Freitag, 7. Oktober 2016

Nero – eine Ausstellung in der ehemaligen Kaiserstadt Trier 2016 und der Beginn der Karma-Forschung in der ehemaligen Kaiserstadt Wien 1889


Das Schicksal Kaiser Neros (37 – 68 n. Chr.) und des habsburgischen Kronprinzen Rudolf von Habsburg (1858 – 1889), die beide beinahe auf den Tag genau in ihrem 31. Lebensjahr durch Selbstmord endeten, beschäftigt mich weiter. Ich habe eben den fünften Vortrag aus dem Zweiten Band der „Esoterischen Betrachtungen karmischer Zusammenhänge“ (GA 236) vom 27. April 1924 wieder gelesen, in dem Rudolf Steiner – nach mindestens 35 Jahren Geistesforschung – zum ersten Mal über diese Individualität spricht. In seinen einleitenden Worten berührt mich sein Appell an den Enthusiasmus, das Wunderbare im Alltäglichen zu bemerken:
„Das ist es ja, wonach von diesem Rednerpulte aus so oft der Seufzer ertönt ist: Man möge innerhalb anthroposophischer Kreise Enthusiasmus haben für das Suchen, Enthusiasmus haben für das, was eben im anthroposophischen Streben drinnenliegt. Und dieser Enthusiasmus muss wirklich damit beginnen, das Wunderbare in der Alltäglichkeit (kursiv: JS) wirklich als etwas Wunderbares zu ergreifen.“
Dieser  „Enthusiasmus“ für die kleinen Wunder jeden Tages, den hier Rudolf Steiner dreimal "seufzend" beschwört, ist für mich im Grunde der Kern allen anthroposophischen Strebens. Denn „Dann wird man eben (…) erst versucht sein, zu den Ursachen, zu den tiefer liegenden Kräften zu greifen, die dem uns umgebenden Dasein zugrunde liegen.“ (Ausgabe Dornach 1988, S 83)
Die Nero-Ausstellung, die ich am „Tag der Deutschen Einheit“ mit meiner russischen Freundin in der einstigen Kaiserstadt Trier erleben durfte, wirkt mächtig in mir fort. 
Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, den Katalog, den ich mir dort gekauft habe, zu studieren. Vor mir liegt das erste Buch, das die vorgestern (am 4.10.) mit 86 Jahren in Wien verstorbene deutsch-österreichische Historikerin Brigitte Hamann im Jahre 1978 über den „Kronprinz Rudolf“ verfasst hat, in der Neuauflage von 2005 (7. Auflage September 2015), die ich am 18. August in der Buchhandlung des Klosters Ettal bei Pater Michael gekauft habe. Das einzige Buch, das ich während unserer gemeinsamen Reise im August auf den Spuren Sissis und König Ludwigs II. dabei hatte, (siehe meinen Blog: http://jwsreise.blogspot.de/2016/08/ein-besuch-in-schloss-linderhof-konig.html) war eben Brigitte Hamanns drei Jahre später (1981) publizierte Biographie der Mutter von Kronprinz Rudolf: „Elisabeth. Kaiserin wider Willen“. Vor der Reise las ich daraus das 10. Kapitel mit dem Titel „Adler und Möwe“, das sehr gut das liebevolle Verhältnis der acht Jahre älteren Elisabeth zu ihrem Cousin Ludwig beschreibt: Sissi war „die Möwe“, Ludwig „der Adler“.
Warum erwähne ich all diese – scheinbar unwichtigen – Details? Eben aus jenem Enthusiasmus heraus, den ich den „Wundern des Alltags“ schulde.
In meinem Bericht von der „Schweizer Reise“ hatte ich schon begonnen, über „karmische Bezüge“ zwischen den damals verkörperten Menschen um Ludwig II. nachzudenken. Das konnte natürlich nur sehr rudimentär geschehen. Aber es ist ein Anstoß aus persönlichem Erleben gewesen. Und ich bin entschlossen, diesen Impuls weiter zu verfolgen. Es ist ganz klar, dass Kronprinz Rudolf zu diesem Kreis dazu gehört. Und es ist eine große Hilfe, dass wir durch Rudolf Steiner den wertvollen Hinweis auf die frühere Inkarnation dieser Individualität in dem erwähnten Karma-Vortrag vom 27. April 1924 überliefert haben.
Hinzuzuziehen wäre bei einer weiteren Erforschung der Zusammenhänge die mutige Untersuchung von Frank Berger über die Schicksale der Musiker der Jahrhundertwende und ihres schicksalsmäßigen Zusammenhangs mit der römischen Kaiserzeit, die er 2011 unter dem Titel „Bruckner, Mahler, Schönberg – eine karmische Spurensuche“ im Verlag Freies Geistesleben vorgelegt hat.
1978, das Jahr, in dem die Rudolf-Biographie von Brigitte Hamann erschien, habe ich an der Universität Stuttgart mein Studium mit dem Staatsexamen in den Fächern Germanistik und Geographie abgeschlossen und habe anschließend – statt mein Referendariat zu machen – zwei Jahre lang das Lehrer-Seminar beim Bund der Freien Waldorfschulen auf der Stuttgarter Uhlandshöhe besucht, das im Oktober des Jahres begann. 

Solch ein Satz, den ich bereits im Vorwort von Brigitte Hamanns Biographie von Kronprinz Rudolf lese, macht mich hellhörig: „Als 1888 Rudolfs Freund und Vorbild, der deutsche Kaiser Friedrich III., nach nur 99tägiger Regierung starb, endeten Rudolfs Träume von einem friedlichen, liberalen Europa.“ (S 11f).
Dieses Jahr 1888 muss ein besonderes Schicksalsjahr gewesen sein. Im (protestantischen) zweiten deutschen Reich herrschten in diesem Jahr drei Kaiser und deshalb heißt dieses Jahr in der Geschichte auch das „Dreikaiserjahr“. In diesem Jahr malte in Sankt Petersburg der russische Maler Smirnow, wie erwähnt, das in der Trierer Ausstellung gezeigte Monumentalgemälde „Neros Tod“, das auch in der Juni-Nummer des Geschichtsmagazins „Geschichte“ abgedruckt ist, das ich im Vorfeld der Ausstellung gekauft und später auch als Vorbereitung auf den Besuch gelesen habe.
Rudolf Steiner weist darauf hin, dass Kronprinz Rudolf noch zwei Tage vor seinem Doppel-Selbstmord, am 27. Januar 1889, dem Nachfolger des im Jahr zuvor verstorbenen Kaisers, Wilhelm II., bei einem Empfang in Wien zum Geburtstag gratulierte. Rudolf Steiner erzählt:
„Wie gesagt, als dieses Ereignis, das so erschütternd dazumal gewirkt hat, sich eben vollzogen hatte, war ich auf dem Wege zu Schröer. Ich bin nicht wegen dieses Ereignisses hingegangen, sondern ich war auf dem Wege zu Schröer. Es war sozusagen der nächste Mensch, mit dem ich über diese Sache sprach. Der sprach ganz unmotiviert: „Nero“ – so dass ich mich eigentlich fragen musste: Warum denkt der gerade jetzt an Nero? – Er leitete das Gespräch gleich ein mit „Nero“. Es erschütterte mich das Wort „Nero“ dazumal. Aber es erschütterte (kursiv: J.S.) mich um so mehr, als dieses Wort „Nero“ unter einem besonderen Eindrucke gesprochen war, denn zwei Tage vorher war ja, das ist auch öffentlich ganz bekannt geworden, eine Soiree bei dem damaligen deutschen Botschafter in Wien, bei dem Prinzen Reuß. Da war der österreichische Kronprinz auch anwesend und Schröer auch, und er hatte dazumal gesehen, wie der Kronprinz sich verhalten hat, zwei Tage vor der Katastrophe. Und dieses merkwürdige Verhalten zwei Tage vor der Katastrophe bei jener Soiree, was Schröer sehr dramatisch schilderte, und dann der Selbstmord zwei Tage darnach: dieses im Zusammenhange damit, dass da das Wort „Nero“ ausgesprochen wurde, das war etwas, was schon so wirkte, dass man sich sagen konnte: Jetzt liegt eine Veranlassung vor, den Dingen nachzugehen.“ (a.a.O. S 88 f)
In seiner üblichen Bescheidenheit weist Steiner an dieser Stelle am 27. April 1924 daraufhin, wie er 35 Jahre vorher mit seiner Karma-Forschung begonnen hatte. Thomas Meyer hat in seiner grundlegenden Untersuchung „Rudolf Steiners eigentliche Mission“, die ich vermutlich irgendjemandem ausgeliehen und nicht mehr zurückbekommen habe und deshalb seit Wochen vergeblich in meiner Bibliothek suche, auf diesen entscheidenden Moment deutlich hingewiesen.
Während ich eben das Zitat aus der Mitschrift des Vortrages niederschrieb, stolperte ich über das dreimal vorkommende Wort „erschütterte“ bzw. „erschütternd“. Es war mein hochverehrter Germanistik-Professor Heinz Schlaffer, der mich vor ungefähr 40 Jahren lehrte, auf solche Ausdrücke zu achten. Ich glaube, er benutzte selbst das Beispiel „erschüttern“ in einem literarischen Zusammenhang und erklärte, dass man sich bewusst machen solle, dass mit dieser Formulierung in literarischen Texten ein tiefgreifender Eindruck auf die Seele der betreffenden Figur ausgedrückt werde, der sein ganzes Leben ändern kann.
„Du musst dein Leben ändern“ heißt ein Buch des Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk aus dem Jahre 2009, das mir gestern (6.10) bei der Suche nach der „eigentlichen Mission“ ebenfalls in die Hände geriet, genau wie jenes andere Buch, in dem ich gestern vor dem Einschlafen noch zu lesen begann: „Verwandeln des Lebens“ von Andrej Belyj
Zuvor war ich in der Einleitung zum Katalog zur Trierer Ausstellung „Nero – Kaiser, Künstler und Tyrann“ im Aufsatz von Marcus Reuter, dem Leiter des „Rheinischen Landesmuseums Trier“, auf folgende Aussage gestoßen:
„Auch für den griechischen Autor Pausanias (ca. 115 – ca. 180) stand die Schlechtigkeit der neronischen Herrschaft außer Frage, er sah allerdings die Ursachen dafür in einer fehlgeleiteten Erziehung des Kaisers. Nero war seiner Meinung nach ein Beispiel für die Behauptung Platos, dass großes Unrecht „nicht von gewöhnlichen Menschen ausgeht, sondern von einer edlen Seele, die durch eine missratene Erziehung verdorben ist.“ (Katalog, Seite 18).
So gelange ich über Nero zu Plato, der ja, wie der Kenner weiß, im 19. Jahrhundert als Karl Julius Schröer wiederverkörpert wurde, nachdem er im Mittelalter schon einmal als Roswitha von Gandersheim auf Erden gewandelt war.
An jenem Abend, von dem Rudolf Steiner in seinem Karmavortrag erzählt, als er bei Karl Julius Schröer durch den Ausspruch „Nero“ so erschüttert wurde, dass er seine Karmaforschungen begann, hatten sich also die zwei bedeutendsten antiken Philosophen in Wien wieder getroffen: der Lehrer (Plato) und der Schüler (Aristoteles).
Im zweiten Aufsatz des Kataloges mit dem Titel „Neros Weg zur Macht“ spricht Jürgen Malitz, ein Historiker der Katholischen Universität Eichstätt, auch über den „mütterlichen Ehrgeiz“ von Neros Mutter Agrippina, die neben dem römischen Philosophen Seneca[1] wohl hauptsächlich für die Erziehung des jungen „Kronprinzen“ zuständig war. Malitz führt aus:
„Agrippina bemühte sich von Anfang an um das Wohlwollen des neuen princeps, umgekehrt achtete aber auch Claudius sehr auf seine Nichte, die schon aufgrund ihres Vaters Germanicus in der römischen Öffentlichkeit präsent war – und eben auch einen Sohn hatte. Claudius hatte aus seiner Ehe mit Messalina ebenfalls einen Sohn, den im Jahre 41 geborenen Britannicus. Ein Beispiel für Agrippinas geschickte Förderung ihres Sohnes war Neros erster öffentlicher Auftritt beim sogenannten Trojaspiel (Lusus Troiae) im Jahre 47, einem Reiterspiel der adligen Jugend – offenbar die einzige Berührung Neros mit den militärischen Aspekten der „Prinzenerziehung“. Der Enkel des Germanicus, der Ururenkel des Augustus erhielt rauschenden Beifall, deutlich mehr als der kleine Britannicus. (…) Kaum ein Jahr nach Neros Auftritt beim Trojaspiel wurde Messalina auf Befehl des Claudius als Ehebrecherin und Verschwörerin getötet. (…) Es ging Messalina bei allem, was sie tat, um die Sicherung der Nachfolge ihres Sohnes Britannicus; (…) Claudius war sich vollkommen darüber im Klaren, dass die verwitwete Agrippina durch eine weitere Ehe mit einem standesgemäßen Aristokraten eine Bedrohung für die Ansprüche seines Sohnes darstellte. Er hat sich am Ende dazu entschlossen, seine Nichte (Agrippina) zu heiraten. (…) Die angeblichen Verführungskünste der jungen Witwe und die Ratschläge seiner Höflinge haben sicher nicht den Ausschlag bei dieser Entscheidung gegeben. Claudius hatte erkannt, dass die unbarmherzig ehrgeizige Tochter des Germanicus allein durch eine Ehe mit dem princeps selbst unter Kontrolle gebracht werden konnte. Kein anderer als Claudius durfte im Jahr 49 der Stiefvater Neros werden. Wie sehr Agrippina alles bedacht hatte, was ihrem Sohn und ihr selbst von Vorteil sein könnte, zeigt die für zeitgenössische Verhältnisse ganz ungewöhnliche Entscheidung, im Jahre 49 die bisherigen Erzieher (…) abzulösen und die jetzt anstehende ‚gymnasiale‘ Ausbildung Neros nicht irgendeinem renommierten ‚Fachlehrer‘ (…) anzuvertrauen, sondern einem stadtbekannten römischen Intellektuellen und Schriftsteller: Lucius Annaeus Seneca. (…) Gleich nach der eigenen Hochzeit mit dem princeps kümmerte sich Agrippina um die Anbahnung der Ehe ihres Sohnes mit der damals etwa zehnjährigen Octavia, der Tochter des Claudius. (…) Im Jahre 53 heiratete der fünfzehnjährige Nero die damals etwa zwölfjährige Octavia, die Tochter des princeps. Wer wollte, konnte sich an den jungen Marcellus erinnern, Augustus‘ ersten Schwiegersohn. Eine weitere Steigerung von Neros Status als ‚Kronprinz‘ war im Rahmen der augusteischen Tradition nicht mehr denkbar – nur eingeschränkt durch den möglichen ‚Doppelprinzipat‘ mit Britannicus (…). Spätestens in das Jahr der Hochzeit sind Neros Auftritte im Senat zu datieren. Er plädierte – in griechischer Sprache – erfolgreich für die Streichung der steuerlichen Abgaben Troias, der Heimat des Aeneas, des Stammvaters der Römer. Einem jungen Redner, der sich direkt auf die Verwandtschaft mit Augustus (…) berufen konnte, stand das eher an als Britannicus, der ohnehin zu jung gewesen wäre für einen solchen Auftritt.“ (Katalog, verschiedene Seiten).
Also ist auch hier immer wieder die Rede vom „Kronprinz“.
Nun ist es interessant, was der österreichische Anthroposoph Ludwig Graf Polzer-Hoditz, dessen Bruder  Artur 1917 Kaninettschef des letzten Kaisers war,  in seinem 1928 zum ersten Mal veröffentlichtem „Opus Magnum“ (Thomas Meyer), „Das Mysterium der europäischen Mitte“, das 2012 im Basler Perseus-Verlag unter dem Titel „Der Untergang der Habsburgermonarchie und die Zukunft Mitteleuropas“ wieder aufgelegt wurde, in dem Kapitel IV („Der Abgrund zwischen den Mysterien der Vergangenheit und denen der Zukunft“) ausführt. Einleitend schreibt er zunächst folgende Sätze, welche die Stimmung skizzieren, mit der solche, das Karma der Menschen betreffenden Aussagen, aufgenommen werden sollten:
„Wir lernen durch karmische Betrachtungen, wenn wir uns in die eine oder andere Gruppe vertiefen, auch zu leben in den Persönlichkeiten, die in ihnen auftreten. Wir fühlen uns allmählich, über unsere Lebenszeit hinausreichend, wie mit diesen Seelen verbunden, und dann scheint es nicht allzu wunderbar, wenn sich uns blitzartig, bei äußerlich oft geringfügigen Geschehnissen oder Beobachtungen mitten im tätigen Leben Zusammenhänge ergeben, von denen wir wissen, sie sind nicht kombiniert, nicht aus Spekulationen gewonnen, sondern weiterwirkende, lebendige Tatsachen früherer Zeiten, mit denen sich unsere erwachende Seele zart begegnete.“ (S 108).
Dann schreibt Polzer-Hoditz über den Selbstmord des Kronprinzen Rudolf in Mayerling und die „Veranlassung“ Rudolf Steiners, „sich mit diesem Tode besonders zu beschäftigen“ (S 109). Er sagt, wie die karmischen Erkenntnisse Rudolf Steiners Geschichte erst „verständlich“ machen und „sinnvoll“ erscheinen lassen: „Von allen Seiten her erschließen sich dadurch Entwicklungserkenntnisse und aufschlussreiche Übereinstimmungen. Was unverständlich war, wird verständlich, eine große Anzahl von Ereignissen erhält sinnvollen und geistigen Zusammenhang“ (S109f)
„Die Tragik dieser Ereignisse am österreichischen Kaiserhof“, so schreibt der Graf weiter, „wiederholt die Tragik in Rom, als mit Nero das julisch-claudische Herrscherhaus ausstirbt. Wenn auch der Name Caesar beibehalten wurde, das Haus der Caesaren ist mit Nero erloschen.[2] Tacitus, Sueton, Plinius und andere Historiker beschäftigten sich mit den Ereignissen im römischen Weltreiche zur Zeit seiner äußeren, nahezu größten Ausdehnung, als sich gleichzeitig in Palästina[3] das Ereignis von Golgatha abspielte, welches sie jedoch kaum bemerkten.[4] In die Regierungszeit der ersten römischen Imperatoren, in welcher trotz des Höhepunktes, den das römische Reich erklimmt, ungeheure Tragik liegt, fällt die Geburt des Jesusknaben, und als vorläufiger Abschluss dieser Caesaren-Höhepunkts-Tragik, in welcher das Blut eines Herrscherhauses  gegen eine sich regierungsfähig fühlende Staatsphilosophie kämpft, steht dann die Gestalt des Nero zerrissen zwischen beiden: die Blutskräfte und die ganze orientalische Art der dritten Kulturepoche[5] verkörpert in seiner Mutter Agrippina, und die Staatsphilosophie verkörpert in seinem Lehrer Seneca.“ (S 110)
Weiter schreibt Polzer-Hoditz:
„Nero steht zwischen zwei Weltgegensätzlichkeiten, er steht darinnen wie zwischen Weltenende und Weltenanfang. Agrippina ist der Meinung, dass ein Caesar nicht gemacht werden könne, sondern geboren werden müsse. Nur die göttlich-geistig befruchtete Weisheit, welche in alten Zeiten durch die Natur wirkte, kann einen Caesar hervorbringen; nach ihrer Meinung macht die Philosophie – so wie sie in Rom auftrat – ganz untauglich zur Herrschaft. Agrippina stand somit gegen Seneca im Kampfe, der nach ihrer Meinung die Grundfesten des Herrscherhauses staatsphilosophisch unterhöhlte. Die Mutter sagte: Nero regiert nicht als der Beste und Würdigste, sondern als Sohn seiner Mutter, der Angehörigen eines regierenden Hauses. Seneca hatte dem Nero seine Thronrede verfasst, und die in derselben ausgesprochenen Maximen widersprachen in allem dem, was sich Agrippina über das Neronische Dominat dachte (Tacitus, Annalen, XIII, 3f). Auch das an den Senat nach der Hinrichtung der Mutter gerichtete Schreiben Neros stammt von Seneca (Tacitus, Annalen, XIV, 10f). Später rühmt sich Nero des Muttermordes als einer Erfüllung des bei seinem Regierungsantritte gemachten Versprechens. Man fühlt, wie bei den Anhängern der Agrippina eine still und tief wirkende Kraft protestiert gegen die Art, wie Seneca das Neronische Dominat beeinflusst. In den heiligen Hainen der Arvalen, des Zwölf-Priester-Kollegiums, die ihre Würden nicht verlieren konnten, deren Protokolle seit Augustus in Steintafeln gehauen wurden, wurden alljährlich Opfer gebracht der ‚Concordia honoris Agrippinae Augustae‘ .(…) Ein dreißigjähriges Leben mit einem tobenden Wüten von Kräften in der Seele spielt sich ab, und dieses Kräftetoben wird noch erhöht durch die Götterprätention. Götterprätention, herausgeboren und übernommen aus Priesterinnenweisheit. Die Prätention noch fortwirkender, göttlich befruchteter Naturweisheit, die allein dem Caesar die Caesarenwürde geben kann. Diese Caesarenseele wendet sich nun aus der Souveränität heraus in Weltverachtung und Frivolität gegen alles in der Welt; spricht der ganzen Welt Hohn und spielt mit dem Leben der Menschen einer ganzen Stadt.“ (S 113f)
Diese Charakterisierung der „edlen Seele, die durch eine missratene Erziehung verdorben ist“ (Plato nach Pausanias, siehe oben) kommt dem Wesentlichen näher als die „wissenschaftlichen“ Versuche, diese Seele zu erklären, wie es im Katalog von dem Wiener Psychologen Prof i.R. Harald Aschauer unter dem Titel „Nero – ein Fall für den Psychiater?“ (S 173 – 289)[6] anhand vergleichender Tabellen und Stammbäumen versucht wird.
Polzer-Hoditz greift nun die entscheidende Frage Rudolf Steiners auf, die dieser in seinem Karmavortrag am 27. April 1924 stellt und schreibt weiter:
„Rudolf Steiner sagt in seinem Vortrag, den er über Nero hält, dass man eigentlich stumpf sein muss, wenn man hinsieht auf alles dasjenige, was dieser Nero tut, und sich gar nicht fragt, was aus einer solchen Seele wird, in welcher alleräußerster Zerstörungswille lebt, von welcher nur weltzerstörende Strahlen ausgehen. Er macht uns dann darauf aufmerksam, wie alles, was so auf die Welt abgelagert wird in einem Leben, in das Leben zwischen Tod und neuer Geburt zurückstrahlt. (…) Es zeigte sich bei dem tragischen Falle in Mayerling das Eigentümliche, dass eine Persönlichkeit, welcher das Glänzendste bevorstand, wegen einer Liebesaffäre, die kein objektiv notwendiger Grund für den Selbstmord sein konnte, das Leben für ganz wertlos hielt. Das ist eine Tatsache, die aus dem vorliegenden Leben des Kronprinzen allein doch nicht verständlich ist, wenn man auch versucht, sich die Tat auf irgendeine Weise verständlich zu machen. Warum fand diese Seele das Leben so wertlos, dass sie sich durch die äußeren Verwicklungen die Seelenpathologie schuf, aus der heraus sie sich dann tötete. Die Seele hatte in der geistigen Welt den Anblick der weltzerstörenden Kräfte, die von ihr ausgegangen waren, und nahm sich die Umkehrung vor, das heißt, sie wollte nun die Pfeile auf sich selbst richten, die sie früher nach der Welt gerichtet hatte. Man kann eine gerechte Tragik darin erleben, wenn man sieht, wie nun Rudolf von Österreich sein Leben, das äußerlich alles enthält, was wertvoll ist, doch für ganz wertlos hält und sich tötet.“ (S 114ff)
Ich zitiere nun Rudolf Steiner direkt:
„Denn nun sieht man, wie solche Dinge, die eigentlich zunächst, man möchte sagen, empörend auftreten, wie das Dasein des Nero, sich mit voller Weltgerechtigkeit ausleben, wie sich die Weltgerechtigkeit wirklich erfüllt und wie zurückkommt das Unrecht, aber so, dass die Individualität hineingestellt ist in die Ausgleichung des Unrechtes: Und das ist das Ungeheure an dem Karma. Und dann kann sich noch etwas anderes zeigen, wenn ein solches Unrecht ausgeglichen ist durch einzelne Erdenleben hindurch, wie es hier wohl fast schon ausgeglichen sein wird. Denn man muss nun wissen, dass ja zum Ausgleich dazugehört die ganze Erfüllung – denken Sie sich – hervorgehend aus einem Leben, das sich wertlos hält, das so sehr sich wertlos hält, dass dieses Leben zunächst ein großes Reich – und Österreich war ja dazumal noch ein großes Reich – und seine Herrschaft über ein großes Reich hingibt! Dieses Handanlegen an sich selbst in solchen Umständen, und hinterher, nachdem man durch die Pforte des Todes gegangen ist, weiterzuleben in der unmittelbar geistigen Anschauung, das erfüllt allerdings in einer furchtbaren Weise, was man Gerechtigkeit des Schicksals nennen kann: also Ausgleich des Unrechts. Auf der anderen Seite, wenn wir jetzt von diesem Inhalte absehen, so ist ja wiederum eine ungeheure Kraft in diesem Nero gewesen. Diese Kraft darf nun nicht verlorengehen für die Menschheit; diese Kraft muss geläutert werden. Die Läuterung haben wir besprochen. Ist nun eine solche Seele geläutert, dann wird sie die Kraft, die geläutert ist, eben auch in der Folgezeit in spätere Erdenepochen in einer heilsamen Weise hinübertragen (…) Der gerechte Ausgleich geschieht, aber die Menschenkräfte gehen doch nicht verloren. Sondern es wird dann, wenn es durchlebt wird nach dem gerechten Ausgleich, dasjenige, was ein Menschenleben verübt hat, unter Umständen umgewandelt auch in Kraft zum Guten. Daher ist solch ein Schicksal, wie das heute geschilderte, schon auch durchaus erschütternd.“ (S 90f)[7]
Polzer-Hoditz, der durch seinen Bruder dem habsburgischen Kaiserhaus nahe stand, aber auch ein intimer Schüler Rudolf Steiners war, geht jetzt in eigenständigen Karma-Forschungen über das, was Rudolf Steiner aphoristisch mitteilte, weiter hinaus, was ihn als den eigenständigen Geistesschüler ausweist, der er immer war[8]: er untersucht den karmischen Umkreis von Kaiser Nero und Rudolf von Habsburg und entdeckt erstaunliche Parallelen.
Polzer-Hoditz schreibt einleitend, was meiner Meinung nach ganz allgemein zutrifft, wenn man sich mehrdimensional mit Geschichte beschäftigt und nicht nur eindimensional, wie es bei den meisten Historikern, die nur die positiven Fakten gelten lassen wollen, leider üblich ist:
„Man kann sich in historische tief hineinleben, wenn man die Zeitgenossen solcher Persönlichkeiten betrachtet, welche in der Weltgeschichte eine besondere Rolle spielen und von denen wir durch Rudolf Steiner wissen, dass in ihnen dieselbe Seele in verschiedenen Leben lebte. Man kann dann an den Ereignissen erleben, wie die Menschenseelen es sind, welche die Ergebnisse der einen Geschichtsepoche in die nächstfolgende tragen. Zu den Zeitgenossen Neros, welche besonders stark in sein Leben hereinragten, gehörten außer den schon erwähnten – nämlich seiner Mutter Agrippina und seinem Lehrer Seneca – noch Burrus, der Kommandant der Garde und Freund Senecas, Neros Gemahlinnen Octavia und Poppea Sabina, der Verschwörer Piso, weiter seine Geliebte, die Korintherin Akte und sein steter Begleiter Sporus.“ (S 117)

Ich will es bei dieser Andeutung belassen und hoffe, dass sie den Leser anregt, selbst „eigenständig“ weiter zu forschen. So wird Geschichte erst interessant.




[1] Seneca wurde oft mit dem griechischen Philosophen Sokrates, dem Lehrer Platons, verglichen. Es existiert sogar eine Büste, in der beide Philosophen Kopf an Kopf dargestellt sind, der ältere nach hinten, der jüngere nach vorne schauend, wie bei der Darstellung des zweigesichtigen römischen Gottes Janus, von dem der Monatsnamen „Januar“ stammt. Beide Philosophen wurden bekanntermaßen zum Selbstmord getrieben.
[2] Fußnote 99 in der Neuauflage (von Andreas Bracher): „Der Tod Neros 68 n. Chr. bedeutet das Ende des julisch-claudischen Kaiserhauses, das sich auf die Abstammung von Caesar und Augustus zurückführte. Seine Kaiser waren Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius und Nero. Es folgte das Vierkaiserjahr 69 und die kurze Zeit der flavischen Dynastie (69 – 96), bevor sich dann ein System des Adoptivkaisertums etablierte, das ganz vom Prinzip des Bluts- beziehungsweise Familienerbes abwich.“
[3] Damals war es die römische Provinz Judäa. (Anmerkung. J.S.)
[4] Genauso wenig bemerkten die „anerkannten“ Historiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Monarchien ihrem Ende zueilten, die Morgenröte einer neuen „Geisteswissenschaft“, die sich zuerst „Theosophie“, später „Anthroposophie“ nannte, obwohl Rudolf Steiner der „Bewegung“ am liebsten „jede Woche einen neuen Namen“ gegeben hätte, wie Andrej Belyj in seiner Schrift „Verwandeln des Lebens“, Rudolf Steiners Kurs in England 1923 zitierend, schreibt (S 19).
[5] Rudolf Steiner spricht in seiner „Geheimwissenschaft“ (1909) von sieben aufeinanderfolgenden Kulturepochen, die er mit dem ungefähren Verweilen des Sonnenaufgangs im sogenannten Frühlingspunkt in einem Sternbild zusammenschaut, das etwa 2160 Jahre dauert. Die erste Kulturepoche nennt er die „Ur-indische“ (Zeitalter des Krebses), die zweite die „Ur-persische“ (Zeitalter der Zwillinge), die dritte die „Ägyptisch-chaldäische“ (Zeitalter des Stieres), die vierte dir „Griechisch-römische“ (Zeitalter des Widders) und die derzeitige fünfte Kulturepoche die „germanische“ (Zeitalter der Fische). Es werden noch zwei Kulturepochen folgen, die „slawische“ (Zeitalter des Wassermanns) und die „amerikanische“ (Zeitalter des Steinbocks), bevor der „nachatlantische Zyklus“ beendet sein wird.
[6] Aschauer geht bei seiner Untersuchung von einem interessanten „Detail“ aus, das auch uns bei der Ausstellung begegnet ist: „Nero lebte von 37 bis 68. Bei der Geburt handelte es sich um eine sogenannte Beckenlage (‚mit den Füßen zuerst zur Welt gekommen‘, Plinius, Naturalis historia 7, 46, Übersetzung nach Marion Giebel). Das ist eine Abweichung von der normalen Geburt, bei der nicht der Kopf, sondern das Becken des Kindes vorangeht. Heute liegt die Häufigkeit dieser Regelwidrigkeit bei 3% aller Schwangerschaften. Es handelt sich dabei um einen Risikofaktor für die Entstehung psychiatrischer Krankheiten, da während des erschwerten Geburtsvorganges durch Sauerstoffmangel oder ganz allgemein Stress Störungen der Entwicklung des Nervensystems auftreten können. Später kann es zu schizophrenen oder bipolaren affektiven Störungen kommen.(…). Die Erblichkeit spielt bei Geburten in Beckenendlagen eine Rolle. Auch Neros Urgroßvater Marcus Vipsanius Agrippa wurde so geboren.“ (Katalog, S 173)
[7] Während ich dieses Zitat aus Rudolf Steiners Karma-Vortrag abschreibe, drängt sich mir die Individualität Adolf Hitlers auf, über den Brigitte Hamann ebenfalls zwei Bücher geschrieben hat: „Hitlers Wien- Lehrjahre eines Diktators“ (Piper, 1996) und „Hitlers Edeljude – Das Leben des Armenarztes Eduard Bloch“ (Piper, 2008). Die Gedanken, die Rudolf Steiner hier über den Ausgleich des Karma und die Umwandlung böser in gute Kräfte ausspricht, bekommen erst ihre wahre und wahrlich „erschütternde“ Dimension, wenn man sie auf den „größten Verbrecher“ des 20. Jahrhunderts anwendet, auf Adolf Hitler, der oft mit Kaiser Nero verglichen wurde, so auch in dem Hollywoodfilm „Quo Vadis“, der sechs Jahre nach dem Ende des „Dritten Reiches“ entstand und unser Nero-Bild bis heute prägt. Diese Parallele wird im letzten Kapitel des Katalogs beschrieben, wo Dorothee Henschel den amerikanischen „Propagandafilm“ untersucht. Sie schreibt: „Nicht umsonst trägt Nero, während er seinen Hymnus vor dem brennenden Rom rezitiert,  in Anlehnung an die Uniformen und Symbole der Faschisten und Nationalsozialisten, eine schwarze Toga mit goldenen Adlern.“ (Katalog, S 386). Diese „starke Szene, die noch immer das Nero-Bild vieler Zeitgenossen prägt“ wird bereits in der Einleitung von Marcus Reuter zitiert, indem er auf S 17 ein Foto der Szene abdruckt.
[8] Siehe die Biographie von Thomas Meyer, Ludwig Polzer Hoditz – ein Europäer, Perseus-Verlag 1994

Mittwoch, 5. Oktober 2016

Durch Schwäbisch Hall mit Michael Klenk




Nero soll im Augenblick seines Todes ausgerufen haben: „Welch ein Künstler geht in mir verloren!“ Er hat sich nicht so sehr als Herrscher, sondern mehr als Dichter, Musiker und Schauspieler verstanden. Das hat den Spott und die Verachtung der Kreise, aus denen er stammte, auf sich gezogen. Er war ein „Außenseiter der Gesellschaft“. Das sind eigentlich Leute, die mir sympathisch sind.
Gestern (am 04.10.2016) durfte ich zusammen mit etwa 24 anderen Frauen und Männern zweieinhalb Stunden mit solch einem sympathischen „Außenseiter der Gesellschaft“ durch die Stadt Schwäbisch Hall wandeln und Plätze und Räume entdecken, die besonders mit diesem Menschen verbunden sind. Ich spreche vom Leiter der Haller Kunstakademie, Michael Klenk, der gestern Nachmittag in der Volkshochschulreihe „Haller zeigen ihre Stadt“ eine Führung anbot, die mehr über den Künstler, als über die Stadt „verriet“.
Michael Klenk ist nur ein Jahr älter als ich. Er ist 1951 in Solingen geboren, aber in Gaildorf, wo sein Vater eine Fabrik hatte, aufgewachsen. Weil er im dortigen Gymnasium zweimal „hängen geblieben“ ist, wechselte er an eine Haller Schule, wo er dann doch noch das Abitur „schaffte“. Sein Vater wollte, dass sein einziger Sohn Betriebswirtschaft lernte, Michael aber wollte von Anfang an Künstler werden. Während seines BWL-Studiums in Rosenheim hatte Michael, wie er erzählt, viel Zeit, zu lesen und Musik zu hören. Musik war schon früh neben der Kunst seine Leidenschaft. Er hatte eine Liste mit allen Musikstücken angefertigt, die er noch live hören wollte. Während dieses Studiums bewarb er sich fünf Mal an verschiedenen Kunstakademien. Erst mit seiner fünften Mappe wurde er in Karlsruhe aufgenommen.
Weil es vielen jungen Menschen, die Kunst studieren wollen, wie ihm ergeht – auch ich hatte mich einmal mit einer Mappe an der Stuttgarter Kunstakademie beworben und eine Absage bekommen – hat Michael Klenk im Jahre 1990 in Schwäbisch Hall eine Kunstakademie gegründet, in der junge Menschen innerhalb eines Jahres unter anderem auf professionelle Weise eine Mappe gestalten, mit der sie sich an einer Staatlichen Akademie bewerben können. Diese damals unterhalb der Katharinenkirche gegründete private Akademie wurde von der Stadt Schwäbisch Hall gefördert. Elf Jahre später, im Jahre 2001, entstand in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft die Kunsthalle Würth, ein Museum von überregionaler Bedeutung. Weil der Künzelsauer Unternehmer Reinhold Würth sein Museum in den nächsten fünf Jahren erweitern möchte, musste Michael Klenk vor drei Jahren umziehen. 
Seine Akademie hat nun als Unterkunft ein ehemaliges Mädchengymnasium am Haalplatz, in dem auch die Festspiele ihre Büros und Üb-Räume haben.
Michael Klenk war mit einem halben Lehrauftrag Kunsterzieher am Erasmus-Widmann-Gymnasium in Schwäbisch Hall. Dort war ich 2000 – 2001 sein Kollege. Seit drei Wochen ist er pensioniert, erzählt er. 2007 habe ich ihn im Kunstverein Ellwangen, dessen Mitglied ich damals war, wieder getroffen. Er war mit eigenen Arbeiten in der Ausstellung „Eigene Wege - neun Schoofs-Schüler", die von meinem verstorbenen Kollegen, dem Künstler und Kunsterzieher Peter Gut, kuratiert wurde, vertreten.
Michael Klenk beginnt seine Stadtführung vor dem Turm von Sankt Michael und preist die ca. siebenhundertjährige spätgotische Michaels-Statue aus den Jahren zwischen 1280 und 1320 als sein Lieblingskunstwerk der kunstreichen Stadt. Michael  erinnert daran, was sein Namenspatron schon alles gesehen haben mag: Menschen am Pranger und Aufmärsche der Nazis, aber auch unzählige Hochzeiten und natürlich die Spiele auf der Treppe.
Wir gehen anschließend durch die obere Herrengasse und halten vor dem ehemaligen Wohnhaus des Haller Rabbiners Berlinger. Sein Vater, so erzählt Michael, sei eines Tages als etwa elfjähriger Junge mit zwei Freunden an dem Haus vorbeigegangen und wurde von zwei SS-Männern aufgefordert, sich etwas aus dem Besitz des Verjagten auszusuchen. Er nahm einen wertvollen Füller mit, den er seinem Sohn Michael vererbte, der ihn heute noch besitzt, nachdem ihn die überlebenden Nachkommen des Rabbiners nicht mehr zurückhaben wollten. Schräg gegenüber dem Haus des Rabbiners liegt das Bethaus der jüdischen Gemeinde.
Die nächste Station ist Michaels Lieblingsplatz. Wir müssen viele Treppen zum sogenannten „Neubau“ hochsteigen und gelangen dann unmittelbar an der Südseite des gewaltigen mittelalterlichen Bauwerks auf den Platz, von dem wir einen der schönsten Blicke auf die Stadt genießen können. Wieder erzählt Michael eine Anekdote, die ihm sein Vater mitgeteilt hatte: er hatte sich, wieder begleitet von seinen Kumpels, unterhalb dieses Platzes, wo ein Schreiner seine Werkstatt hatte, in einen geöffneten neuen Sarg gelegt und ihn geschlossen. Die beiden Freunde taten es ihm gleich und einer wäre dabei fast in Ohnmacht gefallen.
Ich denke, wenn Michael so eine Szene erzählt, dann ist das nicht ohne Grund. Ich ahne, dass es einen karmischen Hintergrund hat, vermutlich eine Einweihungsszene in einem früheren Leben. Michael, dem in seinem Leben im Grunde alles geglückt ist, wovon er geträumt hat, ist mit seinem langen weißen Bart, seiner imposanten schlanken Gestalt und seinen wachen, gütigen Augen eine auffallende Erscheinung in dieser Stadt. Er erinnert mich immer an einen der biblischen Patriarchen. Er erzählt, dass er während seines Studiums zwei Jahre in Rom studiert hat und später sogar noch ein Stipendium der Deutschen Akademie Villa Massimo bekommen hat und in der römischen Casa Baldi wohnen durfte. Er versichert, dass ihn seine römische Zeit stark beeinflusst habe. 
Ich erfahre, dass er auch die Nero-Ausstellung in Trier besucht hat und vollkommen von der Präsentation begeistert war.
Wir steigen nun, vorbei am Hällisch-Fränkischen Museum und der wiedererrichteten Salzsiederhütte, hinab in die Kocherwiesen. Dabei erzählt Michael, dass Hall zwar im Mittelalter die fünftreichste Stadt des Reiches gewesen war, in den 50er Jahren aber zu einer kleinen, unbedeutenden Verwaltungsstadt herabgesunken ist. 1966 sei dann ein Ruck durch das verschlafene Provinz-Städtchen gegangen, als in der Kocheranlage der „Club Alpha“, das erste Jugendhaus Deutschlands, gegründet wurde. Einen der Mitgründer, Walter Müller (FDP), lerne ich als Teilnehmer der Gruppe kennen. Ich erzähle ihm, dass wir auch in Ellwangen eine Initiative für ein Jugendzentrum hatten, und dass wir als Initiatoren damals auch den Club Alpha besuchten, der dieses Jahr sein fünfzigjähriges Jubiläum feiert.
Nun gehen wir weiter zur „Unterwöhrd“, wo an diesem Dienstag mit dem Abbau des alten Globe-Theaters begonnen wurde. Es soll durch ein neues, wetterfestes Theater ersetzt werden. 
Über den „Roten Steg“ gelangen wir in die Katharinen-Vorstadt und steigen auf der gegenüberliegenden Kocherseite zur Kunsthalle Würth hinauf, die ein wahrer Segen für die Stadt ist. Michael zeigt uns die unmittelbar benachbarten Gebäude, in denen über zwanzig Jahre lang seine „Akademie der Künste“ untergebracht war. Ich habe sie vor ein paar Jahren auch schon besucht, als eine Freundin hier einen Malkurs belegte und an einer Gruppenausstellung teilnahm.
Schließlich zeigt uns Michael, der alle Teilnehmer persönlich kennt und die, welche nach Hause wollen, freundlich verabschiedet, noch sein „eigenes Reich“: die neue "Akademie der Künste" am Haal-Platz. Im Flur des schönen klassizistischen Gebäudes sehe ich das Plakat und ausgeschnittene Presseberichte zur großen Trierer Nero-Ausstellung und finde sogar noch einen Ausstellungs-Flyer in deutscher Sprache, der in den drei Trierer Museen bereits vergriffen war.

Dort hatte ich aus Versehen einen in niederländischer Sprache eingesteckt.
Nicht Politik war Neros große Leidenschaft, sondern Dichtung und Musik. Das war sein Verhängnis.

Sonntag, 28. August 2016

Ein Besuch in Schloss Linderhof - König Ludwig II. von Bayern und sein Kreis

Wir fahren weiter und biegen dann ab nach Schloss Linderhof. Nachdem wir eine Eintrittskarte ohne Schlossführung gekauft haben,  wandeln wir wie König und Königin durch die parkähnliche Landschaft mit den auf einer Symmetrieachse zwischen den Bergen erbauten Ensembles, in deren Mittelpunkt das Schlösschen steht. Zuerst ersteigen wir die Treppe zum Venus-Rundtempel. Von dort haben wir einen schönen Überblick auf die Anlage.


Linderhof ist das kleinste von den drei Schlössern, die König Ludwig II. erbauen ließ und sein Lieblingsschloss, das er am häufigsten besucht hat. Ursprünglich wollte Ludwig II. im abgelegenen Graswangtal ein Schloss nach dem Vorbild von Versailles errichten. Er änderte aber seine Pläne und erbaute Herrenchiemsee als sein Versailles. Das Vorbild für das Schlösschen Linderhof war die in der Nähe von Versailles gelegene Pavillon-Anlage von Marly, in die sich der französische König zurückziehen konnte, wenn ihm das Hofleben zu viel wurde.
König Ludwig II. von Bayern wurde an einem 25. August geboren, dem Tag des französischen Königs Ludwig IX., der auch der Heilige genannt wurde, und der unter anderem die Sainte Chapelle in Paris errichten ließ, um eine der bedeutendsten Reliquien der Christenheit, Christi Dornenkrone, die er in Konstantinopel erworben hatte, würdig aufbewahren zu können. Diesen König interessierte nicht die äußere Macht, die eine Königskrone symbolisiert, sondern das Vorbild Christi, der mit der Schmerzenskrone gekrönt wurde.
Die späteren französischen Könige, die auf den Namen Ludwig hörten, waren eher machtbewusste Herrscher, die sich wenig um das Vorbild Ludwigs des Heiligen scherten. Nur der letzte der Ludwige, der mit seiner Frau, der Österreicherin Marie-Antoinette, auf der Pariser Place de la Concorde unter der Guillotine endete, musste die Schmerzenskrone kosten.
Eine Büste von Marie-Antoinette auf einem Sockel mit dem Wappen der französischen Könige lächelt uns beim Aufstieg zum Venus-Tempel an. 
Ludwig XVI. war, wie ich erfahre, der Taufpate von Ludwigs Großvater Ludwig I., der ebenfalls an einem 25. August geboren worden war. Daher rührt wohl die Liebe der bayerischen Könige für die französischen Könige aus dem Hause Bourbon. Ludwig II. wollte nicht den Glanz und Prunk dieser Könige nachahmen, sondern durch seine Bauten auf das Gottesgnadentum der Königsmacht hinweisen, von dem er überzeugt war. Selbst war er ein bescheidener Mensch, der sich am liebsten im bürgerlichen Gehrock und inkognito auf Reisen begab.
Als nächstes Ziel steuern wir die Venusgrotte an. 
Der Gartenarchitekt des Königs hat die beiden Gartentypen der Zeit wunderbar vereint. Die streng symmetrische Anlage, die vom Venustempel auf der südlichen Höhe zum Neptunbrunnen mit der Kaskade auf der nördlichen Höhe reicht, und in deren Mittelpunkt die königliche Villa steht, ist nach den Regeln des französischen Barockgartens gestaltet. Die weitere Umgebung mit dem Königshaus, dem Maurischen Kiosk, der Gurnemanz- Einsiedelei und der Hundingshütte ist nach dem Vorbild des Englischen Gartens gestaltet, der mehr der Epoche der Romantik, in der König Ludwig II. geboren wurde, entspricht.
Die Venusgrotte, eine künstliche Tropfsteinhöhle, in der ein künstlicher See eine illusionistische Kulisse für Aufführungen der Wagner-Oper „Tannhäuser“ bildet, führt uns in die phantastische Traumwelt des „Märchenkönigs“ ein. Hier erleben wir in dem unterirdischen Seelenpalast sein Wesen. Plötzlich wird uns klar: der Bayernkönig wollte nie erwachsen werden. Er ist ein Kind geblieben.

In der Venusgrotte befindet sich ein künstlicher See, über den sich der König in einem schwanenförmigen Kahn hinüberfahren ließ, um an seinen Königslogenplatz zu gelangen. Das Wasser in diesem See konnte er mit Hilfe der Dynamos des ersten bayerischen Elektrizitätswerkes auf 45 ° Celsius erwärmen lassen. Die ganze Grotte kommt mir vor wie der Mutterleib, in dem das Ungeborene im Fruchtwasser schwimmt und selig lächelt.
Plötzlich ist mir klar: König Ludwig II. war ein Kind geblieben, das sich unbewusst zurück in den Mutterleib sehnte, weil ihm die kalte irdische Realität weh tat.
Mein Gedanke geht aber noch weiter. Warum fühlte sich der bayerische König in der Realität, die er vorfand, nicht wohl? Warum zog er sich in die Einsamkeit der Berge oder in seine künstlichen Welten der Poesie und Schönheit zurück?
Ich denke, er war nicht der einzige seiner Generation, der unter der Realität des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts litt. Es war die Zeit, in der nach dem Idealismus der Goethezeit ein zunehmender Materialismus aufkam.
Das hängt mit dem im Jahre 1842 beginnendem Kampf Michaels mit Ahriman in der unmittelbar an die physische Welt angrenzenden Ätherwelt zusammen, der, wie Rudolf Steiner in Mitgliedervorträgen im Jahre 1917 mitteilte (GA 177), mit dem „Sturz der Geister der Finsternis“ im November 1879 endete. Immer mehr besetzten diese ahrimanischen Geister die Köpfe der Menschen und ließen sie die Ideale der Goethezeit vergessen, die wiederum mit dem himmlischen Kultus zusammenhängen, der am Ende des 18. Jahrhunderts in der Schule Michaels stattfand, und von dem Schiller (in den „Briefen über die Ästhetische Erziehung des Menschen“) und Goethe (im „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“) einen Abglanz auf der Erde empfingen.
All die Menschen, die jetzt inkarnierten und zu dieser Michael-Schule gehörten, mussten nun durch das Tal der Einsamkeit schreiten, weil die andere Gruppe, die zur Schule Ahrimans gehörte, das Sagen hatte. Nur wenige Menschen hatten die Kraft, den Anhängern Ahrimans entgegenzutreten. Darunter war als einsamer Kämpfer Richard Wagner, der aus einer tiefen inneren Weisheit heraus die Bilder aus der Siegfried- und Artussage schöpfte und zu Opern gestaltete[1]. Es war im entscheidenden Jahr 1842, als er nach Dresden übersiedelte und auf der nicht weit entfernten böhmischen Burgruine des Schreckenstein bei Aussig den ersten Entwurf zum „Tannhäuser“ niederschrieb.
Damals war König Ludwig noch nicht einmal geboren. Aber schon als Knabe sah der Kronprinz den Tannhäuser und erfuhr von der Liebesgrotte. So ernst nahm er die inneren Bilder der Oper, dass er sie in die Realität herunterholen wollte und im Graswangtal solch eine Liebesgrotte verwirklichte. Hier konnte sein Geist sich entfalten, hier konnte er in seinen Bildwelten leben, hier konnte er die Luft atmen, die seine Seele ernährte.
Zu den verwandten Seelen Ludwigs gehörten innerhalb der damals führenden Kreise auch die acht Jahre ältere Sissi, die Kaiserin Österreich-Ungarns, und die 20 Jahre ältere Zarin Maria Alexandrowna, eine Prinzessin aus dem Hause Hessen-Darmstadt, nicht aber die preußischen Verwandten seiner Mutter.
Einer fehlte in dem Kreise dieser Menschen, einer, der berufen gewesen wäre, die wirkliche Führerschaft in den deutschen Ländern zu übernehmen. Ich meine den badischen Erbprinzen, der am 29. September 1812 in Karlsruhe geboren wurde und ein paar Tage später angeblich starb, in Wirklichkeit aber unter mysteriösen Umständen verborgen wurde und schließlich am Pfingstmontag, den 26. Mai 1828 in Nürnberg als Kaspar Hauser wieder auftauchte, um nach nur fünf Jahren mit erst 21 Jahren, am 14. Dezember 1833 im Hofgarten von Ansbach von einem Emissär westlicher Logen ermordet zu werden[2].
Der badische Großherzog hätte sowohl bei der in Baden beginnenden 48er Revolution als auch bei der unheilvollen Verkündigung des Zweiten Deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal von Versailles eine wichtige Rolle spielen können, die den Idealen eines Königs Ludwig eher entsprochen hätte als die politischen Veranstaltungen, die im Sinne Bismarks, des Antipoden Kaspar Hausers, unternommen wurden.
Dass König Ludwig II. ausgerechnet an einem Pfingstsonntag ums Leben gekommen ist, zeigt für mein Empfinden, wes Geistes Kind er war. Beide, Kaspar Hauser und Ludwig, standen unter dem gleichen Stern: es ist der Stern der „Heiligen Sophia“, die damals noch nicht auf der Erde angekommen war, weil die Zeit noch nicht angebrochen war. Rudolf Steiner sprach im Zusammenhang mit jenen Menschen, zu denen auch Friedrich Nietzsche gehörte, von den „verfrühten Seelen“, von den „Frühgeburten“ des erst im Jahre 1900 beginnenden „Lichten Zeitalters“.
In diesem geistigen Zusammenhang erst offenbart sich für mich die wahre Symbolik der Venusgrotte von Linderhof.




[1]Friedrich Nitzsche schreibt über seine erste Begegnung mit dem Komponisten, dessen Werk erst durch die großzügige finanzielle Unterstützung des Bayernkönigs möglich wurde, am 17. Mai 1869 in Wagners Villa in Triebschen,  an seinen Freund Erwin Rohde: „(…)dazu habe ich einen Menschen gefunden, der wie kein anderer das Bild dessen, was Schopenhauer „das Genie“ nennt, mir offenbart und der ganz durchdrungen ist von jener wundersamen innigen Philosophie. Dies ist kein anderer als Richard Wagner, über den Du kein Urteil glauben darfst, das sich in der Presse, in den Schriften der Musikgelehrten usw. findet. Niemand kennt ihn und kann ihn beurteilen, weil alle Welt auf einem anderen Fundament steht und in seiner Atmosphäre nicht heimisch ist. In ihm herrscht so unbedingte Idealität, eine solche tiefe und rührende Menschlichkeit, ein solcher erhabener Lebensernst, dass ich mich in seiner Nähe wie in der Nähe des Göttlichen fühle“  (https://de.wikipedia.org/wiki/Tribschen)
[2] Am Samstag, den 13. August zeigte Arte drei Filme über sogenannte „Geheimgesellschaften“, die natürlich in vielen Aspekten einseitig waren. Dabei wurde auch die Loge an der amerikanischen Elite-Universität Yale gezeigt, die im Todesjahr Kaspar Hausers gegründet wurde und jenen Totenkopf über gekreuzten Knochen („Skull and Bones“) zum Symbol hat, der auch auf dem Dolch zu finden ist, mit dem Kaspar Hauser ermordet wurde. Noch wichtiger erscheint mir aber, dass exakt zehn Jahre später in New York die jüdische Loge B’nai B’rith gegründet wurde, der bis heute nur Juden – und keine Nichtjuden – angehören dürfen. Von dieser Loge berichtete Arte allerdings nichts.

Samstag, 27. August 2016

Die russische Malerin Marianne von Werefkin in Ascona

Im Museo Comunale d’Arte Moderna Ascona stoßen wir wieder auf eine alte Bekannte: Der ganze zweite Stock des Museums ist der russischen Künstlerin Marianne von Werefkin (1860 – 1938) gewidmet, die von 1918 bis zu ihrem Tode in Ascona lebte. Sie hat hier auch ihre letzte Ruhestätte gefunden. Sie war an der Gründung des städtischen Museums 1922 beteiligt, in dem heute ihre wunderbaren Bilder zu sehen sind.
Marianne von Werefkin war ab 1885 Schülerin des berühmten russischen Malers Ilja Repin, mit dem sie auch befreundet war. Damals lebte sie in Sankt Petersburg. Im Hause des Malers ist sie im Jahr 1892 auch dem russischen Philosophen und Liebhaber der „Sophia“ Wladimir Solowjow (1853 – 1900) begegnet. Damals begann, durch Ilja Repin vermittelt, auch die über dreißigjährige Freundschaft mit Alexej Jawlensky. Im November 1896 reist sie mit Jawlensky und einem anderen Künstler zum Studium nach München. Ein Jahr später stößt auch Wasily Kandinsky zu der Gruppe. In der Stadt an der Isar eröffnet die Adlige Marianne von Werefkin im Jahr 1900 einen Salon, in dem die russischen Künstler und Aristokraten, die in München leben oder dorthin kommen, aus- und eingehen. In den Jahren 1908 bis 1909 weilen die Künstlerpaare Werefkin-Jawlensky und Münter-Kandinsky im bayerischen Murnau. Es ist die Zeit, in der Werefkin zusammen mit ihren Freunden Jawlensky, Kandinsky und Münter die „Neue Künstlervereinigung München“ (NKVM) gründet Später verlassen sie die Künstlervereinigung wieder und bilden eine neue Künstlergruppe, die einen Almanach mit dem Titel „Der Blaue Reiter“ herausgibt, nach dem sie sich ab 1911 nennt.
Nicht erst seit der großen Kandinsky-Ausstellung des Lenbach-Hauses im Jahre 2008 begeistere ich mich für die Malerei der Künstlergruppe „Der blaue Reiter“, zu der auch Franz Marc und August Macke gehören. Meine Begeisterung geht auf eine Bildbetrachtung zurück, die wir Ende der Siebziger Jahre zusammen mit einem Freund und Dietrich Rapp, dem damaligen Herausgeber der anthroposophischen Zeitschrift „Die Drei“, anlässlich einer Paul Klee-Ausstellung in Stuttgart gemacht haben. Wir betrachteten gemeinsam das Paul-Klee-Bild „Gebirgsbildung“. Damals habe ich verstanden, was der Impuls der sogenannten „Abstrakten Malerei“, als dessen Begründer Wassily Kandinsky gilt, in Wirklichkeit war. Wassily Kandinsky lernte in seiner Münchener Zeit auch Rudolf Steiner kennen und würdigt ihn in seinem theoretischen Grundlagenwerk „Das Geistige in der Kunst“ als wesentlichen Inspirator seiner Kunst.
Ich sehe in der Gruppe dieser vorwiegend russischen Künstler die „Erstlinge“ des von Rudolf Steiner verkündeten neuen „Lichten Zeitalters“, das im Jahre 1900 begonnen hat. Sie hatten die Möglichkeit, die neuen geistigen Impulse aufzugreifen, die aus der übersinnlichen Welt in die Menschenseelen, die dafür offen waren, einströmten. König Ludwig II. und sein Kreis hatten diese Möglichkeit noch nicht und scheiterten tragisch an ihren „verfrühten“ Idealen.
Neben Murnau am Staffelsee ist Ascona am Lago Maggiore der zweite wichtige Ort, an dem sich Menschen trafen, die diese neue Zeit aufkommen spürten. Beides sind Orte an Alpenseen, die nördlich und südlich des Gebirges vom gleichen gigantischen Gletscher der letzten Eiszeit geschaffen wurden, die um das Jahr 8000 vor Christus mit dem Untergang des atlantischen Kontinents endete.

In beiden Orten gibt es ein „Russenhaus“. Von Rudolf Steiner wissen wir, dass besonders die russischen Seelen die Träger der neuen, der sechsten nachatlantischen Kulturepoche sein werden, die im New-Age-Jargon auch das „Wassermann-Zeitalter“  (Age of Aquarius) genannt wird, in der nach Rudolf Steiner das Geistselbst, das erste höhere Wesensglied des Menschen, ausgebildet werden soll. Dieses Zeitalter wird erst im dritten Jahrtausend beginnen, aber es wird schon jetzt von einzelnen Menschen und Menschengruppen „vorbereitet“. Und ich habe das starke Gefühl, dass zu diesen Menschen auch russische Persönlichkeiten wie Marianne von Werefkin, deren leuchtende Bilder wir in Ascona bewundern, gehören. Es ist, als ob in ihnen über den gemalten Bergen der goldene Himmel der alten Ikonen wiedererstrahlen würde. Das Gold war immer eine Farbe der Geistig- Himmlischen Welt. Die neue geistige Welt ist über den Bergen der Alpen aufgegangen, wie wir an diesen Bildern von Marianne von Werefkin, aber auch an jenem einzigartigen Bild von Alexej Jawlensky im Schlossmuseum Murnau sehen konnten, von dem ich leider keine Kunstkarte bekommen habe.
Curt Riess zitiert in seinem Buch „Ascona – Geschichte des seltsamsten Dorfes der Welt“ (Europa-Verlag, Zürich 2. Auflage 2014) den heute vergessenen Bonner Schriftsteller Wilhelm Schmidtbonn (1876 – 1952). Der Freund des Malers August Macke schreibt in den dreißiger Jahren über die „Invasionen“ in das um 1900 noch sehr bäuerliche Dorf Ascona Folgendes:
„Zuerst kamen die Vegetarier, die Grasfresser, die in weißen Hemden herumgingen und ihren Acker bebauten. Dann kamen die Gottsucher jeder Art. Die Astrologen, Gesundbeter, Buddhisten, die auch eine Erneuerung der Welt – aber von der Seele her – wollten. Wie die Urmönche die Wüste, suchten sie die Einsamkeit von See und Fels, um mit dem Rätsel des Daseins zu ringen. Dann kamen die Verherrlicher des Lebens: die Maler, Bildhauer, Dichter, Architekten – insbesondere solche, die anderswo ihr Leben nicht mehr fristen konnten. Unter dieser unermüdlichen Sonne trugen sie auch die bittersten Entbehrungen leichter. Zuletzt kamen die Millionäre.“ (S 18)
Murnau und Ascona, das sind für mich wie die zwei Seiten einer Medaille. An beiden Orten probierten Menschen neue Lebenswege oder neue künstlerische Wege aus. Das eine liegt nördlich, das andere südlich der Alpen. So ist natürlich auch das Licht an den beiden Orten ein ganz anderes. Während nördlich der Alpen, im „Blauen Land“, oft mystische Wolken „wabern“, scheint über dem Monte Verita immer die Sonne des Lichten Zeitalters.
Murnau mit der Insel Wörth, auf dem das älteste deutsche Gebet, das Wessobrunner Gebet aufgezeichnet wurde, erinnert mich noch an die atlantischen Zeiten. Auf den südlichen Inseln des Lago Maggiore, den beiden Brissago-Inseln, die wir leider nicht mehr besucht haben, blühen im berühmten Botanischen Garten die Blumen der nachatlantischen Zeit. Kein Wunder, wenn ich über der Haustür eines Hauses in der zentralen Straße von Ascona eine Kopie eines Bildes von Raphael sehe, auf dem Maria mit dem Jesus- und dem Johannesknaben zu sehen sind. Der südliche Maler der Madonnen kontrastierte mit dem gleichzeitigen nördlichen Dämonen-Meister Matthias Grünewald (Versuchung des Antonius im Isenheimer Altar, Colmar).

Marianne Werefkin gelangte im Süden zum Höhepunkt ihres expressionistischen Malstils, voller leuchtender Farben, während Wassili Kandinsky im Norden den abstrakten Malstil entwickelte und damit die Malerei von Grund auf revolutionierte. Malerei wurde bei ihm Musik und Tanz. Beide Malstile sind Ausdruck des Innersten der menschlichen Seele, auch wenn bei den Expressionisten noch Anklänge an die äußere Wirklichkeit bestehen, während bei den Abstrakten nur noch Formen und Farben aufeinandertreffen.

Donnerstag, 26. Mai 2016

Sieben Tage in Rom auf den Spuren Raphaels


Vorbemerkung

Es war kurz vor Weihnachten 2014, als Dieter mir vorschlug, mit ihm nach Rom zu reisen. Wir einigten uns schnell auf einen Termin und so kauften wir kurz nach Weihnachten Fahrkarten, um mit dem Nachtzug von München in die Ewige Stadt zu fahren, wo wir die Faschingsferien verbringen wollten. Dieter buchte ein Hotel in der Nähe des Pantheons.

Samstag, der14. Februar 2015: Anreise


Friedrich brachte mich nach Ellwangen zum Bahnhof, wo mein Zug um 15.12 Uhr pünktlich abfuhr. Über Ulm, wo ich in den ICE umstieg, gelangte ich nach München, wo ich über eine Stunde Aufenthalt hatte. Dieter kam etwas später von Braunschweig. Kurz nach 21.00 Uhr fuhr der Nachtzug nach Rom in München ab. Wir saßen zusammen im gleichen Abteil. Eine Italienerin, die mit ihrem Mann ein italienisches Restaurant in Schwabing („Nachtschwärmer“) führt und ausgezeichnet deutsch sprach, teilte mit ihrem neunjährigen Sohn unser Abteil. Da wir nur Sitzplätze bekommen haben, wird es mit dem Schlafen etwas schwierig. Der Zug nimmt die Strecke über Innsbruck und den Brenner nach Bologna, wo wir fast zwei Stunden Aufenthalt haben, weil ein Teil des Zuges weiter nach Mailand fuhr und weil dafür rangiert werden musste. Als wir durch Florenz fuhren, wurde es Tag. An Orvieto und Arezzo vorbei kamen wir mit einer Stunde Verspätung am Sonntagmorgen, den 15. Februar gegen 10.30 Uhr am römischen Bahnhof Termini an. Es nieselte ganz leicht. In einer nahen Straße zog ein Faschingsumzug vorbei.

Sonntag, der 15. Februar 2015

Wir kauften am Busbahnhof zwei Wochenkarten für die öffentlichen Verkehrsmittel in Rom (Busse und Metro) für jeweils 25 Euro. Der Bus, der uns in die Nähe des Hotels brachte, war sehr voll. Über die Piazza Venezia, wo wir einen Blick auf das Nationaldenkmal für Vittorio Emanuele erhaschten, gelangten wir zur Haltestelle Lungo Torre Argentina, wo wir ausstiegen. Auf der Via Torre Argentina pilgerten wir nordwärts, bogen dann links in die Via della Scrofa (Wildschwein) ein und stießen schließlich auf das kurze Gässchen Via Portoghesi, das uns zu unserem Hotel, Albergo dei Portoghesi gleich neben der portugiesischen Kirche führte. Das Gebäude aus dem 17. Jahrhundert lag unmittelbar vor einem mittelalterlichen Wohnturm, den eine Marienstatue bekrönte. Wir suchten unser Zimmer (Nummer 40) im dritten Stockwerk auf und legten unser Gepäck ab.
Mein Wunsch war es, als erstes das Grab Raphaels im Pantheon zu besuchen. So machten wir uns noch vor Mittag auf den Weg durch das Stadtviertel (Rione) Ponte zu dem von Marcus Agrippa 27 bis 25 vor Christus für „alle Götter“ errichteten und von Kaiser Hadrian in den Jahren 118 bis 125 nach Christus umgebauten Tempelbau, der uns vor allem wegen seines mächtigen Portikus beeindruckt, den monumentale Granitsäulen tragen. Vor dem Bauwerk versammeln sich Menschenmassen, im Innern aber ist das Gedränge noch größer. Nur der Blick auf die großartige antike Kuppel mit ihren abgestuften Kassetten und dem Okulus ist frei. Schließlich finden wir schräg links gegenüber dem Eingang das gesuchte Grabmal, das sehr schlicht gehalten ist. Im Jahre 1833 ließ Papst Gregor XVI. das Grab öffnen, um sich der Existenz der Gebeine des Künstlers zu vergewissern. Er ließ folgende Inschrift von Pietro Bembo (1470 – 1547) auf dem Marmor-Sarkophag anbringen: ILLE HIC EST RAPHAEL TIMUIT QUO SOSPITE VINCI RERUM MAGNA PARENS ET MORIENTE MORI (Hier liegt Raphael, durch den die Natur fürchtete besiegt zu werden, während er lebte, und zu sterben, als er starb).


Nach dem Pantheon führt mich Dieter, der sich durch seine letzte Romreise im November 2014 bestens in unserem Viertel und überhaupt in Rom auskennt, weiter zur Piazza Navona. Das lang gestreckte Rechteck des Platzes geht auf ein antikes Stadion zurück, das Kaiser Domitian hier um das Jahr 86 nach Christi erbauen ließ. Wir schauen uns zuerst den von Bernini 1651 geschaffenen Vier-Ströme-Brunnen (Fontana di Quattro Fiumi) an, der als ein Hauptwerk des Barockbildhauers gilt. Vor dem Hintergrund dunkler Wolken erscheinen die in helles Licht getauchten allegorischen Figuren der vier Ströme, Nil, Donau, Ganges und Rio de la Plata, die zugleich die vier damals bekannten Kontinente Afrika, Europa, Asien und Amerika symbolisieren, in diesem Moment in einem schönen Kontrast. Im Hintergrund auf der westlichen Längsseite des Platzes erhebt sich die barocke Fassade von Sant‘ Agnese  in Agone an der Stelle, wo in der Antike ein Bordell stand. Die Heilige Agnes wurde hier im Jahre 304 nackt an den Pranger gestellt, um sie zu zwingen, von ihrem christlichen Glauben abzulassen. Die Fassade der heutigen Kirche wurde 1653 bis 1657 von Berninis Antipoden Borromini entworfen. Sowohl der Vier-Ströme-Brunnen als auch die Agnes-Kirche wurden von Papst Innozenz X. Pamphilj (1644 bis 1655), dessen Wappen, eine Taube mit einem Ölzweig im Schnabel, deutlich zu erkennen ist, in Auftrag gegeben. Er hat sowohl Bernini als auch Borromini als Mäzen gefördert.


Wir kommen auch am Campo Marzio, dem antiken Marsfeld vorbei, auf dem einst ein Tempel für den Kriegsgott Mars stand, der den Armeen Roms als Schutzgeist diente.  Hier fanden Volksversammlungen statt und hier erfolgte sinnigerweise auch die Aufstellung der ausrückenden Heere. Mars war der Sage nach Vater des Stadtgründers Romulus.
Als nächstes besuchen wir unsere erste Kirche, Sant‘ Agostino. Die sich über einer Treppe erhebende Renaissance-Fassade der Augustiner-Chorherren-Kirche wurde mit römischem Travertin erbaut, einem Kalksinter, der vor allem in Tivoli gebrochen wurde. Dieter führt mich zu den beiden herausragenden Kunstwerken dieser Kirche: eine Altartafel von Caravaggio und ein Fresko von Raphael.
Zuerst betrachten wir ausführlich die „Madonna dei Pellegrini“ von Caravaggio aus dem Jahre 1605. Auf der rechten Seite knien zwei Pilger, ein Mann und eine Frau. Sie schauen hoch zur Madonna mit dem Kind. Ein Pfeiler im Hintergrund teilt das Bild in zwei Hälften, eine sakrale mit der Madonna auf der linken und eine profane mit den Pilgern auf der rechten Seite. Die betenden Hände des männlichen Pilgers berühren beinahe den linken Fuß des Jesuskindes, das sich ihm deutlich zuwendet. Sein rechter Fuß weist auf die Pilgerin, eine ältere Frau, auf die das liebliche Antlitz Marias herunterschaut. Marias nackte Füße scheinen auf der erhöhten Stufe, auf der sie steht, zu tanzen. Die beiden Pilger knien unterhalb der Stufe, wobei der männliche Pilger, dessen Unterkörper von hellem Licht beleuchtet wird, die weibliche Pilgerin, die aus dem Dunkel aufzuschauen scheint, weitgehend verdeckt. Nur ihre betenden Hände und ihr mit einem weißen Kopftuch bedecktes Haupt sind erleuchtet. Vor dem dunklen Hintergrund ragen nur die beiden Pilgerstäbe hervor, die eine dritte Diagonale in die Bildkomposition zeichnen, während vom Kopf des Jesuskindes bis zum rechten nackten Fuß des männlichen Pilgers eine erste, vom Kopf Marias zum Kopf der Pilgerin eine zweite Diagonale durch das Bild verläuft. Dadurch wirkt das Bild sehr lebendig. Wir verfolgen diese Bewegungen mit unseren Augen und sind beide begeistert von diesem ersten Meisterwerk, das wir in Rom zu Gesicht bekommen. Es ist auch das erste Bild von Caravaggio, das wir sehen. Wir werden in den folgenden Tagen noch einige andere anschauen, allerdings nicht mehr so intensiv wie dieses.


Als nächstes wenden wir uns dem dritten linken Mittelpfeiler der Augustiner-Kirche zu, den Raphael im Jahr 1512 mit einem Fresko geschmückt hat. Es zeigt den Propheten Jesaja zwischen zwei Putti, die um sein Haupt schweben und eine Blättergirlande über ihn halten. Das rechte Bein des sitzenden Propheten ist von einem Tuch umfangen, das mit seinen warmen, fließenden Goldtönen den ganzen Unterkörper zu umfließen scheint. Nur das linke Bein schaut daraus hervor und im untersten linken Winkel der nackte rechte Fuß. Das eigentliche Gewand des Propheten ist in himmelblauen Tönen gehalten, der Kopf mit einem violetten Tuch umhüllt. Es ist ein wunderbarer Dreiklang von Farben. Jesajas Blick scheint nach links unten auf die in die Kirche Eintretenden gerichtet, in Wirklichkeit aber ist er genauso sehr nach innen gerichtet. Seine muskulösen, nackten Unterarme halten eine Schriftrolle mit hebräischen Zeichen in die Gegenrichtung. Dadurch wird zwischen der Blickrichtung des Propheten und seiner Arm-Geste eine lebendige Spannung erzeugt, die sich in der Beinstellung wiederholt: das rechte Bein ragt, vom goldenen Tuch hervorgehoben, nach vorne, das linke Bein ist im Schatten nach hinten eingewinkelt. Dabei steht der linke nackte Fuß auf einer erhöhten Steinstufe, während der rechte, ebenfalls nackte Fuß über die unterste Stufe herauszuragen scheint. Die ganze Art der Darstellung erinnert an die Propheten Michelangelos im Gewölbe der Sixtinischen Kapelle, erscheint aber lieblicher und beseelter. Jesaja hat ein ausgesprochen schönes Gesicht, das zwar Bestimmtheit, aber keine Strenge ausstrahlt. Der in hebräischen Buchstaben geschriebene Ausschnitt aus dem 26. Kapitel des Jesaja-Buches (Vers 3) lautet: „Tut auf die Tore, dass hineingehe das gerechte Volk, das den Glauben bewahrt!“ Blick und Haltung des Propheten sind also ganz auf den Kircheneingang ausgerichtet, der die Gläubigen empfängt.


Der Prophet Jesaja, neben Jeremia, Hesekiel und Daniel einer der vier großen Propheten, wurde wegen seiner Messias-Verheißung schon von frühchristlicher Zeit an dargestellt. Auf ihn geht auch das Wort von der „Stimme eines Predigers in der Wüste“ (Jes. 40,3) zurück, das von Markus (1, 2 bis 4) aufgegriffen wird:
„Wie geschrieben steht im Propheten Jesaja: ‚Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der da bereite deinen Weg‘. ‚Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, machet seine Steige richtig!‘ Johannes der Täufer war in der Wüste und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden.“
So beginnt das Markusevangelium mit einem Jesaja-Zitat und bezieht dieses klar auf Johannes den Täufer.
Wenn wir alles das auf uns wirken lassen, dann ist dieser Auftakt unseres Romaufenthaltes wie eine Einladung: die zwei Pilger aus Deutschland werden von der Madonna mit dem Jesuskind und von dem Propheten Jesaja liebevoll in der dem Heiligen Augustinus[1] geweihten Kirche empfangen. Raphael, der nach den Forschungen Rudolf Steiners in einem früheren Leben selbst der „Prediger in der Wüste“ war, erweist sich so als unser guter Schutzgeist. Auch Caravaggio, der nach Richard Distasi in seinem Leben zur Zeit Christi als Maria Magdalena inkarniert gewesen sein soll[2], ist uns ein immer wieder begegnender Begleiter.
Ganz in der Nähe von Sant’Agostino gelangen wir zur Kirche Santa Maria della Pace. Auch in dieser Kirche befinden sich Fresken Raphaels. Aber die Kirche ist geschlossen und wir können sie erst am Samstag, unserem letzten Tag, besuchen. Vor dem linken Seiteneingang der Kirche steht eine lange Schlange von Menschen, die in die Wechselausstellung wollen, die noch eine Woche lang Arbeiten von M.C. Escher zeigt. Wir kommen durch einen weiteren Seiteneingang in den Kreuzgang, ein wunderbares Werk des Renaissance-Architekten Bramante.
Am Nachmittag dieses Sonntags machen wir zu Fuß noch einen Ausflug zum Petersplatz. Dabei nehmen wir die Via dell‘ Orso, die Fortsetzung der Via delli Portoghesi, an deren Ende auch das Haus steht, in dem schon Dante und Goethe gewohnt haben. Wir kommen auf den Lungo Tevere, die Straße, die an der linken Tiberseite entlangführt, haben einen schönen Blick auf die Engelsburg und die Engelsbrücke, überqueren den Tiber auf der Ponte Vittorio Emanuele II und gelangen auf der Via della Conciliazione zum Petersplatz. Eine lange Menschenschlange säumt die Kolonnaden, eine vierfache Säulenreihe, die Bernini in den Jahren 1657 bis 1667 für Papst Alexander VII. konzipierte. Die Menschen, die geduldig unter den vom Dach herabschauenden  Heiligenfiguren warten, wollen in den Petersdom. Es sind viele Asiaten darunter, vermutlich mehrheitlich Chinesen. Wir lassen den Platz und seine Begrenzung durch die kolossalen Säulenreihen auf uns wirken und stellen fest, dass die Vielzahl der sich gegenseitig zum Teil verdeckenden Säulen und ihre schiere Größe alles menschliche Maß verlassen. Anders geht es uns mit der Fassade des Petersdoms, die in ihrer Gliederung aus der Ferne harmonischer und menschlicher auf uns wirkt. Die alles überragende, von Michelangelo entworfene Kuppel mag zu diesem harmonischen Eindruck entscheidend beitragen. Sie ist nach der des Pantheons mit 42,34 m die zweitgrößte Kuppel Roms.
Die Majestät des Platzes und der Peterskirche ist so überwältigend, dass ich im ersten Augenblick ganz vergesse, dass an dieser Stelle einst das Kreuz stand, an dem der Apostel Petrus sein Martyrium erlitt. Petrus war ein einfacher Fischer mit all seinen menschlichen Schwächen. Dass ihm zu Ehren solch monumentale Bauwerke errichtet wurden, liegt daran, dass er in den Päpsten Nachfolger hatte, die Christi Wort „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ im Laufe der Zeit ins Gegenteil verwandelt haben. Von jeder Säule, von der Fassade und der Kuppel scheint uns aus dem Munde des Papstes Alexander VII., dessen Namen und Wappen überall hervorleuchten, die Umkehrung des Satzes entgegen zu tönen: „Mein Reich ist von dieser Welt!“
Als wir über die Engelsbrücke zurückkehren, bekommen wir Hunger und kehren in eine Pizzeria in unserem Viertel ein.

Montag, der 16. Februar 2015

Der Tag ist ganz den Vatikanischen Museen gewidmet. Dieter hatte zwei Karten übers Internet gebucht (jeweils 20 Euro) und so konnten wir an der langen Schlange vorbei direkt zur Kasse gehen und unsere Eintrittskarten abholen. Um 9.30 Uhr betreten wir den Museumskomplex, um 17.00 Uhr werden wir hinaus komplementiert. Unser erstes Ziel sind die Stanzen mit den Fresken Raphaels. Dieter empfiehlt, ohne links und rechts zu schauen durch die langen Fluren bis zu den vier Sälen der Stanzen durchzulaufen. Das tun wir und so gelangen wir als erstes in die Sala di Constantino, in der von Schülern Raphaels die Ereignisse aus dem Leben Kaiser Konstantins gestaltet wurden, die zur Anerkennung der christlichen Religion im Römischen Reich geführt haben: sein Traum vom Kreuzsymbol, sein Sieg über seinen Mitkaiser Maxentius an der Milvischen Brücke und seine Taufe durch Papst Sylvester. Länger verweilen wir in der Stanza d’Eliodoro, die Raphael in den Jahren 1512 bis 1514 ausgemalt hat. Auf der einen Seite ist der Raub Heliodors dargestellt, auf der gegenüber liegenden Seite die Abwehr Attilas durch Papst Leo I., an den anderen beiden Seiten das Wunder bei der Messe von Bolsena und die Befreiung Petri aus dem Gefängnis.
Wir betrachten zuerst das Bild von der Vertreibung Heliodors aus dem Tempel von Jerusalem. Er wollte den Tempelschatz rauben und war schon am Ausgang, als durch das Gebet des Hohepriesters am Altar vor dem siebenarmigen Leuchter himmlische Wesen erscheinen und den Räuber stellen. Diese Szene spielt sich auf der rechten Seite ab. Auf der linken Seite sind um den Papst auf seinem Thron Männer und Frauen gruppiert, die dem Geschehen zuzuschauen scheinen. Atemberaubend ist die freie Mitte, die, verstärkt durch drei sich verjüngende Kuppeln, den Blick perspektivisch nach hinten zum Altar lenkt, an dem der Hohepriester betet. Der Blick geht sogar noch weiter, weil sich über dem Altar der Tempel halbkreisförmig öffnet und den Blick auf eine weiße Wolke am Himmel freigibt (siehe: Wilhelm Kelber, Raphael von Urbino, Verlag Urachhaus, Stuttgart 1979, Abb. 197).


Auch bei dem gegenüber liegenden Fresko „Die Begegnung Leos I. mit Attila“ treten „aus heiterem Himmel“ Geistwesen auf. Dieses Mal spielt die Szene in einer freien Landschaft. Links reitet der Papst mit seinem Gefolge in die Bildmitte, rechts weichen die Hunnen unter ihrem Anführer Attila vor der himmlischen Erscheinung zurück: es sind die Apostelfürsten Petrus und Paulus, zu erkennen an ihren Attributen Schlüssel und Schwert.


Wir gelangen nun in die Camera della Segnatura. Es ist der erste Höhepunkt unseres Besuches in dem ehemaligen Papstpalast. Hier wurden päpstliche Urkunden unterschrieben. Sicher wollte Raphael mit seinen Darstellungen dazu beitragen, dass die Unterzeichner vom Heiligen Geist durchdrungen waren. Die beiden berühmtesten Fresken schmücken die sich gegenüber liegenden Wände, die „Schule von Athen“ und die „Disputa“. Diese Meisterwerke hat Raphael gleich nach seiner Ankunft in Rom als erste in den Jahren 1508 bis 1511 unter Papst Julius II. geschaffen. Wir verweilen lange in diesem Raum, können aber kaum alle Details erfassen. Dieter regt dazu an, die Malereien ohne Vorkenntnisse rein künstlerisch auf uns wirken zu lassen. Das tun wir. Wieder fällt auf, dass sich die erste Szene, die die antike Wissenschaft in der Schule von Athen verbildlicht, in einem Innenraum abspielt, während die zweite Szene, in der es um die christliche Wissenschaft im Zusammenhang mit dem heiligsten Altarsakrament geht, in einer offenen Landschaft stattfindet.


Drei halbkreisförmige Gewölbe schließen die Darstellung der Schule von Athen nach oben ab. Im Hintergrund aber öffnet sich an drei Stellen der Blick in den blauen römischen Himmel. Vor der untersten Öffnung erscheinen die beiden zentralen Gestalten des von mehr als 45 Personen bevölkerten Bildes: ein bärtiger alter Philosoph in rotem Übergewand, dessen rechte Hand nach oben deutet, gemeinhin als Plato bezeichnet, und ein jüngerer Mann im blauen Mantel, dessen Hände nach unten gerichtet sind und den die Kunstwissenschaft als Aristoteles identifiziert. Sie scheinen im Voranschreiten in ein philosophisches Gespräch vertieft zu sein. Auch alle anderen Dargestellten bemühen sich lebhaft um Erkenntnis, deuten, erklären, zweifeln.
Überall herrscht Kommunikation bis auf drei Ausnahmen: durch die linke Gruppe schreitet ein jünglinghafter Mann in weißem Gewand, der den Betrachter des Freskos direkt anzuschauen scheint; im Vordergrund stützt sich ein Denker mittleren Alters im rötlichbraunem Gewand auf einen altarförmigen Steinblock und auf den Stufen, die die obere Gruppe von der unteren trennen, liegt ein alter Mann mit nackten Beinen und Armen und einem blauen Umhang, der gemeinhin als Diogenes gedeutet wird.
Wilhelm Kelber hält diesen Liegenden für einen Humanisten und Pythagoräer, der gut mit Raphael befreundet war: Fabius Calvus. Er schreibt:
„Raphael liebt ihn wie einen Vater, nimmt ihn zu sich und wählt ihn zum Berater, vor den er alles bringen kann. (…) Diogenes ist die bekannteste Gestalt pythagoräischer Lebensführung, und mit ihm finden wir Fabius auch in dem Brief Calcagninis verglichen.“ (Kelber, 1979, S 163).
Über den beiden Gruppen erscheinen in Frontalansicht wie umrahmend und über allem schwebend zwei griechische Götter als Statuen in Nischen: Apollo (links) und Athene (rechts), Poesie und Wissenschaft verbindend. Weitere Statuen griechischer Götter und Göttinnen erkennt man in starker Verkürzung an den Wänden des Gebäudes, das die oberen zwei Drittel des Bildes einnimmt. Über den Menschen walten in Grisaille-Technik ausgeführte geistige Wesen. Die Philosophen in ihren schönen farbigen Gewändern verteilen sich auf zwei horizontale Ebenen, die durch vier Stufen voneinander getrennt sind: die obere fernere Gruppe um die beiden zentralen Gestalten und die untere nähere Gruppe, die den Blick frei gibt auf die liegende Figur, die eine Mittelstellung zwischen den beiden Gruppen einnimmt, obwohl sie sich nicht in der geometrischen Bildmitte befindet. Auch ihre diagonale Ausrichtung hat etwas Vermittelndes.
Nun wenden wir uns der gegenüber liegenden Seite zu, der „Disputa“, dem anderen Meisterwerk Raphaels.


Auf den ersten Blick lassen sich drei übereinander liegende Ebenen unterscheiden: die unterste, irdische zeigt eine Versammlung von Päpsten, Kardinälen, Bischöfen, Theologen, die sich um das Altarsakrament, eine Monstranz mit einer Hostie, gruppieren, über deren Wesen und Wandlung sie sich lebhaft unterhalten. Die Fluchtlinien dieser Ebene scheinen auf die in den freien, hellen Himmel aufragende Hostie zuzulaufen, auf die der dem Altar links am nächsten Stehende mit beiden Armen hindeutet.
Der Mann, der auf der rechten Seite des Altars steht, zeigt mit der Hand nach oben auf die zweite Ebene. Sie wird von der irdischen Ebene abgegrenzt durch ein von Engeln getragenes Wolkenband. Auf diesem sitzen zwölf Männer unterschiedlichsten Charakters, Heilige und Gestalten aus dem Alten und Neuen Testament, links angeführt von Petrus, rechts von Paulus. Sie bilden wie das Wolkenband einen nach vorne offenen Halbkreis. Im optischen Zentrum dieses Halbkreises steht die Dreifaltigkeit: auf einer weiteren Wolke schwebend und seine Wundmale zeigend ein jugendlicher Christus im goldenen Sonnenrad, umgeben von Maria (links) und Johannes dem Täufer (rechts). Unter ihm in einem zweiten, kleineren Sonnenrad, der Heilige Geist in Gestalt einer weißen Taube, umgeben von vier Putti, die die vier Evangelien als aufgeschlagene Bücher tragen. Sie schweben perspektivisch gesehen ebenfalls in einem nach vorne offenen Halbkreis um den gedachten Mittelpunkt.
Über dem Christus in einem dritten, von geistigen Wesen erfüllten Sonnenrad, dessen Mittelpunkt weit über dem Bild liegt, erkennt der Betrachter Gottvater. Ihn umschweben in gebührendem Abstand sechs Erzengel, drei auf jeder Seite. Die vatergöttliche Welt, die wie ein Gewölbe erscheint, ist als dritte Ebene wiederum durch ein von Engelwesen belebtes halbkreisförmiges Wolkenband von der darunterliegenden himmlischen Ebene abgegrenzt. So ist die Himmlische Ebene in sich noch einmal dreigegliedert, entsprechend der Heiligen Trinität.
Die senkrechte Mittelachse des Freskos wird gebildet durch vier Kreise: auf dem Altar der kleinste, die Hostie in der Monstranz, darüber der nächstgrößere mit der weißen Taube des Heiligen Geistes, dann der strahlende Sonnenkreis des Christus und schließlich der den Rahmen des Bildes sprengende Sonnenkreis des Schöpfergottes.
Auch die disputierende Menschengruppe im irdischen Bereich bildet einen nach vorne offenen Halbkreis. Dieser ist allerdings unregelmäßiger als die himmlischen Halbkreise und hat auch keinen eindeutigen Mittelpunkt. Dieser würde sich irgendwo vorne im leeren Raum befinden. Aber da ist nichts zu sehen. Nur in der geistigen Welt gibt es einen klaren Mittelpunkt, um den alles kreist: die Dreifaltigkeit. Der etwas chaotischen Aufgeregtheit in der Menschenwelt steht die vollkommene Harmonie in der Geistigen Welt gegenüber. Der eigentliche Ruhepol ist innerhalb dieser eindeutig Christus, der unendlich liebevoll auf den Betrachter des Bildes herabschaut und ihm ohne jeden Vorwurf seine Wundmale zeigt.
Wir sind so erfüllt von der Betrachtung dieser beiden überirdischen Meisterwerke Raphaels, dass wir nun die anderen Bilder dieses Raumes nur noch flüchtig betrachten können: den Parnass, der Apollo, umgeben von den neun Musen und verschiedenen Dichtern wie Homer, Virgil und Dante, zeigt. Aus dem Felsen, auf dem Apollo sitzt, entspringt der kastalische Quell. Irgendwie erinnert der antike Gott in Aussehen, Haltung und Kleidung an den jugendlichen Christus in der „Disputa“.
Dieter weist mich noch auf die Allegorien der Kardinaltugenden Weisheit (Sapientia), Stärke (Fortitudo) und Mäßigung (Temperantia) auf der gegenüberliegenden Seite hin.


Die Decke schauen wir ebenfalls nur kurz an. Es ist einfach zu viel auf einmal. Erst später in der Nachbereitung mit Hilfe des Buches von Wilhelm Kelber studiere ich die Abbildungen und erfahre mehr darüber. Es handelt sich abermals um Allegorien, die sozusagen zu den Themen der vier Wandfresken die Titel bilden: über dem Parnass verkörpert eine lorbeerbekränzte Jungfrau die Poesie, über der  Disputa eine weitere die Theologie, über den drei Kardinaltugenden eine dritte die Gerechtigkeit (Justitia), um die traditionelle Vierzahl der Kardinaltugenden voll zu machen. Am interessantesten ist die die Philosophie repräsentierende Jungfrau über der Schule von Athen. „Während die ‚Theologie‘, ‚Poesie‘ und ‚Justitia‘ auf Wolkenhügeln sitzen, gewahren wir hier zunächst den Thron der Weisheit besonders gestaltet. Ein breiter Sessel, der nach vorne in rätselhafte Gebilde ausläuft: bekrönte weibliche Wesen mit vielen Brüsten, von diesen abwärts bis auf die Füße nur als eine Art Säule gebildet. (…) Es ist die Diana polymasthos, das Götterbild des Mysterientempels von Ephesus.“ (Wilhelm Kelber, 1979, S 210).
In dem Gewand der Philosophie entdeckt er vier Kategorien von Naturwesen, die die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer versinnbildlichen. Der Gang durch die Elemente sind, wie noch Mozarts „Zauberflöte“ weiß, die vorbereitenden Stufen der Einweihung, wie sie zum Beispiel in Ephesus gepflegt wurden.
Die Stanza della Segnatura war der erste Höhepunkt des Tages. Als nächstes erreichen wir die Stanza dell’Incendio di Borgo. Der ehemalige Speisesaal wurde unter Papst Leo X. von Schülern Raphaels nach dessen Entwürfen ausgemalt. Die Fresken stellen Ereignisse aus dem Leben der Namensvorgänger Leos X. dar, so den Brand des Borgo, den Papst Leo IV. durch das Schlagen des Kreuzes über dem Feuer löschte, oder die Krönung Karls des Großen durch Papst Leo III.
Nach der Besichtigung der Stanzen gehen wir über Treppen und durch Flure zur Sixtinischen Kapelle. Auf dem Weg dahin essen wir eine Kleinigkeit in einem Museumscafe.
Die Sixtinische Kapelle ist voller Menschen. Gott sei Dank hat Dieter sein Fernrohr dabei, so dass wir viele Details auch aus der Ferne betrachten können. Den Zyklus mit den zentralen Bildfeldern von der Schöpfung bis zur Sintflut schuf Michelangelo in den Jahren 1508 bis 1512, vier Jahre, bevor Raphael in den Stanzen arbeitete.


Eingeleitet wird die Bildfolge mit einem monumentalen Propheten Jonas. So stehen alle Schöpfungsdarstellungen sowie das Jüngste Gericht, das Michelangelo später (in den Jahren 1534 bis 1541) an der Westwand der Kapelle malte, unter dem „Zeichen des Jona“, einem Symbol für die Einweihung. An den Seiten hat Michelangelo  fünf weitere Propheten und fünf Sibyllen dargestellt. Den Abschluss bildet Zacharias, der Vater Johannes des Täufers.
Dieter gefällt vor allem der Sonne und Mond erschaffende Gottvater aus dem zweiten zentralen Deckenbild; ich bin fasziniert von der Szene der Erschaffung Adams. Den Kopf Adams und das Gesicht der delphischen Sybille kenne ich seit meiner Kindheit, denn beide hingen als Schwarz-Weiß-Reproduktionen im Schlafzimmer meiner Eltern. Ich denke, dass es meine Mutter war, die die beiden Köpfe aufgehängt hat. Mit ihr war ich im Sommer 1977 zum ersten Mal in der Sixtinischen Kapelle. Damals war wesentlich weniger Publikum in dem Sakralraum. Auch wurden die Bilder erst danach, in den Jahren 1980 bis 1994 restauriert. Nach der Befreiung der Fresken vom Staub der Jahrhunderte kam die ursprüngliche Farbigkeit wieder zum Vorschein.
In der Sixtinischen Kapelle findet das Konklave statt, bei dem seit Jahrhunderten der Nachfolger auf den Stuhl Petri gewählt wird. Wir sehen in den Bildern Michelangelos überall das kraftvolle, das Willensmäßige und fragen uns, wer der Künstler, der eigentlich Bildhauer war und den härtesten Stein, den Marmor, bearbeitete, zur Zeit Christi gewesen sein mochte. Wir sind übereinstimmend der Ansicht, dass es nur Petrus gewesen sein konnte, der Apostel, dessen Name „Fels“ ist und auf den Christus seine Kirche gründete. Von Rudolf Steiner wissen wir, dass Raphael Johannes der Täufer war und Leonardo da Vinci Judas Ischariot.
Die drei größten Renaissance-Künstler waren also zur Zeit Christi in unmittelbarer Nähe des Gottessohnes inkarniert.
Als nächstes suchen wir die Pinakothek auf. Vorbei an den Musikinstrumente spielenden Engeln Melozzo da Forlis, erhaltenen Fragmenten aus einer Himmelfahrtsdarstellung in der Apsis der römischen Basilika Santi Apostoli, die von den musikliebenden Franziskanern geführt wurde, kommen wir in den Saal mit drei Werken Raphaels. Viele Meisterwerke wie zum Beispiel Giottos Stefaneschi-Tryptichon lassen wir dabei „links“ liegen, weil wir nicht alles aufnehmen können.


Vor Raphaels letztem Werk, der Verklärung Christi auf dem Berg Tabor, verweilen wir länger. Es war ursprünglich von Papst Clemens VII. für die Kathedrale Saint Just in Narbonne gedacht, blieb aber im Sterbezimmer Raphaels bis nach seinem Tod. Das Werk ist oftmals kopiert worden. Eine Kopie sahen Andrea und ich in der Kathedrale von Le Puy, eine andere befindet sich im Petersdom. Zum ersten Mal sah ich das Bild in einer Kopie in Originalgröße, als ich 1989 zwei Tage bei dem Christengemeinschaftspriester Falk-Ytter in Ludwigsburg wohnen durfte. Nun darf ich mit Dieter das großartige Original in der Pinakothek betrachten.
Die Altartafel zeigt zwei Szenen auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Wieder unterteilt Raphael die Darstellung in einen übersinnlichen Bereich mit der Erscheinung von Moses und Elias zwischen dem verklärten Christus und den irdischen Bereich mit der Heilung des mondsüchtigen Knaben. Die drei geistigen Gestalten schweben im hellen Licht vor einem erleuchteten Himmel über den drei auf einem Felsen liegenden Aposteln Johannes, Petrus und Jakobus, die 18 Personen um den Knaben stehen im Schatten des Felsen. Einige zeigen nach oben zu dem Geschehen auf dem Berg Tabor, andere zeigen oder schauen auf den Knaben.
Auffallend ist die im Vordergrund kniende Frau im roten Kleid und blauen Mantel, die zwischen der Gruppe der neun übrigen Apostel auf der linken und der Gruppe der acht Angehörigen des Knaben auf der rechten Seite zu vermitteln scheint. Sie schaut nach links und zeigt mit ihren Händen nach rechts. Besonders ihre kunstvolle Frisur hebt sich von den Frisuren der anderen Gestalten ab.
Jede der Figuren im Vordergrund hat einen eigenen Gesichtsausdruck und eine eigene Gestik. Es gibt keine Wiederholungen. Der die Augen verdrehende stehende Knabe bildet mit seinen Armen die am weitesten gespannte Geste: mit dem rechten Arm zeigt er nach oben in den Himmel, mit dem linken nach unten auf die Erde. Es ist die einzige senkrechte Armbewegung in den ansonsten diagonalen Bewegungen der Arme der anderen Zeugen des dramatischen Geschehens. Damit ergibt sich ein anderer Kontrast zwischen den beiden Szenen: im Himmel herrscht eine erhabene Ruhe, auf Erden gespannte Unruhe.
Rätselhaft sind die beiden Figuren, die von links oben in das Bild hereintreten und das Geschehen im Himmel andachtsvoll begleiten. Sie stehen wiederum im Gegensatz zu den drei Jüngern, die sich wie geblendet von der heiligen Erscheinung abzuwenden scheinen. Die Gewänder von Moses, Elias und Christus zeigen an, dass es in der Wolke, die sie umgibt, einen aufsteigenden Luftzug gibt.
Im 17. Kapitel des Matthäus-Evangeliums werden beide Szenen erzählt. Die Jünger fragen Jesus nach der Verklärung nach Elias und Jesus sagt ihnen, dass Elias als Johannes der Täufer wiedergekommen ist. Es ist eine der Stellen im Evangelium, in der der Christus deutlich von der Reinkarnation spricht, denn anders kann man das Wiederkommen Elias‘ im Täufer nicht verstehen. So deutet Raphael in seinem letzten von eigener Hand geschaffenen Meisterwerk zwischen den Zeilen auch seine eigenen Inkarnationen an.
Das zweite Werk Raphaels, das wir betrachten, ist die „Madonna von Foligno“ aus dem Jahre 1512. Für Dieter ist es Raphaels schönste Madonnen-Darstellung nach der Sixtinischen Madonna in Dresden.

Die Jungfrau mit dem Jesuskind sitzt auf einer von Engeln bevölkerten Wolke vor einem goldenen Heiligenschein. Auf der Erde stehen beziehungsweise knien drei Heilige, Johannes der Täufer, Franziskus von Assisi (links) und Hieronymus, der seine Hand auf den Kopf des Auftraggebers der Tafel, den Humanisten Sigismondo dei Conti, legt (rechts). Besonders Johannes der Täufer berührt uns. Er zeigt mit einer schönen Geste auf Maria und blickt dabei in Richtung des Betrachters. Schön ist auch die Landschaft im Hintergrund, über die sich ein Regenbogen wölbt. Auffallend ist ein Meteorit, der auf eines der dort sichtbaren Gebäude, vielleicht den Palast des Sigismondo, zu fallen scheint. Der Humanist hat das Bild nach seiner wunderbaren Errettung in Auftrag gegeben.
Rechts von der Verklärung hängt eine Marienkrönung, ein Frühwerk von Raphael aus den Jahren 1502 bis 1503. Auch hier fällt wieder die Unterteilung in einen irdischen und einen himmlischen Bereich auf. Unten stehen zwölf Apostel um einen leeren Sarkophag, aus dem allerlei Blumen sprießen, oben wird Maria, umgeben von musizierenden Engeln, von Christus gekrönt.
Durch die weiteren Räume der Pinakothek laufen wir zügig. Kurz verweilen wir vor der „Grablegung“, einem Meisterwerk von Caravaggio, und einer „Kreuzigung Petri“ von Guido Reni. Von der Pinakothek gelangen wir am Cortile della Pigna, dem monumentalen Pinienzapfen vor dem Belvedere-Palast, den Bramante geschaffen hat, vorbei zur Cortile Ottagonale. Dort treffen wir den berühmten „Apoll von Belvedere“ und die ebenso berühmte Laokoon-Gruppe. Wir verweilen bei den beiden antiken Plastiken und schreiten um sie herum. In den anschließenden Sälen stoßen wir auf weitere antike Statuen und Büsten. Es ist unmöglich, sie alle zu nennen und zu beschreiben; man bräuchte Wochen. Auch die Räume mit den ägyptischen Heiligtümern aus Kaiser Hadrians Villa in Tivoli betrachten wir nur flüchtig. Wir wollen einfach nicht die Eindrücke, die wir vor den wirklich großen Kunstwerken Michelangelos und Raphaels hatten, durch allzu viele neue Eindrücke überdecken.

Dienstag, 17. Februar 2015

An diesem Tag ist es mein Wunsch, ein Stück auf der Via Appia, der „Königin der Wege“ (Regina viarum) zu gehen. Es ist vor allem wegen meiner Erinnerung an die Stelle aus „Homo Faber“, die am Grabmal der Caecilia Metella spielt. Hier erfährt Walter Faber, dass Sabeths Mutter Hanna Landsberg ist, mit der er 20 Jahre zuvor ein Kind erwartete. Er rechnet nach, aber er rechnet falsch. Sabeth tritt mit dem Fuß auf, so dass die Verstorbenen unter der Erde es „hören“ können und sagt: „Ich muss verschwinden“.
Wir fahren mit dem Bus bis zum Circus Maximus, gehen dann an den Ruinen der Caracalla-Thermen vorbei und gelangen auf die Via Appia Antica. Bis zur Porta San Sebastiano ist die Straße Fußgängerzone und es ist angenehm, auf ihr zu laufen. Danach ist sie befahren und der fließende Verkehr drängt uns an den fußgängerlosen Straßenrand. Das ermüdet uns bald, so dass wir unseren Gang bei der Sebastians-Basilika mit den Katakomben abbrechen und das Grabmal der Caecilia Metella, das noch etwa einen Kilometer entfernt liegt, nur von weitem sehen. Unsern ersten Halt machen wir an der Porta San Sebastiano, einem Tor der Aurelianischen Mauer, in dem sich ein kleines, kostenloses Museum befindet, das wir anschauen. Dort gibt es auch ein Modell der antiken Stadt auf den sieben Hügeln, in dem die alte republikanische Mauer und die spätere Aurelianische Mauer eingearbeitet sind. Ich bin fasziniert von Stadtmauern. Sie helfen, sich die ursprünglichen Dimensionen einer „natürlich“ gewachsenen Stadt vorzustellen. Alle modernen Vorstädte und Ausbauten stören mein ästhetisches Empfinden.
Rechts und links der Via Appia befinden sich antike Gräber. Die Römer haben ihre Toten außerhalb der Stadt bestattet. Auch später lagen die Friedhöfe außerhalb der Städte, um die Ruhe der Toten (und der Lebenden) nicht zu stören.
Wir kommen an einer alten Papierfabrik an dem Flüsschen Amone vorbei. Der Amone war in der Antike bekannt, weil an seiner Mündung in den Tiber Kybele in der Form eines schwarzen Steines in das Wasser getaucht wurde. Es war das Fest der „Lavatio matris Deum“, das jedes Jahr am 27. März zur Verhütung von Überschwemmungen gefeiert wurde. Es erinnert mich an den Mythos der germanischen Ostara, die ebenfalls in der Osterzeit  von ihren Anhängern ins Wasser getaucht wurde.
Unseren dritten Halt legen wir bei der Kirche „Domine quo vadis“ ein. An dieser Stelle soll Petrus auf seiner Flucht vor den römischen Häschern dem Christus begegnet sein, der stadteinwärts lief. Als er ihn fragte „Herr, wohin gehst du?“, soll der Christus geantwortet haben: „Ich gehe in die Stadt, um mich ein zweites Mal kreuzigen zu lassen.“ Diese Begegnung nahm der polnische Schriftsteller Henryk Sienkiewicz (1846 bis 1916) zum Motiv seines Romans „Quo Vadis“ (1896), der 1951 unter der Regie von Mervyn Le Roy verfilmt wurde. Den Film mit einem faszinierenden Peter Ustinov in der Rolle Kaiser Neros habe ich mehrmals gesehen. Er gibt ein gutes Stimmungsbild der damaligen Zeit und der Christenverfolgungen unter dem römischen Caesar. In der weitgehend schmucklosen Kirche wird auch ein Stein gezeigt, der den Abdruck zweier Füße enthält; es sollen die Füße Christi sein.


Vorbei an den Calixtus-Katakomben, die jedoch im Winterhalbjahr geschlossen sind, kommen wir zur Basilika San Sebastiano fuori le mura, an deren Nordseite sich die Sebastians-Katakomben befinden. Auf der schönen Renaissance-Fassade lesen wir die lateinische Inschrift „ SCIPIO CARD. BURGHESIUS…“ und die Jahreszahl „MDCXII“ (1612). Es ist unsere erste Begegnung mit Scipione Caffarelli Borghese, der 1605 durch seinen Onkel Papst Paul V. zum Kardinal erhoben wurde und unter ihm die Regierungsgeschäfte im Vatikan führte. Er war ein großer Kunstsammler und Mäzen und hat vor allem den Bildhauer Gian Lorenzo Bernini gefördert. Seine Villa, die Galeria Borghese, eine der berühmtesten privaten Kunstsammlungen der Welt, werden wir am nächsten Tag besuchen.

Die Sebastians-Kirche, die auf den Bau einer Basilika zur Zeit Konstantins zurückgeht, ist eine der sieben Pilgerkirchen Roms. Ursprünglich war sie den Aposteln Petrus und Paulus geweiht. Da in den benachbarten Katakomben das Grab des Heiligen Sebastians gefunden wurde, erhielt die Basilika später den Namen des Märtyrers.
Sebastian wurde im französischen Narbonne geboren. Er war der ritterliche Anführer der Leibwache Kaiser Diokletians. Da er als Christ seinen gefangenen Glaubensgenossen Mut zusprach und viele Römer zum Christentum bekehrte, wurde er angeklagt und auf Befehl Kaiser Diokletians zum Tode verurteilt. An einen Baum gebunden, durchbohrten ihn die Pfeile numidischer Bogenschützen. Er überlebte jedoch die Hinrichtung schwer verwundet. Als er wieder vor dem Kaiser erscheint, wird er von seinen Schergen mit Knütteln zu Tode geschlagen und sein Leichnam in die Cloaca maxima geworfen. Nachdem er einer Christin im Traum erschienen ist, werden seine Gebeine „Bei den Aposteln“, der heutigen Sebastianskirche, bestattet. In der Basilika steht bis heute sein Sarkophag. Sebastian ist der Patron der Schützengilden. 
Bevor wir die Kirche besichtigen, machen wir eine Führung durch die Katakomben mit. Es ist sowohl für Dieter als auch für mich das erste Mal, dass wir in die unterirdische Welt der antiken Christengräber hinabsteigen. Die in den vulkanischen Tuffstein eingegrabenen Nischen befinden sich in langen Gängen bis zu 16 Meter unter der Erdoberfläche. Wir können nur einen kleinen Teil der Gänge besichtigen. Die Grabstätten, die wir sehen, sind heute leer. Die Gebeine der frühen Christen wurden später (610) ins Pantheon gebracht, das „allen Heiligen“ gewidmet wurde. Auf sie geht das Fest Allerheiligen zurück, das seit dem 9. Jahrhundert (835) am 1. November gefeiert wird.
In der Basilika steht auch das letzte Werk Berninis, eine Büste des „Salvator Mundi“ (Weltretter), das der Bildhauer 1679 im Alter von 82 Jahren geschaffen hat. Sein Sohn schrieb 1713: „In diesem Werk versammelt und verbirgt sich die ganze Kunst Berninis.“


Nach der Besichtigung der Basilika essen wir in der südlich benachbarten Cafeteria eine Kleinigkeit zu Mittag und fahren dann mit dem Bus zurück in die Stadt.
Wir steigen bei der antiken Porta San Paolo und bei der antiken Pyramide des Gajus Cestius um und fahren mit einem anderen Bus bis zur Piazza Bocca della Verita unterhalb des Palatins. Hier befand sich am Ufer des Tibers ein Hafen und der Rindermarkt (Forum Boiarum).
An diesem Platz hatten wir 1977 unser Auto abgestellt, um die beiden antiken Tempel zu besichtigen. Als wir nach knapp einer halben Stunde zurückkamen, war die Fensterscheibe eingeschlagen und wir mussten den Rest des Tages auf der Polizeidienststelle verbringen. Wir waren nicht die einzigen Touristen, die einen Einbruch zu beklagen hatten. Sogar mein Führerschein war gestohlen worden und ich musste mir einen Ersatzführerschein ausstellen lassen.
Als erstes besuchen Dieter und ich die romanische Basilika Santa Maria in Cosmedin, die im 6. Jahrhundert von den hier siedelnden Griechen erbaut wurde. Eindrucksvoll ist der romanische Glockenturm. Das Innere ist schlicht gehalten und gibt einen schönen Eindruck aus der Bauzeit. In eine Wand der Vorhalle ist eine antike Tritonenmaske eingelassen, vor der sich eine Menschenschlange gebildet hat. Nach einer mittelalterlichen Sage sollten jedem Lügner, der seine Hand in den „Mund der Wahrheit“ (Bocca della Verita) steckt, die Finger abgebissen werden.
Nach dem Besuch der Kirche schauen wir uns die beiden antiken Tempel an, die auf dem pinienbeschatteten Platz bis heute beinahe unversehrt stehen. Der kleine Rundtempel wurde früher Vesta, der Göttin des Herdes, zugeschrieben, gilt aber heute als Herkules-Tempel; der rechteckige Tempel hieß früher Fortuna-Tempel, wird aber heute dem Portunus, dem Gott des Hafens, zugeordnet. Beide Tempel stammen aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert und sind gut erhalten. Von hier aus haben wir einen schönen Blick auf den Palatinhügel, der sich östlich anschließt. Wir gehen weiter und gelangen zum Janusbogen. Der viertorige Marmorbogen, der vermutlich unter Kaiser Konstantin errichtet wurde, ist heute beinahe schmucklos. Wir sehen aber noch die zwölf Nischen, in denen ursprünglich Statuen gestanden haben. Unter dem Bogen trafen sich in der Spätantike die Kaufleute mit den Käufern, um ihre Preise auszuhandeln. Auch dieser Akt hatte seinen Platz und wurde von Götterbildern „bewacht“. So schauten den Handelnden die Göttinnen Roma, Juno, Ceres und Minerva „auf die Finger“, deren Bilder die Schlusssteine der Torgewölbe schmücken.
Gleich neben dem Janusbogen erhebt sich die romanische Basilika San Giorgio in Velabro. An dieser Stelle soll die Wölfin die beiden ausgesetzten Knaben Romulus und Remus gefunden haben.


Die Kirche birgt die Gebeine des Heiligen Georg, eines der beliebtesten Heiligen des Mittelalters. Seine Legende verbindet ihn eng mit dem Erzengel Michael, der ihn immer wieder vor den Nachstellungen der Folterknechte des damals herrschenden römischen Kaisers Diokletian errettet haben soll. Georg ist der „irdische“ Vertreter des Erzengels Michael, so wie der Heilige Martin der irdische Vertreter des Erzengels Gabriel war. Am bekanntesten ist die Legende vom Drachen, dem die libysche Königstochter geopfert werden soll. Georg besiegt den Drachen und rettet die Jungfrau. Velabro heißt Sumpf und es erscheint folgerichtig, dass die Kirche des Heiligen in diesem Sumpfgebiet errichtet wurde. Immer wieder war sie bedroht von Hochwassern. So kann man den Drachen auch als Personifikation bedrohlicher Naturgewalten deuten, die Jungfrau als Stadtgöttin.
Bevor wir weiter gehen, kehren wir in einer netten Trattoria gegenüber der Georgskirche ein und essen etwas. Über die Via San Teodoro gelangen wir an die Südseite des Forum Romanums und auf den Kapitolhügel. Es ist 17.00 Uhr, als wir den wunderschönen, von Michelangelo entworfenen Platz zum ersten Mal betreten. Eindrucksvoll sind das Reiterstandbildes des Kaisers Marc Aurel und die monumentalen Statuen der Dioskuren. Dieter führt mich auf die Terrasse des Cafes der kapitolinischen Museen, von der wir einen grandiosen Blick über Rom und die zahlreichen Kuppeln der Kirchen haben.
Vom Kapitol laufen wir in der Abenddämmerung zu unserem Hotel in der Via dei Portoghesi. Dabei machen wir einen Abstecher in die 1584 geweihte Urkirche der Jesuiten, Il Gesu.
Hier herrscht ein anderer Geist. Es ist der Geist der Gegenreformation und der illusionistischen Barockmalerei. Unbehaglich wird es mir, als wir vor der Skulptur „Triumph des Glaubens“ von Theodons stehen: Die Protestanten werden von einem strafenden Engel in die Hölle gestürzt.
Es ist der Geist des päpstlichen Roms, der hier zum Ausdruck kommt: nur der katholische Glaube erscheint als der einzig rechtmäßige. Vom Gedanken der Toleranz findet sich im 17. Jahrhundert noch keine Spur. Diese starre Haltung führte in vielen Städten zu den Hexenverfolgungen, so auch in Ellwangen, wo von den damals 1600 Einwohnern fast fünfhundert gefoltert und getötet wurden. Die Jahre 1610 bis 1618 waren die schwärzeste Zeit in der Geschichte dieser Stadt. Der Fürstprobst Johann Christoph von Westerstetten, der in seinem religiösen Wahn keine Grenzen mehr kannte, war Jesuit. Die ganze Barockkunst ist von diesem intoleranten Geist durchsetzt.

Mittwoch, 18. Februar 2015

Unser heutiges Ziel ist die Villa Borghese. Dieter hat per Internet bereits Eintrittskarten gebucht. Zu Fuß erreichen wir den Platz vor der Spanischen Treppe. Wir steigen die Treppe empor und flanieren auf der Viale Trinita dei Monti mit einem fantastischen Blick über die Dächer und Kuppeln Roms zur Piazza del Popolo.
An dem „Platz des Volkes“ endete die von Norden kommende antike Römerstraße Via Flaminia. Hier betrat zum Beispiel 1786 auch Goethe durch die Porta del Popolo die Ewige Stadt. Von hier aus erreichte man über die Via del Corso das Zentrum Roms. Dabei musste man zwischen zwei kuppelbedeckten Kirchen, die Santa Maria in Montesanto und die Santa Maria dei Miracoli hindurch, die den Platz im Süden begrenzen. Im Norden, unmittelbar hinter dem Stadttor befindet sich die Kirche Santa Maria del Popolo, die wir besuchen. An dieser Stelle sollte einst ein Nussbaum gestanden haben, in dem der Geist Kaiser Neros spukte. Statt die bedeutenden Kunstwerke im Innern der Kirche zu betrachten, ziehe ich es vor, in einem Laubengang gegenüber der Kirche einen Capuccino zu trinken. Er kostet nur einen Euro und schmeckt dementsprechend.
Außerhalb des Stadttores steigen wir in einen Bus ein und fahren am nördlichen Teil der Aurelianischen Mauer entlang auf der Viale del Muro zum Park Borghese hinauf. An der Porta Pinciana steigen wir aus. Am Eingang zum Park empfängt uns eine Statue des dänischen Bildhauers Thorvaldsen, die dem englischen Schriftsteller Lord Byron (1788 – 1824) gewidmet ist.
Auf der Viale dei Museo Borghese gehen wir direkt auf die berühmte Villa zu. Wieder begegnen wir dem Kardinal Scipione Borghese, dessen Initialen uns am Vortag auf der Fassade von San Sebastian zum ersten Mal aufgefallen waren. Es ist kurz vor 10.00 Uhr, als wir unsere Eintrittskarten abholen.  Kurz danach beginnen wir unseren Rundgang durch die Ausstellungsräume. Unser erstes Ziel ist die berühmte Darstellung der „Himmlischen Liebe und der Irdischen Liebe“ von Tizian aus dem Jahre 1515, die ich bereits im Studium kennen gelernt hatte und die eine wichtige Rolle in den Deutungen der Kunsthistoriker der Warburg-Schule (Erwin Panofsky, Edgar Wind) spielt, die ihren neuplatonischen Hintergrund aufschlüsselten.


Wir sehen zwei Frauen auf einem antiken Sarkophag, der mit klarem Wasser gefüllt ist, sitzen: die linke ist schön gekleidet und dem Betrachter zugewandt, die rechte zeigt ihre Blöße, während ihr Rücken von einem roten Samtstoff umfangen wird. Sie schaut nach links auf die Schale, die auf dem Brunnenrand steht und von der Bekleideten gehalten wird. Sie hält in ihrer linken Hand ebenfalls eine Schale. Aus dieser steigt Rauch auf. Das kostbare Gefäß der linken Frau ist verschlossen. Zwischen den beiden Frauen, die auch als irdische und himmlische Venus (Aphrodite Urania und Aphrodite Pandemos) gedeutet werden, bewegt ein nackter Cupido oder Amor das Wasser des Brunnens mit seiner linken Hand. Vor ihm auf dem vorderen Rand des Brunnens liegt eine dritte, silberne Schale, wie sie früher bei Taufen in Baptisterien verwendet wurde. Auf der Frontseite des antiken Sarkophags befinden sich Reliefs von Pferden und nackten Menschen. Edgar Wind unterscheidet drei Szenen:
„Zum Verständnis der Symbolik mag es nützlich sein zu untersuchen, an welcher Art von Brunnen die beiden Frauen zusammengekommen sind. Dass es ein Brunnen der Liebe ist, wird durch die Gegenwart Amors bedeutet, der sich über das Wasser beugt und damit spielt; doch bieten die Reliefs, mit denen der Brunnen verziert ist, einen finsteren, abschreckenden Anblick. Ein Mann wird gerade ausgepeitscht, eine Frau an den Haaren fortgerissen und ein ungezäumtes Pferd an der Mähne weggeführt. Da das Pferd ein platonisches Symbol sinnlicher Leidenschaft oder libido ist, bzw. auf das verweist, was Pico (della Mirandola) amore bestiale nannte, zeigen die wilden Szenen der Züchtigung auf dem Brunnen der Liebe, wie animalische Leidenschaft gezüchtigt und gezügelt werden muss. Solche Szenen der Gewalt, die als ein Stadium in den Mysterien der Liebe galten, waren in heidnischen Initiationsriten durchaus üblich, und der Renaissance mag ihre Darstellung in römischen Mysterienkammern bekannt gewesen sein, von denen damals wohl mehr und gewiss andere als die heute zugänglichen erhalten waren. Zwar dürfte nur schwer zu bestimmen sein, in welchem Umfang diese geheimen Traditionen aus der Anschauung bekannt waren, doch war die Hauptquelle vermutlich wieder literarischer Natur. Ficino und Pico bekundeten beide ihr Wissen darum, dass die erste Stufe in den heidnischen Initiationsriten der Liebe in der Reinigung von sinnlicher Leidenschaft bestand, einem schmerzhaften Reinigungsritual, durch das der Liebende auf seine Gemeinschaft mit Gott vorbereitet wurde. Zweifellos war es eine Anspielung auf diese bei Apuleius recht ausführlich beschriebenen Sühnequalen, wenn Renaissancekünstler im Zusammenhang mit Liebe so häufig Symbole der Züchtigung verwenden …“ (Edgar Wind, Pagan Mysteries in the Renaissance, 1958, 1981 deutsch, Heidnische Mysterien in der Renaissance, Suhrkamp, Frankfurt am Main, dritte Auflage 1984, S 169 ff).
Es geht also bei dem Bild um das Mysterium der Liebe. In der Antike kannte man drei Formen der Liebe: die erotische Liebe (Eros), die Nächstenliebe (Caritas) und die Gottesliebe (Agape). Es scheint mir, dass Tizian diese drei Stufen darstellen wollte. Da sich hinter der bekleideten Frau mit dem geschlossenen Gefäß eine Landschaft mit einer weltlichen Burg und zwei friedlich grasenden Hasen befinden, interpretiere ich diese Gestalt als die Caritas, die ihren Reichtum mit anderen teilt. Hinter der unbekleideten Frau erhebt sich in der Landschaft eine Kirche. Zwei Jäger mit ihren Hunden jagen einen Hasen und ein Schäfer hütet seine Schafe.  Hier sehen wir in einer arkadischen Idylle den „Guten Hirten“. Ich interpretiere die unbekleidete Frau, die eine Opferlampe in den Himmel hält, als die höchste Form der Liebe, als Agape. Verbunden sind die beiden Frauen durch die kleine Gestalt des Amors. Eros, die erotische Liebe, bringt das Wasser des Lebens in Bewegung und speist so beide, die Caritas und die Agape.
Das nächste Bild, das wir bewusst ansteuern, ist Raphaels „Kreuzabnahme“ (1507).


Rechts im Hintergrund sieht der Betrachter auf kahlen Felsen die drei Kreuze von Golgatha in den an dieser Stelle bewölkten Himmel ragen, links ist der Eingang in das Felsengrab angedeutet, in das der Gekreuzigte von einer Gruppe von zehn Personen gebracht wird.
Wie wir auf der Rückfahrt im Zug von einem Mitreisenden und Italienkenner, Martin Kiess, erfahren, hat Raphael das Bild nach der Heiligen Tetraktys komponiert, einer Zahlenfolge, die auf Pythagoras zurückgeht. Sie ergibt sich, wenn man die ersten vier Zahlen summiert: 1 + 2 + 3 + 4 = 10. Der Leichnam Christi entspricht auf dem Bild der Zahl eins. Er wird von zwei Personen getragen. Dahinter steht in großer seelischer Anteilnahme eine Gruppe von drei Personen, vermutlich Johannes, Josef von Arimathia und Maria Magdalena. Letztere umfasst zärtlich die Hand des Toten. Tränen rinnen ihr aus ihren Augen. Rechts etwas abseits von der den Leichnam begleitenden Gruppe kümmern sich drei weinende Frauen um die ohnmächtig gewordene Maria. Diese Gruppe von vier Frauen steht unmittelbar unter den Kreuzen im Hintergrund.
In dem Bild ist alles bewegt. Die innere Bewegung wird durch die Gesten, ja selbst die Stellung der Füße ausgedrückt. Auch die Farben tragen zu der Lebendigkeit der Szene bei.

In der Galleria Borghese sind einige der berühmtesten Skulpturen Berninis ausgestellt. Wir bewundern insbesondere die lebensgroße Doppelstatue „Der Raub der Proserpina“. Der Inhalt der eleusinischen Mysterien wird hier eigentlich nicht mehr wirklich verstanden, sondern recht sinnlich als die Entführung einer sich sträubenden schönen Frau durch einen starken Mann dargestellt. Man meint die Eindrücke seiner Hände in ihr Fleisch zu spüren, so lebendig hat Bernini den harten Marmor bearbeitet. Das ist das eigentlich Sensationelle an dieser Skulptur. Außerdem sieht sie von jeder Seite interessant aus, wo immer wir uns auch aufstellen. Das ist Meisterschaft. Leider finden wir, bevor unsere Besuchszeit abläuft, nicht mehr den Raum, in dem das andere Meisterwerk Berninis steht: „Apollo und Daphne“. Ich habe es oftmals auf Abbildungen gesehen, aber diesmal ist es mir nicht vergönnt, das Original in seiner ganzen Herrlichkeit zu erblicken.
Unsere Besuchszeit ist gegen 12.00 Uhr zu Ende und wir setzen uns vor der Villa auf eine Bank und verzehren unser Mittagessen. Die Wappentiere des Kardinals Borghese, der gekrönte Adler und der fliegende Drache, die wir auch überall an den Decken der Säle der Villa gesehen haben, bilden dabei die Umrahmung.
Wir verlassen den Park und nehmen den Bus zum südlichen Teil der Altstadt. Bei der großartigen römischen Porta Maggiore, einem Teil der Aurelianischen Stadtmauer, steigen wir aus. Dann pilgern wir zur ältesten Papstkirche, zu San Giovanni in Lateran, also zur Lateran-Basilika.
Ursprünglich stand auf dem Latifundium der römischen Lateran-Familie eine Kaserne für die Elite-Reiterei des Kaisers. 312, noch vor dem Edikt von Mailand, überließ Kaiser Konstantin einen Teil der Laterani-Gründe der römischen Christengemeinde. Papst Sylvester (314 – 335) ließ hier die erste große Kultstätte in Form einer fünfschiffigen Basilika errichten. Die architektonische Gestalt lehnte sich an die weltlichen römischen Markthallen, zum Beispiel der Maxentius-Basilika auf dem Forum Romanum, an.
Der Typ der Lateran-Basilika wurde später Vorbild für alle christlichen Bischofskirchen Roms und des Abendlandes. So steht über dem Eingangsportal noch heute der Hinweis: SACROS LATERAN ECCLES OMNIUM URBIS ET ORBIS ECCLESIARUM MATER ET CAPUT ( Die Heilige Laterankirche ist die Mutter und das Haupt aller Kirchen der Stadt und des Erdkreises).
San Giovanni in Laterano war die erste Kirche des Papstes als Bischof von Rom. Die Kirche war ursprünglich dem Erlöser (Salvator) geweiht. Nachdem sie 897 durch ein Erdbeben weitgehend zerstört worden war, ließ sie Papst Sergius III. (904 – 911), ein wenig christliches Kirchenoberhaupt, wieder aufbauen und den beiden Johannes, Evangelista und Baptista, weihen.
Die Kirche und der benachbarte Bischofspalast blieben (zum Teil verwaiste) Papstresidenz bis zur Rückkehr von Papst Gregor XI. aus Avignon im Jahre 1377. Dieser Papst verlegte die Residenz damals in den besser befestigten Vatikan.
In den Jahren 1647 bis 1650 ließ Papst Innozenz X. die baufällig gewordene Basilika von dem berühmten Barock-Baumeister Francesco Borromini, dem Konkurrenten Berninis, renovieren und den Innenraum barockisieren.
In den beiden Kopfreliquiaren über dem Hauptaltar sollen sich die Schädel der Apostelfürsten Petrus und Paulus befinden, die an dieser Stelle verehrt wurden.
Mir gefällt die barocke Prachtentfaltung dieser fünfschiffigen Großkirche nicht besonders. Sie ist mir zu weltlich und zu sinnlich und ich muss wieder an den Satz Christi dabei denken: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt:“ Es ist für mein Gefühl ein tragisches Missverständnis, wenn sich die „Stellvertreter Christi“ auf Erden, die Päpste, den Auftrag Christi an seine Jünger nach der Auferstehung zu eigen gemacht haben: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“.
Solche Kirchen sind für mich nichts anderes als Anmaßungen und bewusste Machtdemonstrationen. Hier kommt der „Cäsaro-Papismus“, die Vermischung von Geistigkeit und Weltlichkeit, zum Ausdruck.
Wie anders wäre die Institution Kirche geworden, hätte sie sich tatsächlich an Johannes dem Täufer und an Johannes dem Evangelisten orientiert. Der erste war „die Stimme eines Predigers in der Wüste“, der den Mut hatte, sich den Mächtigen entgegenzustellen und dafür von Herodes im Auftrag seiner Frau enthauptet wurde. Der zweite war im Grunde der geistigste Christ überhaupt, der wie ein Adler auf das Menschengeschehen und den erlösenden „Logos“ herabschauen konnte. Er war der einzige, der unter dem Kreuz stand und den letzten Auftrag Christi vor seinem Tod empfing: „Das ist Deine Mutter…“
Im Grunde geht das ganze esoterische Christentum auf diese beiden Künder zurück. Joachim von Fiore, der die Heilsgeschichte in drei Etappen einteilt, hat das johanneische Christentum als die Zeit des Heiligen Geistes bezeichnet, die auf das petrinische Christentum, die Vaterreligion, und das paulinische Christentum, die Sohnesreligion, folgt. Mit dem petrinischen Christentum kann die katholische Kirche, mit dem paulinischen die evangelische Kirche gemeint sein. Das johanneische Christentum lief immer parallel zu den beiden anderen und wird sie vielleicht in der Zukunft ablösen. So spricht Christus zu Petrus, als dieser ihn nach Johannes fragt: „Wenn ich will, dass er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an.“ (Joh. 21, 22)
Im Grunde haben wir in dieser „Mutter aller Kirchen“ alle drei vereint: Petrus, Paulus und Johannes; allerdings, wie so vieles in der Kirche, nur äußerlich und symbolisch. Der eigentliche Sinn ist schon lange verlorengegangen und kann im Grunde erst seit dem Wirken Rudolf Steiners wieder gefunden werden. Dabei ist es erstaunlich, dass ausgerechnet Johannes der Täufer in seiner Inkarnation als Raphael in der Zeit der Renaissance (Wiedergeburt) für die Papstkirche seine herrlichen Kunstwerke geschaffen hat, durch die der wahre Geist des Christentums hindurchzuscheinen vermag. Aber es war nur ein kurzes Aufleuchten, bevor der Geist des Jesuitismus in der Barockzeit von der katholischen Kirche Besitz ergriff. Renaissance und Barock sind die beiden Antipoden, auf die wir in der auf antiken Ruinen und antiken Mysterienkulten wiederaufgebauten Stadt immer wieder stoßen. Man kann auch sagen: Geistnähe und Geistferne. Wo in der Renaissance (Raphael, Michelangelo, Leonardo) noch geistiger Inhalt vorherrschte, wird in der Barockzeit (Borromini, Bernini) vor allem der Kult um die schöne Form gepflegt.
Dieter lädt mich ein, noch den Kreuzgang zu besichtigen und zahlt meine Eintrittskarte (5 €). Der Kreuzgang mit seinen fein gearbeiteten Doppelsäulen und Einlege-Arbeiten (Cosmaten) strahlt eine ganz andere Atmosphäre aus als die Kirche. Es ist die Stimmung der gotischen, hochmittelalterlichen Frömmigkeit, einer Innerlichkeit, die zu der barocken Äußerlichkeit in einem krassen Kontrast steht.
Nach dem Besuch der Lateran-Basilika trennen wir uns. Dieter will zurück ins Hotel, ich möchte noch einige weitere Kirchen anschauen.
So wandere ich zum ersten Mal alleine durch Rom, was auch eine schöne Erfahrung ist. Als erstes trinke ich in einem kleinen Cafe an der Weggabelung in Richtung der Kirche San Clemente, meinem nächsten Ziel, den besten Capuccino Roms für einen anständigen Preis.
In San Clemente befand sich wohl bereits im 2. Jahrhundert nach Christi ein geheimer Kultraum der christlichen Sekte, wohl gleich neben dem Kultraum der Mithras-Anhänger. Ob es auch geistige Beziehungen zwischen diesen beiden Kulten gab, muss offen bleiben. Auffallend ist, dass sie den Tag der Geburt ihres Gottes, den 25. Dezember, gemeinsam haben.


Das Mithräum in der zehn Meter unter dem Erdboden befindlichen Unterkirche fasziniert mich besonders. Meinen Zugang zu der Mithrasreligion fand ich, als ich im Oktober 1984 die Schilderung einer Einweihung in die Mithrasreligion in der Biographie Kaiser Julian Apostatas von Jacques Benoist-Mechin las. Das hat damals eine tiefere Schicht in mir angerührt, die jedes Mal wieder lebendig wird, wenn ich vor einer Mithras-Darstellung stehe. Die schönste befindet sich meiner Meinung nach im Museum beim Römerkastell von Osterburken. Eine Kopie davon zeigt das Limesmuseum in Aalen. Es sind vor allem die kosmologischen Bezüge, die mich ansprechen: die Tierkreissymbole, die Darstellung von Sonne und Mond, der Hund, der den Stier in den Hals beißt und der Skorpion, der ihn in den Hoden sticht. Nicht zuletzt verwundert mich die „phrygische Mütze“, die der Gott auf allen Darstellungen auf dem Haupt trägt, ein Zeichen des Eingeweihten, das dann die Jakobiner in der Französischen Revolution wieder aufgriffen als Jakobinermütze.
In der Unterkirche gibt es einige interessante Fresken aus dem 11. Jahrhundert. Auf einem erkennt man die Heiligen Kyrill und Method, die die Gebeine des Heilgen Clemens, dem dritten (oder zweiten) Nachfolger Petri als Bischof von Rom,  über dessen Privat-Haus die Kirche erbaut worden ist, von der Halbinsel Krim, wo der Heilige gestorben ist, nach Rom überführt haben sollen. Das war in der Zeit, als in Konstantinopel im achten ökumenischen Konzil der „Geist abgeschafft“ wurde und Parzival im Westen nach dem Gral suchte.
Auch die Oberkirche gefällt mir, eine romanische Basilika aus dem 12. Jahrhundert mit schönen Mosaiken aus der gleichen Zeit. In der Apsis gibt es eine schöne Darstellung des Kreuzes, das ganz von floralen Mustern umgeben ist, die aus einer Vase mit Akanthusblättern entspringen, die unter dem Kreuz steht.


Das Kreuz wird als Baum des Lebens verstanden und es beherbergt neben dem Christus zwölf weiße Tauben. Vögel und andere Tiere bevölkern auch die spiralförmigen Ranken, die sich in zweimal fünf Stufen in der Höhe und in der Breite vom Kreuz entfernen. Es ist ein wahres Meditationsbild. Hier scheint schon im Tod das Leben aufzublühen. Der Tod ist ganz in das ätherische Leben getaucht. Kein Schrecken geht von diesem Kreuz aus.
Unter dem Kreuz umgeben zwölf Lämmer das Lamm Gottes, das „die Sünde der Welt trägt“ und zeigen wieder an, wie sich das Christentum selbst verstand: nicht durch Symbole der Macht wie Adler oder Löwe wird es dargestellt, sondern durch Symbole der Demut und des Dienens.
Die Apostelfürsten Paulus und Petrus, mit ihren griechischen Namen („Agios Petrus“ und „Agios Paulus“) umrahmen den „Baum des Lebens am oberen Rand des Apsis-Mosaiks, das bestimmt neben den Mosaiken von Ravenna zu den hervorragendsten Arbeiten jener Zeit gehört. Leider nehme ich mir auch hier nicht die Zeit, mich ganz in diese Bilder zu vertiefen. Aber so ist es. Von vielen römischen Wundern kann ich nur einen Abglanz erhaschen, bevor ich zum nächsten schreite.
Mein Weg führt mich über den Esquilin-Hügel, auf dem sich einst das Goldene Haus (Domus Aurea), der neue Palast des Kaisers Nero nach dem Brand von Rom (64 n.Chr.) befand, zur nächsten Kirche, San Pietro in Vincoli. In dieser Peterskirche treffe ich wieder auf ein berühmtes Kunstwerk erster Güte. Es ist die Moses-Darstellung Michelangelos, eine sitzende Monumentalstatue, die in einer Architektur thront, von zwei weiblichen Figuren (Rahel und Lea) umgeben. Aus seinem Haupt wachsen deutlich die zwei Hörner, die eigentlich Lichtstrahlen sind und auf seine Eigenschaft als eingeweihten Gottesmann deuten. Den mächtigen Marmorbart hält der muskulöse, nur mit einem Untergewand bekleidete Moses mit seiner rechten Hand so, dass er die nackte Brust freigibt. Die Skulptur schmückt das Grabmal Papst Julius II, dessen Titularkirche San Pietro in Vincoli war, als er noch Kardinal (Giuliano della Rovere) war. Michelangelo hatte für dieses Grabmal auch die beiden berühmten (unvollendeten) Skulpturen der Sklaven geschaffen, die sich heute im Louvre befinden.


In der Kirche befindet sich auch das Grab des Kardinals Nikolaus von Kues, dessen Titularkirche San Pietro einige Jahrzehnte vor Giuliano dalla Rovere war. Er hat hier als relativ armer Kurienkardinal ab 1458 sein letztes Lebensjahrsiebt verbracht und ist am 11. August 1464 in der Nähe der Stadt, in Todi, gestorben. Sein Grabmal befindet sich schräg gegenüber der mächtigen Moses-Skulptur von Michelangelo.
Ekkehard Meffert, der Bonner Geographie-Professor und Biograph des Nikolaus von Kues (Sein Lebensgang, Seine Lehre vom Geist, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1982) zeigt in seinem gründlichen Werk die vielen philosophischen, geisteswissenschaftlichen und schicksalsmäßigen Bezüge zwischen dem „Cusanus“, dem Wegbereiter der Bewusstseinsseele, und Rudolf Steiner auf (dritter und vierter Teil).
Meffert führt aus: „Insbesondere aber hat Cusanus eine ganz enge innere Beziehung zur Strömung des esoterischen christlichen Platonismus, der bei Dionysius Areopagita seinen Ausgang nimmt und über Johannes Scotus Eriugena zur Schule von Chartres zieht. Gerade die innige Verbindung von Platonismus und Christentum gibt der Philosophie des Cusanus ihre Innerlichkeit. Dazu stimmt auch die Beziehung des Cusaners zur Mystik. Für die Mystiker war ja wiederum das esoterische Christentum das zentrale Anliegen. Das schauende, bildhafte Element der platonischen Philosophie verschmilzt in der deutschen Mystik mit dem Christentum zu einer Einheit. Die Mystiker zeichnen sich durch eine Wärme des Fühlens aus. Dabei wird das Fühlen zur inneren Selbstversenkung (Johannes Tauler), und Christus wird der Führer auf diesem Weg nach innen (Meister Eckhart). (…) Devotion, persönliche Bedürfnislosigkeit und das Streben nach einer mystischen Verinnerlichung des Christentums sind zweifellos Elemente der Seelenhaltung des Cusanus.“ (S 360f).
Welch ein Gegensatz zu der äußeren Macht- und Prachtentfaltung des römischen Papsttums, symbolisiert in den beiden sich gegenüberliegenden Grabmälern in San Pietro in Vincoli!
In den beiden Romführern, die mir vorliegen (Vis a Vis Rom, Dorlingskinderly, London, New York, München Melbourne, Dehli, 2014/15 und ADAC-Reiseführer, Rom, von Herbert Rosendorfer, München 2015) wird der Kardinal aus Bernkastel-Kues nicht einmal erwähnt.
Ein Glasbehälter unter der Confessio birgt die Ketten (Vincoli), mit denen Petrus laut Apostelgeschichte im Gefängnis von Jerusalem gefesselt war. Seine Befreiung aus dem Gefängnis durch einen Engel hat Raphael in den Stanzen der Vatikanischen Museen in einem Fresko dargestellt.
Wieder spüre ich „Mysterienluft“. Wieder stelle ich mir die Frage: Könnte es nicht sein, dass Michelangelo selbst in einem früheren Leben der Apostelfürst Petrus gewesen ist? Von Rudolf Steiner wissen wir, dass Moses eine frühere Inkarnation von Johann Wolfgang Goethe war, der selbst vom 1. November 1786 bis zum 22. Februar 1787 und vom 8. Juni 1787 bis zum 24. April 1788 in der Ewigen Stadt weilte. Und könnte der Führer des hebräischen Volkes nicht der gleiche sein, auf dem Christus seine Gemeinde aufrichten wollte und den er deshalb „Fels“ (Petrus) nannte? War es nicht Michelangelo, der den härtesten Felsen, den Marmor, bezwang, und in ihm so wunderbare Gestalten wie den Moses (Rom), den David (Florenz), und die zarte Maria mit dem toten Christus (Pieta, Rom, Sankt Peter) entdeckte und befreite?
Als letzte Kirche an diesem Tag besuche ich die Kirche Sant‘ Ignazio de Loyola ganz in der Nähe des Pantheon auf dem Marsfeld. Diese Kirche ist neben Il Gesu die zweite große Jesuitenkirche in Rom. Wieder fasziniert die illusionistische barocke Deckenmalerei, besonders die Darstellung der vier damals bekannten Erdteile, aber sie lässt mich nach all den großen Eindrücken von San Clemente und San Pietro in Vincoli eher kalt. Es ist Nacht, als ich in unserem Hotel eintreffe.

Donnerstag, der 19. Februar 2015

Am Vormittag haben wir an diesem Donnerstag den Petersdom eingeplant. Wir gehen bereits in der Morgendämmerung los, damit wir rechtzeitig am Eingang sind, bevor der Hauptstrom der Touristen eintrifft, wie wir es am ersten Tag gesehen hatten. Dennoch müssen wir fast eine Stunde warten, weil jeder Besucher auf Metallgegenstände untersucht wird.
Wir wandeln durch den riesigen Bau ohne Führer und lassen uns nur von unseren Intuitionen leiten. Es ist wie eine Welt für sich. Der Hauptanziehungspunkt ist die Pieta (1499/1500) von Michelangelo, die aber nur aus der Ferne zu betrachten ist. Ansonsten ist der Kirchenraum angefüllt mit prunkvollen Grabmälern zahlreicher Päpste.


Der Petersdom hinterlässt abermals einen zwiespältigen Eindruck bei mir. Er gehört zu Rom wie die Grabeskirche zu Jerusalem. Petrus, der den Herrn dreimal verleugnet hat und doch von ihm gewürdigt wurde, die „Schlüssel zum Himmelreich“ zu hüten, wurde der Anführer der ersten christlichen Gemeinde. „Auf diesen Fels“ wollte Christus seine Gemeinde bauen. Hier im Petersdom ist alles „Fels“, wenn auch aus dem kostbaren Marmor bestehend. Keine Spur von Reue und Bescheidenheit. Hier verlässt die katholische Kirche alles menschliche Maß. Der Mensch erscheint klein und verloren in diesen übermenschlichen Dimensionen. Eigentlich ist der Schmerz der Maria über ihren toten Sohn von Michelangelo der einzige menschliche Moment in dieser Inszenierung von Macht. Dass auch die Kuppel des Petersdoms von dem großen Künstler entworfen wurde, möchte man dabei fast vergessen. Warum dieses Wetteifern, wer die größte und höchste Kuppel hat?
Rom erinnert an jeder Ecke an den vergangenen Glanz des einmal weltbeherrschenden römischen Reiches. Heute sind die ehemaligen Bauten nur noch Ruinen. Dann erinnerten sich die italienischen Fürsten, allen voran die Kirchenfürsten, an den Glanz alter Zeiten und versuchten, ihn im Zeitalter der Renaissance wieder zur Blüte zu bringen. Sie ahmten antike Kunstwerke nach und fanden neue überraschende Lösungen. So wurde auch der ursprüngliche Petersdom, eine fünfschiffige Basilika, abgerissen, und unter den Päpsten des späten 15. Und des 16. Jahrhunderts über einem griechischen Kreuz als neue, größere Kirche neu errichtet. Erst am 18. November des Jahres 1626, zum 1600. Jahrestag der Weihe der ersten Basilika, wurde der Neubau mitten im Dreißigjährigen Krieg unter Papst Urban VIII. eingeweiht.
Der eigentliche Skandal dieses Neubaus der päpstlichen Hauptkirche war aber seine Finanzierung. Der sogenannte „Peterspfennig“, der in ganz Europa durch den Ablasshandel eingenommen wurde, diente zu seiner Errichtung. Auch wenn man diesen Brauch aus der damaligen Zeit her verstehen kann, als den Menschen das Leben im Jenseits noch wichtiger war, als das Leben im Diesseits, so war dieser Handel doch ein untrügliches Zeichen für die spirituelle Dekadenz der damaligen katholischen Kirche und es ist kein Wunder, dass es in der Folge zur Reformation durch Martin Luther kam.
Der Petersdom und die Reformation gehören für mich untrennbar zusammen. Die Macht der katholischen Kirche war hohl geworden und die Menschheit rief nach einer Vergeistigung des Glaubens, unabhängig vom Papst. Allerdings war auch der „neue Glaube“ keine wirkliche Vergeistigung, sondern eine Intellektualisierung. Aber diese war notwendig auf dem Weg der Menschheit zur Freiheit. Mit der Reformation setzte der Übergang vom petrinischen zum paulinischen Christentum ein. Nicht mehr Petrus war nun das spirituelle Oberhaupt der Kirche, sondern Paulus, auf den sich Luther in vielen seiner Schriften besonders berief.
Das johanneische Christentum blieb noch ganz im Hintergrund. Wenn man an die Zeit der Neubaupläne des Petersdoms in den 50er Jahren des 15. Jahrhunderts denkt, dann kann man auch an die Einweihung Christiani Rosencreutz‘ „anno 1459“ denken. Christian Rosenkreutz ist der Legende nach im Jahre 1484, ein Jahr nach dem Geburtsjahr von Martin Luther, gestorben. Die Fassade der Peterskirche wurde in den Jahren ab 1614 von dem Barockbaumeister Carlo Maderno ausgeführt. In diesen  Jahren wurden in Europa die drei Rosenkreutzer-Schriften veröffentlicht. 1614 erscheint zuerst die „Fama Fraternitatis“, in der der Name des C.R. zum ersten Mal öffentlich genannt wird. Die Rosenkreutzer wollten eine „General-Reformation“ einleiten, die dann leider durch die Machenschaften der Jesuiten, die zum Dreißigjährigen Krieg führten, vereitelt wurde. Die Jesuiten[3] sind die eigentlichen Widersacher der Rosenkreutzer und des johanneischen Christentums.
Nach der Besichtigung des Petersdomes fahren wir mit dem Bus zu den Thermen des Diokletian, in denen sich heute ein Teil des „Museo Nazionale Romano“ befindet. Den Grundstock bildeten die Kollektionen des Jesuitenzöglings und Kardinals Ludovici Ludoviso (1595 – 1632), der die Katholische Liga im Dreißigjährigen Krieg und den bayerischen Herzog Maximilian unterstützte und die Jesuitenkirche Sant Ignazio finanzierte, und des deutschen Jesuiten Athanasius Kircher. Eigentlich suche ich die „Venus Ludovisi“,  die in Max Frischs „Homo Faber“ beschrieben wird. Aber sie befindet sich nicht in diesem Gebäude des „Museo Nazionale“, sondern im Palazzo Altemps, den wir im Anschluss besuchen. Wir gehen relativ zügig durch die Ausstellung in den Diokletian-Thermen. Wieder faszinieren mich die dort ausgestellten Mithras-Darstellungen und eine Statue der ägyptischen Göttin Isis. Hier, in den weltlichen Thermen, in denen über 3000 Menschen ihrem Badevergnügen nachgehen konnten, stoße ich auf Relikte antiker Esoterik.


Nach dem Besuch der Diokletian-Thermen werfen wir noch einen Blick in die Klosterkirche der Kartäuser, „Santa Maria degli Angeli“. Der Kirchenraum wurde vom greisen Michelangelo, dessen letztes Werk er ist, in die antiken Thermen integriert. Mein besonderes Interesse gilt dem quer durch die Kirche laufenden Meridian Roms, der „Linea Clementina“ aus dem Jahre 1703. Eine Öffnung hoch oben in der Wand gestattet es der Sonne zu bestimmten Zeiten, die astronomische Position im Tierkreis anzuzeigen. Diese Verbindung eines Meridians mit einer Kirche erinnert mich an Saint Sulpice in Paris, durch die der ursprüngliche Null-Meridian, die sogenannte „Rosenlinie“, verlief.
Mit dem Bus fahren wir zurück in die Nähe unseres Quartiers, wo sich nördlich der Piazza Navona auf der Piazza Sant‘ Apollinare der Palazzo Altemps befindet, ein erstaunlich gut bestücktes Museum. Hier finde ich endlich die gesuchte Venus-Darstellung aus dem 5. Vorchristlichen Jahrhundert, die ich aus „Homo Faber“ kenne. Ich zitiere aus dem ADAC-Führer (S74):


„Faszinierend und zugleich rätselhaft ist der Trono Ludovisi. Das Marmorrelikt wurde 1887 auf dem Grundstück der Villa Ludovisi in Rom gefunden und von der Forschung als griechisches Meisterwerk des Strengen Stils (460 v. Chr.) identifiziert. Seine lyrischen Reliefdarstellungen entziehen sich bis heute einer eindeutigen Interpretation, da deren Ikonographie mit keinem anderen Werk der Antike vergleichbar ist. Während auf der linken Wange des Throns ein die Doppelflöte spielendes Mädchen sitzt und auf der rechten eine mit Weihrauch hantierende Dame, zeigt das Hauptbild wohl eine Göttin (Aphrodite oder Persephone), die von zwei Dienerinnen an den Achseln aus der Tiefe gezogen wird.“
Hier wird also bei der Interpretation des Reliefs noch offen gelassen, ob es sich bei der Dargestellten um Venus oder um Persephone handelt
Die Beschriftung im Museum dagegen legt sich fest: „ Die Vorderfront des dreiseitigen Reliefs zeigt die Geburt der Venus aus dem Schaum des Meeres. Dabei wird sie von zwei Horen gehalten, Gottheiten der Natur und der Jahreszeiten, von denen die linke ein Peplum und die rechte ein Chiton trägt. Auf der rechten Seite spielt eine junge, nackte Frau die Doppelflöte, auf der linken Seite füllt eine bekleidete Frau Weihrauch in ein Gefäß. Beide Frauenfiguren wurden als Aphrodite-Priesterinnen interpretiert, wobei die eine die weltliche, die andere die himmlische Liebe repräsentiert.“ (Übersetzung aus dem Englischen von mir).
Damit wären wir wieder bei dem Thema, das etwa zweitausend Jahre später auch Tizian in seinem berühmten Bild in der Villa Borghese dargestellt hat.
In dem flötenspielenden Mädchen sieht Homo Faber seine Geliebte und Tochter Sabeth, die auch Flöte spielt und in der frontalen weiblichen Figur, die aus der Tiefe aufsteigt, die Liebesgöttin. Es kann aber genauso gut Persephone sein, die im Sommerhalbjahr aus der Unterwelt zurückkehrt, in die sie Hades entführt hat.


                       


In dem Roman „Homo Faber“ wird dieses eleusinische Mysterium in einer modernen Form variiert. Das ist für mich das Faszinierende an dem Roman. Walter Faber ist im Grunde Hades, der seine eigene Tochter, Sabeth, ins Reich des Todes entführt. Hannah, die Mutter, ist aber im Gegensatz zu Persephones Mutter Demeter ohnmächtig, ihre Tochter wieder zurückzuholen, auch wenn es nur für ein Sommerhalbjahr ist. So bricht der ewige Winter über die moderne Welt herein, der Winter der Todestechnik, für die Faber steht. Die Auferstehung Persephones findet rein innerlich statt, weil Faber plötzlich, angeregt durch das Vorbild seiner Tochter, poetisch wird.
Es bereitet mir eine unglaubliche Befriedigung, dieses Relief hier in diesem schönen Palazzo zum ersten Mal im Original zu sehen, und zwar mit den Augen Max Frischs, der seinen Roman im Jahre 1957 spielen lässt. Der mythologische Hintergrund des Romans hat sich mir erst erschlossen, nachdem ich das Buch schon mehrmals in der 11. Klasse des Gymnasiums mit meinen Schülern gelesen hatte. Immer mehr gelang es mir im Laufe der Jahre, in die Welt dieses Romans einzutauchen und seitdem ist er Teil meines Lebens.
Das Relief von der „Geburt der Venus“ berührt mich deshalb so sehr, weil es ein Urbild der „Entschleierung“ ist. Entschleierung und Verschleierung halten sich in dem Moment der Darstellung exakt das Gleichgewicht.
Neben vielen anderen großartigen antiken Statuen und Reliefs, die wir im Vorüberschreiten anschauen, gefällt mir besonders ein weiteres Werk, das ich aus „Homo Faber“ kenne und das ich hier zum ersten Mal im Original sehen darf: der „Kopf der schlafenden Erinnye“.


Wieder umweht mich so etwas wie Mysterienstimmung. Dabei hilft, dass relativ wenig Besucher dieses Museum bevölkern und wir zeitweise ganz unter uns sind. Ich fühle mich wie herausgehoben aus dem Großstadtgetümmel und seinem Lärm. Dieser Palazzo ist eine Oase des Friedens und der Schönheit, viel mehr als es bei der Villa Borghese der Fall war.
In der Ludovisi-Kollektion im Palazzo Altemps befindet sich auch die römische Kopie einer von Alexander dem Großen selbst in Auftrag gegebenen Bronze-Büste des Aristoteles.


Es ist ein Zeichen unserer tiefen Verehrung für diesen großen Geist, die uns vor diesem Bildnis verweilen lässt. Ob Kaiser Hadrian, der diese Kopie anfertigen ließ, geahnt hat, dass er dieser Individualität zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ludwig Polzer-Hoditz wiederbegegnen würde?
Der antike Philosoph ist wahrhaft ein Riese, auf dessen Schultern alle nachfolgenden Philosophen Platz hätten.
Wir betrachten noch weitere berühmte Skulpturen aus der Sammlung, so zum Beispiel die Ludovisische Juno, die über Goethe, der eine Kopie von ihr erwarb, zum großen Vorbild der klassizistischen Bildhauer des 18. Jahrhunderts wurde, und natürlich die antike Statue „Tod der Galatea“, die man zusammen mit einer zweiten, „Tod des Galliers“, in den ehemaligen Gärten Caesars, auf denen später die Villa Ludovisi errichtet wurde, gefunden hat.


Zu Mittag kehren wir in ein günstiges Restaurant auf der Piazza Saint Apollinare ein. Anschließend mache ich allein noch einen kurzen Abstecher zur gotischen Dominikaner-Kirche Santa Maria sopra Minerva, in der sich das bescheidene Grab des Malers Fra Angelico befindet. Die Kirche, in der auch die Heilige Katharina von Siena ihre letzte Ruhestätte fand, wurde über einem antiken Minerva-Tempel erbaut. Ich bewundere auch den Obelisk vor dem Eingang, der von einem Elefanten getragen wird. Diese außergewöhnliche Konstruktion geht auf einen Entwurf Berninis zurück.
Ich mache mich an diesem Nachmittag allein auf den Weg: über die Via del Corso, die Verlängerung der antiken Via Flaminia, gelange ich zur Piazza del Popolo, die mich irgendwie anzieht. Ich möchte noch einmal die Kunstwerke in der Kirche Santa Maria del Popolo besichtigen.
„Die Renaissance-Kirche, die Papst Sixtus IV. della Rovere 1472 errichten ließ, birgt einige der großartigsten Kunstschätze Roms“ (DK-Führer, S 140). Der Bau der ersten Kirche ist 1099 unter Papst Paschalis II über den Gräbern der Familie Domitia errichtet worden, zu der auch Kaiser Nero gehörte. An der Stelle, wo seine Urne lag, wuchs später ein Walnussbaum. Die Raben, die in dem Baum lebten, galten der Legende nach als Dämonen, die Nero wegen seiner furchtbaren Untaten – unter anderem die Kreuzigung Petri – quälten. Papst Paschalis (1099 – 1118) hörte davon, ließ fasten und beten und hatte am dritten Tag eine Marienvision. Ihm wurde „befohlen“, den Baum zu fällen und an seiner Stelle eine Marienkirche zu errichten. Dadurch wurde der Ort von den Dämonen, die auch die Passanten der Porta del Popolo belästigten, befreit.
In der Cerasi-Kapelle links vorne hängen einander gegenüber zwei Meisterwerke des Barock-Malers Caravaggio: „Die Kreuzigung des Heiligen Petrus“ und „Die Bekehrung des Heiligen Paulus“.


Die grelle Beleuchtung und die ungewöhnliche Perspektive sind typisch für den etwas exaltierten Stil dieses merkwürdigen Meisters des Frühbarock (1571 – 1610), der eigentlich Michelangelo Merisi hieß. Er hat das „Chiaroscuro“ (Hell-Dunkel) erfunden. Sein Leben ist von Legenden umrankt. Er malte im Auftrag vieler geistlicher Würdenträger, darunter auch des Kardinals Scipione Borghese. Wegen eines Totschlages wurde Caravaggio 1606 aus Rom verbannt, lebte einige Jahre auf der Insel Malta, wo er Mitglied des Malteserordens wurde, dann in Neapel und starb schon mit 38 Jahren.
Caravaggio hat immer wieder Maria Magdalena gemalt, zum Beispiel „Die reuige Magdalena“ (Maddalena penitente, Rom, Galeria Doria Pamphilj), „Martha bekehrt Magdalena“ oder auch „Magdalena in Extase“. Dabei stand ihm eine Prostituierte, von der man sogar den Namen kennt, Modell. Dieselbe Prostituierte stand auch Modell für die Pilgermadonna aus der Cavaletti-Kapelle in der Kirche Sant‘ Agostino, die wir am ersten Tag unserer Rom-Reise besichtigten. Der Kunsthistoriker Boris von Brauchitsch stilisierte Caravaggio zum „Antipoden des schönen, reinen, göttlichen Raphael“.
Auch in dieser Kirche gibt es neben den beiden Werken Caravaggios wieder etwas von Raphael zu bewundern. Dieses Mal handelt es sich nicht um Malerei, sondern um Architektur. Die auf einem kreuzförmigen Grundriss erbaute Grab-Kapelle wurde für den römischen Bankier Agostino Chigi nach Plänen Raphaels errichtet und ist sozusagen eine Miniaturausgabe des Petersdoms.
Agostino Chigi (1466 – 1520) war der Bankier dreier Päpste (Alexander VI., Julius II. und Leo X.) und Auftraggeber und Mäzen Raphaels und anderer Künstler. Er starb am 10. April 1520, nur vier Tage nach Raphael, und wurde, außergewöhnlich für einen Bankier, wie ein Geistlicher in einer eigenen Kapelle begraben, eben der Chigi-Kapelle. Nicht nur die Architektur, sondern auch die Ausstattung und das Bildprogramm der Kapelle gehen auf Raphael zurück. Dabei werden christliche Vorstellungen mit Gedanken aus Platons „Timaios“ verknüpft. Dazu gehören die Kuppel-Mosaiken. Sie zeigen  Gottvater, den „Schöpfer des Firmaments“ in der zentralen Kuppel. Das Bild erinnert mich an Michelangelos kräftige, Licht und Finsternis trennende Schöpfergestalt aus der Sixtinischen Kapelle. Gottvater ist umgeben von der Sonne und den Allegorien der sieben Planeten. Die Mosaiken wurden nach seinen Kartons noch zu Lebzeiten Raphaels 1516 von dem Venezianer Luigi di Pace ausgeführt.


Auch zwei von den vier Statuen gehen auf Raphael zurück. Sie wurden 1516 in seinem Auftrag von dem Florentiner Bildhauer Lorenzetti geschaffen und zeigen Jonas (mit dem Wal) und Elias. Wieder erschließt sich mir der symbolische Hintergrund der Figuren: Es sind Allegorien der Elemente Wasser (Jonas, der drei Tage im Bauch eines Wals überlebte) und Feuer (Elias, der mit dem feurigen Wagen zum Himmel fuhr). Sie stehen aber auch für die Initiation, wie ich an anderer Stelle schon bemerkt habe: für die „Wasserprobe“ und für die „Feuerprobe“.
Auf Veranlassung eines Nachkommens von Agostino Chigi, Fabio Chigi, der 1655, mitten im Dreißigjährigen Krieg, als Papst Alexander VII. auf den Thron Petri stieg, musste die Kapelle in den Jahren 1652 bis 1656 von Gian Lorenzo Bernini im Zeitgeschmack des Barock umgestaltet werden. So entstanden die zwei weiteren Skulpturen, die heute noch zu besichtigen sind: Berninis „Daniel in der Löwengrube“ (Element Erde) und „Habakuk und der Engel“ (Luft)[4].


Für den Rückweg wähle ich die Via di Ripetta, die mich an der Ara Pacis und am Mausoleum des Kaisers Augustus vorbeiführt.
Die Bruchstücke des Friedensaltars wurden seit dem 16. Jahrhundert zusammengetragen und ab 1938 begann man, den  Altar in einem Pavillon wieder aufzubauen. Heute befindet er sich in einem 1999 errichteten modernen Gebäude des Architekten Richard Meier. Mit dem Friedensaltar wollte der erste Kaiser Roms (28 v.Chr. bis 14 n. Chr.) demonstrieren, dass er nach dem Sieg über „Hispania“ und „Gallia“ eine Zeit des Friedens (Pax Romana) eingeleitet hatte. Die Ara Pacis wurde 13 v. Chr. vom Senat in Auftrag gegeben und 9 v. Chr. vollendet.
In dem 28 v. Chr. errichteten Mausoleum wurden neben der Urne des Kaisers auch die Urnen vieler seiner Angehörigen, die zum Teil durch Gift ums Leben gekommen sind, aufbewahrt, so zum Beispiel die seines Lieblingsneffen Marcellus, der mit seiner Tochter Julia verheiratet war. Dieser starb 23 v. Chr., möglicherweise vergiftet von Augustus‘ zweiter Frau Livia, die ihren Sohn Tiberius als Nachfolger auf dem Kaiserthron sehen wollte.
So zieht sich an diesem Tag ein untergründiger roter Faden von den Eleusinischen Mysterien (Demeter und Persephone) über Aristoteles, Cäsar, Augustus, Nero und Hadrian bis zu den neuplatonischen Mysterien in der Chigi-Kapelle (Planeten und Elemente). Vielleicht kann man deswegen mit Recht von „Wiedergeburt“ (Renaissance) sprechen, weil die antiken Mysterien gerade im Florenz und Rom der anbrechenden Neuzeit wieder belebt wurden, allerdings nun um eine christliche Dimension erweitert.
Auch ein dunkles Gegenbild der Heiligen Mysterien, dem ein amerikanischer Schriftsteller zur Popularität verhalf, hat sich am Beginn unseres Jahrhunderts über die Ewige Stadt gelegt.

Freitag, den 20. Februar 2015

Am Vormittag verlassen wir die Stadt und fahren mit dem Zug vor die (antiken) Mauern. Unser Ziel ist die Basilika San Paolo fuori le Mura in Ostense, einem südlichen Vorort von Rom.
Das imposante Gebäude ist eine exakte Rekonstruktion der Basilika aus dem 4. Jahrhundert. Bereits Kaiser Konstantin soll angeregt haben, dass über der Begräbnisstätte des Apostels Paulus eine Kirche errichtet wird. Damit begann 386 Kaiser Theodosius I. Im 5. Jahrhundert war die neue Pauluskirche größer als Sankt Peter in Rom. Am 15. Juli 1823 brannte die Basilika nach 1435 Jahren bis auf die Grundmauern ab. Sie wurde in einem nationalen Akt zwischen 1840 und 1855 wieder aufgebaut.  Sie gehört mit San Giovanni di Laterano, Santa Maria Maggiore und Sankt Peter zu den vier päpstlichen Hauptkirchen der Ewigen Stadt und ist eine der sieben Pilgerkirchen Roms.


Die fünfschiffige Basilika ist kaum besucht. So genießen wir im einfallenden Vormittags-Licht den großzügigen Raum mit seinem Wald von über 80 Marmorsäulen und seinem glänzenden Marmorboden. Im Gegensatz zu Sankt Peter erscheint hier der Raum nicht überladen, sondern klar gegliedert. Der Blick wird nicht abgelenkt. Wir wandeln durch die Halle und stoßen schließlich auf die „Confessio“, die Stelle, an der der 67 nach Christus enthauptete Apostel Paulus begraben sein soll. Darüber liegt der Hauptaltar, an dem nur der Papst die Messe halten darf. Er wird von einem gotischen Ziborium geschützt, das im 13. Jahrhundert von Arnolfo di Cambio geschaffen wurde, der ab 1276 in Rom weilte und für Karl von Anjou[5], den „Totengräber“ der Stauferdynastie, tätig war.
An den Wänden über den Säulen zieht sich ein langes Band mit den Porträts von 265 Päpsten um den gesamten Innenraum. Nach der Legende soll Christus „wiederkommen“, wenn kein Platz mehr für ein weiteres Porträt vorhanden ist. Nach dem Tod Johannes Pauls II. waren nur noch drei Plätze übrig. Inzwischen sind bereits die Nachfolgepäpste Benedikt XVI. und Franziskus in die Reihe aufgenommen. Nun ist nur noch ein Platz frei.


Anschließend begeben wir uns in den mit vier Palmen geschmückten und von Marmor-Kolonaden umrahmten Vorbau (Paradies) mit seinem typisch mediterranen Flair.
Wir verlassen die Basilika und suchen die nächste Bushaltestelle. Auf dem Weg dorthin entdecke ich eine Tafel, auf der eine Passage aus dem Romreisebericht des französischen Dichters Stendhal (1783 – 1842) zitiert wird. Stendhal kam am 16. Juli 1823, also einen Tag nach dem Brand, hierher und stand ergriffen vor den rauchenden Trümmern der Basilika. Ich übersetze die Stelle aus „Promenades dans Rome“ (Paris 1829):
„Ich besuchte San Paolo am Tag nach dem Brand. Ich fand eine strenge Schönheit und einen Abdruck des Unglücks, von denen innerhalb der schönen Künste nur die Musik von Mozart einen Eindruck geben kann. Alle Spuren verwiesen auf den Schrecken und die Unordnung dieses unglücklichen Ereignisses. Die Kirche war übersät mit den schwarzen, rauchenden und halbverbrannten Balken des Dachstuhls; große Reste der von oben bis unten gespaltenen Säulen drohten bei der kleinsten Erschütterung einzustürzen. Die Römer, die die Trümmer besichtigten, waren konsterniert. Das war eines der schönsten Schauspiele, die ich in meinem Leben sah. Allein dafür hat sich die Reise nach Rom im Jahr 1823 gelohnt.“


Stendal war ein Bewunderer Johann Joachim Winkelmanns (1717 – 1768), einem anderen berühmten Romreisenden. Die Bewunderung ging so weit, dass sich der Autor von „Rot und Schwarz“ und der „Kartause von Parma“, der eigentlich Marie-Henri Beyle hieß, den Namen des Geburtsortes des Begründers der Kunstgeschichte und der wissenschaftlichen Archäologie als Pseudonym zulegte: Stendhal.
Winkelmann, der insgesamt viermal in Rom war und dort 1763 durch Papst Clemens XIII. zum Aufseher der Altertümer im Kirchenstaat und zum „Scrittore“ in der Bibliotheca Vaticana ernannt wurde, hat das geflügelte Wort „von edler Einfalt und stiller Größe“ geprägt, Eigenschaften, die er bei den griechischen Kunstwerken entdeckt hatte. Dieses Wort beschreibt meinem Empfinden nach auch sehr gut die Ausstrahlung der Basilika des Heiligen Paulus vor den Mauern, die sich ja an antiken Bauwerken orientiert. Nur umgeben hier die Säulen nicht wie bei den griechischen Tempeln den Raum, das „Naos“, sondern sind nach innen, ins „Kirchenschiff“, verlegt. Goethe würdigte Winkelmann und seinen Einfluss auf den „Klassizismus“ in einer 1805 erschienen Schrift mit dem Titel „Winkelmann und sein Jahrhundert“. Auch Goethes „Italienische Reise“ enthält zahlreiche Rückbezüge auf Winkelmann.
Wir fahren mit dem Bus bis zur Ponte de Subiaco. Diese überqueren wir zu Fuß und spazieren an einem großen Krankenhaus vorbei, das den Namen des Erzengels Michael trägt, durch den rechts des Tibers liegenden Stadtteil Trastevere. So gelangen wir schließlich zur vermutlich ältesten Kirche, sicher aber zur ältesten Marienkirche Roms, zu Santa Maria in Trastevere. Der heutige Bau stammt allerdings aus dem 12. Jahrhundert und wurde von Papst Innozenz II. veranlasst. An der Stelle, wo sich heute der Chor der Kirche befindet, sprudelte im Jahr 38 vor Christus Öl aus einer Quelle. Sie befindet sich heute hinter der Chorschranke und wird mit einer Inschrift „fons olei“ bezeichnet. Die damals in Rom ansässigen Juden sahen in dem Ausströmen des Öls eine Prophezeiung auf den bald erscheinenden Messias. Die Christen bezogen das Wunder 200 Jahre später auf den um die Zeitenwende geborenen Jesus Christus.
Im Heiligen Jahr 1525 diente die Kirche zum ersten Mal als Ersatz für die vom Tiber überschwemmte Pauluskirche vor den Mauern. Auch in den Heiligen Jahren 1625, 1700 und 1825 musste Santa Maria in Trastevere die Gläubigen von San Paolo aufnehmen, zum einen, weil vor den Mauern Epidemien grassierten, zum anderen, weil 1823 die Basilika durch den Brand zerstört worden war.
Die Marmorsäulen aus den Caracalla-Thermen geben dem Innenraum der dreischiffigen Basilika das typische Flair der römischen Antike. Beeindruckend sind aber vor allem die Mosaiken in der Apsis aus dem 12. Jahrhundert, die noch ganz im byzantinischen Stil gehalten sind, und die Mosaiken in der unteren Apsis-Wand und am Triumphbogen aus dem 13. Jahrhundert, die in sechs Szenen das Marienleben in teils recht realistischer Weise darstellen.
Wir finden nach der Besichtigung nicht weit von der Kirche ein nettes Restaurant, in dem wir zu Mittag essen.
Über die Tiberinsel, auf der in der Antike an der Stelle, wo sich heute die Kirche San Bartolomeo all’Isola erhebt, ein Asklepios-Tempel stand und deren eine Hälfte bis heute ein Krankenhaus einnimmt, gelangen wir wieder auf die linke Tiberseite. Unser nächstes Ziel sind die Kapitolinischen Museen auf dem Kapitols-Hügel.


Über die „Cordonata“, die breite Treppe, gelangen wir zur Piazza di Campidoglio, die nach Plänen von Michelangelo gestaltet wurde. In der Mitte befindet sich eine Kopie des Reiterstandbildes, das den Kaiser Marc Aurel zeigt. Das Original steht im Palazzo dei Conservatori, einem der zwei Museums-Gebäude. Der andere ist der nach einem Entwurf  von Michelangelo hinzugefügte Palazzo Nuovo. Im Jahre 1734 öffnete Papst Clemens XII. Corsini den Palast mit seinen Kunstsammlungen für die Öffentlichkeit und schuf dadurch das erste Museum der Welt. Zwischen den beiden Palästen, dem Palazzo Nuovo im Nordosten und dem Palazzo dei Conservatori im Südwesten steht ein dritter Palast, der Palazzo Senatorio. Er beherbergt die Amtsräume des römischen Bürgermeisters. In seinen prunkvollen Renaissance-Räumen versammelt sich heute noch der Stadtrat, die „Comune di Roma“.
Wir beginnen unseren Rundgang im Palazzo dei Conservatori, an dessen Stelle sich in der Antike der Jupiter-Tempel erhob. Dieser Tempel „war Mittelpunkt der römischen Welt. Nahezu alle religiösen und politischen Zeremonien fanden an diesem Ort statt. Der Kapitolshügel mit dem Tempel wurde zum Sinnbild für die Bedeutung Roms als Caput Mundi, Hauptstadt der Welt.“ (DK-Führer, S 67). Dem Jupiter-Tempel gegenüber stand in der Antike der Juno-Tempel. An seiner Stelle erhebt sich heute die Marienkirche Santa Maria in Aracoeli, der wir nach dem Museum einen Besuch abstatten werden.
Östlich des Kapitolshügels erstreckt sich das Forum Romanum mit seinen zahlreichen Ruinen. Auf dieses werfen wir beim Durchgang zwischen den beiden Museumstrakten unter dem Senatorenpalast nur einen Blick. Wir haben nicht die Zeit, uns in diese vergangene Welt zu vertiefen, obwohl sie in Rom überall gegenwärtig ist und in der Stimmung mitschwingt. Unseren Rundgang beenden wir im Palazzo Nuovo.
Der Konservatorenpalast beherbergt das originale Reiterstandbild Marc Aurels, einen Kollossalkopf des Kaisers Konstantin mitsamt Fragmenten seiner Hand und seines Armes, die Fundamente des kapitolinischen Tempels und jene berühmte Bronzestatue, die als Symbol der Stadt Rom gilt, die „kapitolinische Wölfin“. Dabei ist bis heute nicht klar, ob es sich um eine antike oder eine mittelalterliche Skulptur handelt.
Der Wolf war bei den Römern das Symboltier des Kriegsgottes Mars. Mars gilt als Vater der Zwillinge Romulus und Remus, die nach ihrer Geburt ausgesetzt und von einer Wölfin gesäugt wurden. Ihre Mutter war Rhea Silvia, die Tochter des Königs von Alba Longa, Numitor Silvius, der von seinem Bruder Amulius entmachtet worden war. Die beiden Brüder gründeten nicht weit von Alba Longa selbst eine Stadt, konnten sich aber nicht einigen, wer sie regieren sollte. So kam es zum Zweikampf, in dem Romulus seinen Bruder Remus erschlug. Nun konnte jener die Stadt, die seinen Namen erhielt, regieren.


Mehr als diese römische Wölfin bewundere ich jedoch die zahlreichen Darstellungen des „guten Hirten“, die ich in diesem Museum entdecke. In den frühchristlichen Jahrhunderten war diese früheste Darstellung des Erlösers weit verbreitet und nimmt ein antikes Motiv auf (so zum Beispiel aus dem Totenkult der Mithras-Religion). Erst viel später, in der romanischen Zeit, wurde der den Tod überwindende, später, in der Zeit der Mystik, der leidende Christus am Kreuz dargestellt.


Wir kommen auch an dem Sitz-Bild des Karl von Anjou vorbei, das Arnolfo di Cambio zugeschrieben wird. Eine Tafel mit ausführlichen historischen Angaben verweist auf das Jahr 1266, in dem Karl von Anjou  Manfred von Hohenstaufen, den Sohn Friedrichs II., in der Schlacht von Benevent (26. Februar 1266) schlug, nachdem er sich bereits am Dreikönigstag 1266 von Papst Clemens VII., einem Franzosen, in der Lateransbasilika San Giovanni zum König von Sizilien krönen gelassen hatte und damit die ca. 70jährige Herrschaft der Staufer auf dieser kulturell hochstehenden Insel zu beenden trachtete.


Diese zwielichtige Gestalt läuft mir immer wieder „über den Weg“ und ich weiß nicht, was mich mit ihr verbindet. Ich schätze die Mutter, Blanca von Kastilien, eine Enkelin Eleanors von Aquitanien und Nichte von Richard Löwenherz, und seinen Bruder, Ludwig IX., den Heiligen, sehr. Aber gegen Karl von Anjou hege ich eher negative Gefühle. Das hängt natürlich auch mit der grausamen Hinrichtung des letzten Staufers und rechtmäßigen Erben der Dynastie, Konradin und seines Freundes, Friedrich I. von Baden, sowie dreier weiterer Begleiter am 29. Oktober 1268 auf dem Marktplatz von Neapel zusammen.
Wie sehr diese Figur in der Herrschergebärde der Bronze-Statue des Petrus aus dem Petersdom gleicht, ist wirklich erstaunlich.  Beide erscheinen mir „aus dem gleichen Holz“ geschnitzt.


Im Palazzo Nuovo bewundern wir in der Halle der Philosophen vor allem eine wunderschöne Büste Homers, in einem eigenen Saal die Kapitolinische Venus, die Marmor-Kopie einer Statue des Bildhauers Praxiteles aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert, und den „Sterbenden Gallier“, ebenfalls eine römischen Kopie einer griechischen Arbeit aus dem 3. Jahrhundert. Das Gegenstück, „Der Tod der Galatea“, hatten wir am Vortag im Palazzo Altemps besichtigt.
Die Fülle der Kunstwerke scheint uns zu erschlagen und so entschließen wir uns, das Museum zu verlassen, ohne dass wir die Gemäldesammlung angeschaut hätten. Es ist einfach zu viel an einem Nachmittag.
Wir beschließen unseren Rundgang mit einem Besuch der Kirche Santa Maria in Aracoeli, die auf dem nördlichen Teil des Hügels steht, der in der Antike noch durch eine Vertiefung vom südlichen Kapitol-Hügel getrennt war. Er hatte auch einen eigenen Namen und hieß Arx. Das erinnert mich an die Topographie der Heiligen Stadt Jerusalem, die ebenfalls auf zwei Hügeln erbaut wurde, auf dem fruchtbaren Berg Zion und dem kargen Fels Moria. Getrennt waren die beiden Hügel durch die Kidron-Schlucht, die später aufgeschüttet wurde, genau wie die Vertiefung zwischen Arx und Kapitol. In Rom wurde darüber der Platz mit seinen drei Palästen gebaut, in Jerusalem die Grabeskirche.
Samstag, der 21. Februar 2015

Als erste Kirche des Tages besuchen wir Santa Maria della Pace (Heilige Maria des Friedens), die bisher verschlossen war. Die Kirche wurde von Papst Sixtus IV. della Rovere 1482 in Auftrag gegeben als Dank für einen Sieg über die Türken. Berühmt ist die halbrunde Barockfassade von Pietro da Cortona und der Kreuzgang, das erste gesicherte Werk des Renaissance-Architekten Bramante. Was uns jedoch besonders interessiert, sind die Fresken Raphaels in der Chigi-Kapelle. Ursprünglich wollte der Bankier hier seine letzte Ruhestätte finden. Er beauftragte seinen Freund Raphael, die Kapelle auszumalen. Das tat der Künstler im Jahre 1514. Eigenhändig schuf er die Fresken der vier Sibyllen (Cumea, Persica, Phrygia und Tiburtina) auf der Südwand über dem Eingang zur Kapelle. Wenn man sie genauer betrachtet, so könnten sie die vier Lebensalter darstellen: es fängt ganz links mit der jüngsten an und endet ganz rechts mit der ältesten. Leider kann ich die Zeichen auf den Tafeln und Schriftrollen nicht deuten. Aber es gibt bei Wilhelm Kelber ein ganzes Kapitel über Raphaels Arbeiten für Agostino Chigi, das ich bei Gelegenheit studieren werde.


Darüber in der Fensterzone malte Raphaels väterlicher Freund Timoteo Viti in Raphaels Auftrag die vier Propheten. Den Unterschriften entnehmen wir, dass  es  nicht die traditionellen  vier „großen“ Propheten, Daniel, Hezechiel, Jeremia und Jesaja sind, sondern nahezu die gleichen wie in der Chigi-Kapelle in Santa Maria del Popolo: Habakuk, Jona und Daniel könnten wieder als Vertreter der Elemente dargestellt sein. Nur an die Stelle von Elias tritt laut Unterschrift ein König, nämlich David. Wenn ich aber Aussehen und Haltung der Gestalt näher betrachte, dann kann es sich nicht um einen König, sondern muss es sich um einen Propheten handeln. Er trägt die typische Schriftrolle in der Hand und auf dem Kopf eine Kopfbedeckung, aber keine Krone. Außerdem ist er für eine Darstellung Davids viel zu alt.
Hier herrscht ein Rätsel. Das könnte mit der Inkarnation Raphaels als Elias zusammenhängen. Vielleicht wollte er sich hier nicht so deutlich offenbaren und seine wahre Identität verschleiern.
Nach der Besichtigung machen wir noch einen Abstecher zur nahegelegenen Piazza Campo dei Fiori, dem „Blumenmarkt“, auf dem aber neben Blumen vor allem wohlduftendes Gemüse und Obst angeboten wird. Mitten auf dem Platz ragt aus den Obst- und Gemüseständen eine überlebensgroße Statue heraus: Es ist der Dominikanermönch Giordano Bruno, der am 17. Februar 1600 an dieser Stelle unter Papst Clemens VIII. als Ketzer verbrannt wurde.
Auf dem Rückweg zu unserem Hotel zeige ich Dieter die Kirche Santa Maria sopra Minerva, in der ich am Vortag alleine war und wir verabschieden uns sozusagen von Fra Angelico und Katharina von Siena.
Zum Mittagessen lade ich Dieter ins Nobel-Restaurant „Hostaria L‘Orso 80“ ein. Ich esse zum ersten Mal köstliche italienische Antipasti. Es ist sozusagen unser Abschiedsessen von Rom.


Heute ist unser Abreisetag. Es regnet. Wir besuchen noch einmal die Kirche Santa Maria del Popolo, weil ich Dieter die beiden Altartafeln von Caravaggio und die Chigi-Kapelle zeigen will. Anschließend trinken wir in einem teuren Cafe am „Volksplatz“ einen letzten Cappuccino. Er kostet sieben Euro. An der Ara Pacis und am Mausoleum des Kaisers Augustus vorbei kehren wir, nicht ohne einen letzten Blick auf den Propheten Jesaja in Sant Agostino geworfen zu haben, zurück zu unserem Hotel, wo Dieter bezahlt. Wir nehmen unser Gepäck und fahren mit dem Bus zurück zum Bahnhof Termini, wo unser Zug nach München pünktlich  um 19.04 Uhr abfährt.



Abreise

Im Zug treffen wir einen interessanten Mitreisenden, Martin Kiess. Er war Mathematiklehrer, fährt aber jetzt durch ganz Italien und vermisst Kirchen. Ihn interessiert dabei vor allem ihre Ausrichtung. Er hat festgestellt, dass die wenigsten Kirchen exakt nach Osten ausgerichtet sind. Dieses Thema interessiert mich und wir kommen ins Gespräch. Dabei erklärt er uns auch das Prinzip der Heiligen Tetraktys. Und noch auf der Fahrt nach Hause begleitet uns so der geheimnisvolle Geist Raphaels, als wir erfahren, dass er seine „Grablegung“ aus der Villa Borghese nach diesem pythagoreischen Gesetz komponiert hat.
In München, wo wir am Sonntagmorgen ankommen, trennen sich unsere Wege. Dieter fährt zurück nach Braunschweig, ich zurück nach Ellwangen.





[1] Augustinus soll zur Zeit Christi als Judas Ischariot verkörpert gewesen sein, siehe Fußnote 2
[2] https://www.facebook.com/notes/richard-distasi/the-reincarnations-of-mary-magdalene-and-judas-iscariot/779878822048718?pnref=story  (Betrachtung vom 8. Januar 2015, ich habe allerdings meine Zweifel bei dieser Quelle)
[3] Der jetzige Papst, der Argentinier Baroglio, der den Papstnamen Franziskus gewählt und sich damit in eine ganz bestimmte, mir sympathische kirchliche Tradition gestellt hat, ist ebenfalls Jesuit. Es geht also nicht darum, den einzelnen Jesuiten als „Widersacher“ zu sehen, sondern die Grundeinstellung des Jesuitismus.
[4] Diese Statue spielt in Dan Browns Thriller „Angels & Demons“ (Illuminati) eine wichtige Rolle. In dem Roman werden die vier Elemente „Earth“, „Air“ „Fire“ und „Water“, die hier in einer Kapelle vereint sind, auf vier Werke Berninis an vier verschiedenen Orten Roms verteilt, in denen jeweils ein hoher geistlicher Würdenträger ermordet wird.
Zuerst wird ein deutscher Kardinal tot in der Chigi-Kapelle (Erde) aufgefunden, dann ein französischer auf dem Petersplatz (Luft), danach ein spanischer bei der „Verzückung der Heiligen Theresa“ in der Kirche Santa Maria della Vittoria (Feuer) und schließlich ein italienischer im „Vierströmebrunnen“ auf der Piazza Navona (Wasser). Jeder der vier Kandidaten für die anstehende Papstwahl trägt ein Brandzeichen auf dem Leib entsprechend dem Element, das ihn kennzeichnet. Diesen mörderischen Gang durch die Elemente nennt Brown nach einem angeblich im Geheimarchiv des Vatikans aufbewahrten Buch aus der Feder von Galileo Galilei (Diagramma della Verita) einen „Pfad der Erleuchtung“. Dieser zweifelhafte Initiationspfad endet im Roman am geheimen Treffpunkt der Illuminaten: in der „Engelsburg“.

[5] Arnolfo di Cambio hat außer der berühmten Sitzfigur des Heiligen Petrus im Petersdom (zwischen 1290 und 1300) vermutlich auch die bekannte Frontalplastik Karls von Anjou geschaffen, die regelmäßig bei Stauferausstellungen präsentiert wird (1977 Stuttgart, 2010 Mannheim) und die wir am Nachmittag im kapitolinischen Museum wiedersehen werden. Karl von Anjou war ein Sohn Blancas von Kastilien und der jüngste Bruder des französischen Königs Ludwig IX., dem Heiligen, der um das Jahr 1250 die Heilige Kapelle im Königspalast auf der Seine-Insel errichten ließ, um dort eine der wertvollsten Reliquien der Christenheit, die Dornenkrone, aufzubewahren.