der hundert Jahre“ weist auch Rudolf Steiner in seinem Vortrag hin. Dafür gibt es zwei Gründe. Den einen formuliert er so: „Heute kann zum Beispiel äußerlich nur von solchen Geschehnissen gesprochen werden, welche hundert Jahre zurückliegen, denn das ist die Zeit, welche jeweils verflossen sein muss, bevor davon äußerlich gesprochen werden darf. Die Versuchung ist zu groß für die Menschen, einer solchen ins Persönliche gezogenen Autorität – was das Schlimmste ist, was es gibt – fanatische Heiligenverehrung entgegenzubringen“ (a.a.O. S 66). Der andere Grund hängt mit den „okkulten astralen Attacken“ zusammen, „die fortwährend auf eine solche Individualität gerichtet sein würden.“
In der Tafel vom „Mons Philosophorum“ finden sich auch die beiden Symboltiere aus der Neuenburger Kapelle wieder: der Adler und der Hase: Ganz unten im Bild springt ein rotbrauner Hase in seinen Bau, in der Mitte der Tafel sitzt ein weißer Adler auf dem Schweif eines Löwen. Die drei Tiere Hase, Löwe und Adler sind so angeordnet, dass sie sich auf der Mittelachse des Bildes übereinander befinden. Ein wenig unterhalb des Berggipfels steht am schwindelnden Abgrund ein Häuschen, aus dessen Kamin Rauch aufsteigt. Den Zugang zum Haus und zum Gipfel versperren zwei kreisrunde Mauerwälle. Den Eingang zum ersten Wall, der offen steht, bewacht ein alter nackter Mann mit einem langen Bart, den Eingang zum zweiten Wall, der verschlossen ist, der Löwe und der Adler. Aus einer seitlichen Höhle schaut ein Feuer speiender Drache heraus.
Es ist nicht leicht, zu dem Häuschen auf dem Berg zu gelangen. Viele Stufen müssen überwunden werden, wie in einer anderen Bildertafel aus dem Rosenkreuzerzusammenhang zu sehen ist, die 1616 in Augsburg veröffentlicht wurde, die Cabala des S. Michelspacher. Auch hier ist ein Berg zu sehen, allerdings lange nicht so hoch wie der mons philosophorum. Auch findet sich hier das Haus nicht in der Nähe des Gipfels, sondern im Inneren des Berges, in das man hineinschauen kann. Auch hier folgen die Adepten wieder springenden Hasen. Auch hier verschwindet einer der beiden Hasen in seiner Höhle. Der Weg zum unterirdischen Tempel führt über die sieben Stufen des alchemistischen Prozesses. Dieser entspricht den sieben Stufen des „rosenkreuzerischen Schulungsweges“, wie sie Rudolf Steiner am 20. Oktober 1906 (GA 96) beschrieb. An dessen Ende steht die Einweihung im Heiligtum.

Am Pfingstsonntag 2010 waren Andrea und ich zum ersten Mal an der Saale mit dem Fahrrad unterwegs. Auf gut ausgebauten Fahrradwegen fuhren wir westlich an Naumburg vorbei, wobei uns die Türme des Doms von weitem grüßten. Ich wollte eigentlich bis Jena kommen. Aber unsere Kraft reichte nur bis Bad Kösen. Am Pfingstmontag radelten wir dann in die entgegengesetzte Richtung. Diesmal war Weißenfels mein Ziel, aber wir kamen bloß bis zu dem Dörfchen Leißing. Was eigentlich mein Ziel war, weiß ich nicht. Irgendetwas trieb mich an. Doch damals kamen wir nicht an. Beide Male mussten wir vorzeitig abbrechen.
Im August 2010 war Andrea alleine bei ihrer Mutter zu Besuch, da ich im Schwarzwald in der Kur weilte. Sie hatte das Fahrrad mitgenommen und unternahm auf eigene Faust eine Tour. Ich weiß nicht, welches Ziel sie hatte, aber sie gelangte schließlich zur Neuenburg. Damals war gerade eine Art Mittelalterfest auf dem Gelände der Burg, so dass Andrea sich fühlte, als wäre sie ins Mittelalter zurückversetzt. Sie erzählte mir später begeistert von ihren Erlebnissen. Sie verbrachte mehr als drei Stunden auf der Neuenburg.
So beschlossen wir dieses Mal, die Neuenburg gemeinsam zu besuchen. Als wir am Montag, den 15. August dorthin kamen, war die Burg verschlossen. So fuhren wir weiter nach Memleben, bestiegen den Kyffhäuser und besuchten Quedlinburg. Erst am Mittwoch, den 17. August kamen wir wieder nach Neuenburg und diesmal konnten wir hinein. Ich spürte sofort die besondere Stimmung dieses Ortes und konnte mich von dem Obergeschoss der Doppelkapelle gar nicht mehr trennen. Auch Andrea war begeistert, denn diese Kapelle hatte sie bei ihrem ersten Besuch noch nicht gesehen. Sie war nur bis zur Unterkapelle vorgedrungen.
Während ich ewig auf der Suche bin, scheint Andrea immer alles zu finden. Sie hat auf unserer diesjährigen Pilgeretappe zum Beispiel meine wertvolle Gleitsichtbrille wieder gefunden, die ich auf einem Irrweg im Gestrüpp verloren hatte. So sage ich oft im Spaß über sie, wenn jemand etwas verloren hat: Andrea findet alles…