Freitag, 7. Oktober 2016

Nero – eine Ausstellung in der ehemaligen Kaiserstadt Trier 2016 und der Beginn der Karma-Forschung in der ehemaligen Kaiserstadt Wien 1889


Das Schicksal Kaiser Neros (37 – 68 n. Chr.) und des habsburgischen Kronprinzen Rudolf von Habsburg (1858 – 1889), die beide beinahe auf den Tag genau in ihrem 31. Lebensjahr durch Selbstmord endeten, beschäftigt mich weiter. Ich habe eben den fünften Vortrag aus dem Zweiten Band der „Esoterischen Betrachtungen karmischer Zusammenhänge“ (GA 236) vom 27. April 1924 wieder gelesen, in dem Rudolf Steiner – nach mindestens 35 Jahren Geistesforschung – zum ersten Mal über diese Individualität spricht. In seinen einleitenden Worten berührt mich sein Appell an den Enthusiasmus, das Wunderbare im Alltäglichen zu bemerken:
„Das ist es ja, wonach von diesem Rednerpulte aus so oft der Seufzer ertönt ist: Man möge innerhalb anthroposophischer Kreise Enthusiasmus haben für das Suchen, Enthusiasmus haben für das, was eben im anthroposophischen Streben drinnenliegt. Und dieser Enthusiasmus muss wirklich damit beginnen, das Wunderbare in der Alltäglichkeit (kursiv: JS) wirklich als etwas Wunderbares zu ergreifen.“
Dieser  „Enthusiasmus“ für die kleinen Wunder jeden Tages, den hier Rudolf Steiner dreimal "seufzend" beschwört, ist für mich im Grunde der Kern allen anthroposophischen Strebens. Denn „Dann wird man eben (…) erst versucht sein, zu den Ursachen, zu den tiefer liegenden Kräften zu greifen, die dem uns umgebenden Dasein zugrunde liegen.“ (Ausgabe Dornach 1988, S 83)
Die Nero-Ausstellung, die ich am „Tag der Deutschen Einheit“ mit meiner russischen Freundin in der einstigen Kaiserstadt Trier erleben durfte, wirkt mächtig in mir fort. 
Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, den Katalog, den ich mir dort gekauft habe, zu studieren. Vor mir liegt das erste Buch, das die vorgestern (am 4.10.) mit 86 Jahren in Wien verstorbene deutsch-österreichische Historikerin Brigitte Hamann im Jahre 1978 über den „Kronprinz Rudolf“ verfasst hat, in der Neuauflage von 2005 (7. Auflage September 2015), die ich am 18. August in der Buchhandlung des Klosters Ettal bei Pater Michael gekauft habe. Das einzige Buch, das ich während unserer gemeinsamen Reise im August auf den Spuren Sissis und König Ludwigs II. dabei hatte, (siehe meinen Blog: http://jwsreise.blogspot.de/2016/08/ein-besuch-in-schloss-linderhof-konig.html) war eben Brigitte Hamanns drei Jahre später (1981) publizierte Biographie der Mutter von Kronprinz Rudolf: „Elisabeth. Kaiserin wider Willen“. Vor der Reise las ich daraus das 10. Kapitel mit dem Titel „Adler und Möwe“, das sehr gut das liebevolle Verhältnis der acht Jahre älteren Elisabeth zu ihrem Cousin Ludwig beschreibt: Sissi war „die Möwe“, Ludwig „der Adler“.
Warum erwähne ich all diese – scheinbar unwichtigen – Details? Eben aus jenem Enthusiasmus heraus, den ich den „Wundern des Alltags“ schulde.
In meinem Bericht von der „Schweizer Reise“ hatte ich schon begonnen, über „karmische Bezüge“ zwischen den damals verkörperten Menschen um Ludwig II. nachzudenken. Das konnte natürlich nur sehr rudimentär geschehen. Aber es ist ein Anstoß aus persönlichem Erleben gewesen. Und ich bin entschlossen, diesen Impuls weiter zu verfolgen. Es ist ganz klar, dass Kronprinz Rudolf zu diesem Kreis dazu gehört. Und es ist eine große Hilfe, dass wir durch Rudolf Steiner den wertvollen Hinweis auf die frühere Inkarnation dieser Individualität in dem erwähnten Karma-Vortrag vom 27. April 1924 überliefert haben.
Hinzuzuziehen wäre bei einer weiteren Erforschung der Zusammenhänge die mutige Untersuchung von Frank Berger über die Schicksale der Musiker der Jahrhundertwende und ihres schicksalsmäßigen Zusammenhangs mit der römischen Kaiserzeit, die er 2011 unter dem Titel „Bruckner, Mahler, Schönberg – eine karmische Spurensuche“ im Verlag Freies Geistesleben vorgelegt hat.
1978, das Jahr, in dem die Rudolf-Biographie von Brigitte Hamann erschien, habe ich an der Universität Stuttgart mein Studium mit dem Staatsexamen in den Fächern Germanistik und Geographie abgeschlossen und habe anschließend – statt mein Referendariat zu machen – zwei Jahre lang das Lehrer-Seminar beim Bund der Freien Waldorfschulen auf der Stuttgarter Uhlandshöhe besucht, das im Oktober des Jahres begann. 

Solch ein Satz, den ich bereits im Vorwort von Brigitte Hamanns Biographie von Kronprinz Rudolf lese, macht mich hellhörig: „Als 1888 Rudolfs Freund und Vorbild, der deutsche Kaiser Friedrich III., nach nur 99tägiger Regierung starb, endeten Rudolfs Träume von einem friedlichen, liberalen Europa.“ (S 11f).
Dieses Jahr 1888 muss ein besonderes Schicksalsjahr gewesen sein. Im (protestantischen) zweiten deutschen Reich herrschten in diesem Jahr drei Kaiser und deshalb heißt dieses Jahr in der Geschichte auch das „Dreikaiserjahr“. In diesem Jahr malte in Sankt Petersburg der russische Maler Smirnow, wie erwähnt, das in der Trierer Ausstellung gezeigte Monumentalgemälde „Neros Tod“, das auch in der Juni-Nummer des Geschichtsmagazins „Geschichte“ abgedruckt ist, das ich im Vorfeld der Ausstellung gekauft und später auch als Vorbereitung auf den Besuch gelesen habe.
Rudolf Steiner weist darauf hin, dass Kronprinz Rudolf noch zwei Tage vor seinem Doppel-Selbstmord, am 27. Januar 1889, dem Nachfolger des im Jahr zuvor verstorbenen Kaisers, Wilhelm II., bei einem Empfang in Wien zum Geburtstag gratulierte. Rudolf Steiner erzählt:
„Wie gesagt, als dieses Ereignis, das so erschütternd dazumal gewirkt hat, sich eben vollzogen hatte, war ich auf dem Wege zu Schröer. Ich bin nicht wegen dieses Ereignisses hingegangen, sondern ich war auf dem Wege zu Schröer. Es war sozusagen der nächste Mensch, mit dem ich über diese Sache sprach. Der sprach ganz unmotiviert: „Nero“ – so dass ich mich eigentlich fragen musste: Warum denkt der gerade jetzt an Nero? – Er leitete das Gespräch gleich ein mit „Nero“. Es erschütterte mich das Wort „Nero“ dazumal. Aber es erschütterte (kursiv: J.S.) mich um so mehr, als dieses Wort „Nero“ unter einem besonderen Eindrucke gesprochen war, denn zwei Tage vorher war ja, das ist auch öffentlich ganz bekannt geworden, eine Soiree bei dem damaligen deutschen Botschafter in Wien, bei dem Prinzen Reuß. Da war der österreichische Kronprinz auch anwesend und Schröer auch, und er hatte dazumal gesehen, wie der Kronprinz sich verhalten hat, zwei Tage vor der Katastrophe. Und dieses merkwürdige Verhalten zwei Tage vor der Katastrophe bei jener Soiree, was Schröer sehr dramatisch schilderte, und dann der Selbstmord zwei Tage darnach: dieses im Zusammenhange damit, dass da das Wort „Nero“ ausgesprochen wurde, das war etwas, was schon so wirkte, dass man sich sagen konnte: Jetzt liegt eine Veranlassung vor, den Dingen nachzugehen.“ (a.a.O. S 88 f)
In seiner üblichen Bescheidenheit weist Steiner an dieser Stelle am 27. April 1924 daraufhin, wie er 35 Jahre vorher mit seiner Karma-Forschung begonnen hatte. Thomas Meyer hat in seiner grundlegenden Untersuchung „Rudolf Steiners eigentliche Mission“, die ich vermutlich irgendjemandem ausgeliehen und nicht mehr zurückbekommen habe und deshalb seit Wochen vergeblich in meiner Bibliothek suche, auf diesen entscheidenden Moment deutlich hingewiesen.
Während ich eben das Zitat aus der Mitschrift des Vortrages niederschrieb, stolperte ich über das dreimal vorkommende Wort „erschütterte“ bzw. „erschütternd“. Es war mein hochverehrter Germanistik-Professor Heinz Schlaffer, der mich vor ungefähr 40 Jahren lehrte, auf solche Ausdrücke zu achten. Ich glaube, er benutzte selbst das Beispiel „erschüttern“ in einem literarischen Zusammenhang und erklärte, dass man sich bewusst machen solle, dass mit dieser Formulierung in literarischen Texten ein tiefgreifender Eindruck auf die Seele der betreffenden Figur ausgedrückt werde, der sein ganzes Leben ändern kann.
„Du musst dein Leben ändern“ heißt ein Buch des Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk aus dem Jahre 2009, das mir gestern (6.10) bei der Suche nach der „eigentlichen Mission“ ebenfalls in die Hände geriet, genau wie jenes andere Buch, in dem ich gestern vor dem Einschlafen noch zu lesen begann: „Verwandeln des Lebens“ von Andrej Belyj
Zuvor war ich in der Einleitung zum Katalog zur Trierer Ausstellung „Nero – Kaiser, Künstler und Tyrann“ im Aufsatz von Marcus Reuter, dem Leiter des „Rheinischen Landesmuseums Trier“, auf folgende Aussage gestoßen:
„Auch für den griechischen Autor Pausanias (ca. 115 – ca. 180) stand die Schlechtigkeit der neronischen Herrschaft außer Frage, er sah allerdings die Ursachen dafür in einer fehlgeleiteten Erziehung des Kaisers. Nero war seiner Meinung nach ein Beispiel für die Behauptung Platos, dass großes Unrecht „nicht von gewöhnlichen Menschen ausgeht, sondern von einer edlen Seele, die durch eine missratene Erziehung verdorben ist.“ (Katalog, Seite 18).
So gelange ich über Nero zu Plato, der ja, wie der Kenner weiß, im 19. Jahrhundert als Karl Julius Schröer wiederverkörpert wurde, nachdem er im Mittelalter schon einmal als Roswitha von Gandersheim auf Erden gewandelt war.
An jenem Abend, von dem Rudolf Steiner in seinem Karmavortrag erzählt, als er bei Karl Julius Schröer durch den Ausspruch „Nero“ so erschüttert wurde, dass er seine Karmaforschungen begann, hatten sich also die zwei bedeutendsten antiken Philosophen in Wien wieder getroffen: der Lehrer (Plato) und der Schüler (Aristoteles).
Im zweiten Aufsatz des Kataloges mit dem Titel „Neros Weg zur Macht“ spricht Jürgen Malitz, ein Historiker der Katholischen Universität Eichstätt, auch über den „mütterlichen Ehrgeiz“ von Neros Mutter Agrippina, die neben dem römischen Philosophen Seneca[1] wohl hauptsächlich für die Erziehung des jungen „Kronprinzen“ zuständig war. Malitz führt aus:
„Agrippina bemühte sich von Anfang an um das Wohlwollen des neuen princeps, umgekehrt achtete aber auch Claudius sehr auf seine Nichte, die schon aufgrund ihres Vaters Germanicus in der römischen Öffentlichkeit präsent war – und eben auch einen Sohn hatte. Claudius hatte aus seiner Ehe mit Messalina ebenfalls einen Sohn, den im Jahre 41 geborenen Britannicus. Ein Beispiel für Agrippinas geschickte Förderung ihres Sohnes war Neros erster öffentlicher Auftritt beim sogenannten Trojaspiel (Lusus Troiae) im Jahre 47, einem Reiterspiel der adligen Jugend – offenbar die einzige Berührung Neros mit den militärischen Aspekten der „Prinzenerziehung“. Der Enkel des Germanicus, der Ururenkel des Augustus erhielt rauschenden Beifall, deutlich mehr als der kleine Britannicus. (…) Kaum ein Jahr nach Neros Auftritt beim Trojaspiel wurde Messalina auf Befehl des Claudius als Ehebrecherin und Verschwörerin getötet. (…) Es ging Messalina bei allem, was sie tat, um die Sicherung der Nachfolge ihres Sohnes Britannicus; (…) Claudius war sich vollkommen darüber im Klaren, dass die verwitwete Agrippina durch eine weitere Ehe mit einem standesgemäßen Aristokraten eine Bedrohung für die Ansprüche seines Sohnes darstellte. Er hat sich am Ende dazu entschlossen, seine Nichte (Agrippina) zu heiraten. (…) Die angeblichen Verführungskünste der jungen Witwe und die Ratschläge seiner Höflinge haben sicher nicht den Ausschlag bei dieser Entscheidung gegeben. Claudius hatte erkannt, dass die unbarmherzig ehrgeizige Tochter des Germanicus allein durch eine Ehe mit dem princeps selbst unter Kontrolle gebracht werden konnte. Kein anderer als Claudius durfte im Jahr 49 der Stiefvater Neros werden. Wie sehr Agrippina alles bedacht hatte, was ihrem Sohn und ihr selbst von Vorteil sein könnte, zeigt die für zeitgenössische Verhältnisse ganz ungewöhnliche Entscheidung, im Jahre 49 die bisherigen Erzieher (…) abzulösen und die jetzt anstehende ‚gymnasiale‘ Ausbildung Neros nicht irgendeinem renommierten ‚Fachlehrer‘ (…) anzuvertrauen, sondern einem stadtbekannten römischen Intellektuellen und Schriftsteller: Lucius Annaeus Seneca. (…) Gleich nach der eigenen Hochzeit mit dem princeps kümmerte sich Agrippina um die Anbahnung der Ehe ihres Sohnes mit der damals etwa zehnjährigen Octavia, der Tochter des Claudius. (…) Im Jahre 53 heiratete der fünfzehnjährige Nero die damals etwa zwölfjährige Octavia, die Tochter des princeps. Wer wollte, konnte sich an den jungen Marcellus erinnern, Augustus‘ ersten Schwiegersohn. Eine weitere Steigerung von Neros Status als ‚Kronprinz‘ war im Rahmen der augusteischen Tradition nicht mehr denkbar – nur eingeschränkt durch den möglichen ‚Doppelprinzipat‘ mit Britannicus (…). Spätestens in das Jahr der Hochzeit sind Neros Auftritte im Senat zu datieren. Er plädierte – in griechischer Sprache – erfolgreich für die Streichung der steuerlichen Abgaben Troias, der Heimat des Aeneas, des Stammvaters der Römer. Einem jungen Redner, der sich direkt auf die Verwandtschaft mit Augustus (…) berufen konnte, stand das eher an als Britannicus, der ohnehin zu jung gewesen wäre für einen solchen Auftritt.“ (Katalog, verschiedene Seiten).
Also ist auch hier immer wieder die Rede vom „Kronprinz“.
Nun ist es interessant, was der österreichische Anthroposoph Ludwig Graf Polzer-Hoditz, dessen Bruder  Artur 1917 Kaninettschef des letzten Kaisers war,  in seinem 1928 zum ersten Mal veröffentlichtem „Opus Magnum“ (Thomas Meyer), „Das Mysterium der europäischen Mitte“, das 2012 im Basler Perseus-Verlag unter dem Titel „Der Untergang der Habsburgermonarchie und die Zukunft Mitteleuropas“ wieder aufgelegt wurde, in dem Kapitel IV („Der Abgrund zwischen den Mysterien der Vergangenheit und denen der Zukunft“) ausführt. Einleitend schreibt er zunächst folgende Sätze, welche die Stimmung skizzieren, mit der solche, das Karma der Menschen betreffenden Aussagen, aufgenommen werden sollten:
„Wir lernen durch karmische Betrachtungen, wenn wir uns in die eine oder andere Gruppe vertiefen, auch zu leben in den Persönlichkeiten, die in ihnen auftreten. Wir fühlen uns allmählich, über unsere Lebenszeit hinausreichend, wie mit diesen Seelen verbunden, und dann scheint es nicht allzu wunderbar, wenn sich uns blitzartig, bei äußerlich oft geringfügigen Geschehnissen oder Beobachtungen mitten im tätigen Leben Zusammenhänge ergeben, von denen wir wissen, sie sind nicht kombiniert, nicht aus Spekulationen gewonnen, sondern weiterwirkende, lebendige Tatsachen früherer Zeiten, mit denen sich unsere erwachende Seele zart begegnete.“ (S 108).
Dann schreibt Polzer-Hoditz über den Selbstmord des Kronprinzen Rudolf in Mayerling und die „Veranlassung“ Rudolf Steiners, „sich mit diesem Tode besonders zu beschäftigen“ (S 109). Er sagt, wie die karmischen Erkenntnisse Rudolf Steiners Geschichte erst „verständlich“ machen und „sinnvoll“ erscheinen lassen: „Von allen Seiten her erschließen sich dadurch Entwicklungserkenntnisse und aufschlussreiche Übereinstimmungen. Was unverständlich war, wird verständlich, eine große Anzahl von Ereignissen erhält sinnvollen und geistigen Zusammenhang“ (S109f)
„Die Tragik dieser Ereignisse am österreichischen Kaiserhof“, so schreibt der Graf weiter, „wiederholt die Tragik in Rom, als mit Nero das julisch-claudische Herrscherhaus ausstirbt. Wenn auch der Name Caesar beibehalten wurde, das Haus der Caesaren ist mit Nero erloschen.[2] Tacitus, Sueton, Plinius und andere Historiker beschäftigten sich mit den Ereignissen im römischen Weltreiche zur Zeit seiner äußeren, nahezu größten Ausdehnung, als sich gleichzeitig in Palästina[3] das Ereignis von Golgatha abspielte, welches sie jedoch kaum bemerkten.[4] In die Regierungszeit der ersten römischen Imperatoren, in welcher trotz des Höhepunktes, den das römische Reich erklimmt, ungeheure Tragik liegt, fällt die Geburt des Jesusknaben, und als vorläufiger Abschluss dieser Caesaren-Höhepunkts-Tragik, in welcher das Blut eines Herrscherhauses  gegen eine sich regierungsfähig fühlende Staatsphilosophie kämpft, steht dann die Gestalt des Nero zerrissen zwischen beiden: die Blutskräfte und die ganze orientalische Art der dritten Kulturepoche[5] verkörpert in seiner Mutter Agrippina, und die Staatsphilosophie verkörpert in seinem Lehrer Seneca.“ (S 110)
Weiter schreibt Polzer-Hoditz:
„Nero steht zwischen zwei Weltgegensätzlichkeiten, er steht darinnen wie zwischen Weltenende und Weltenanfang. Agrippina ist der Meinung, dass ein Caesar nicht gemacht werden könne, sondern geboren werden müsse. Nur die göttlich-geistig befruchtete Weisheit, welche in alten Zeiten durch die Natur wirkte, kann einen Caesar hervorbringen; nach ihrer Meinung macht die Philosophie – so wie sie in Rom auftrat – ganz untauglich zur Herrschaft. Agrippina stand somit gegen Seneca im Kampfe, der nach ihrer Meinung die Grundfesten des Herrscherhauses staatsphilosophisch unterhöhlte. Die Mutter sagte: Nero regiert nicht als der Beste und Würdigste, sondern als Sohn seiner Mutter, der Angehörigen eines regierenden Hauses. Seneca hatte dem Nero seine Thronrede verfasst, und die in derselben ausgesprochenen Maximen widersprachen in allem dem, was sich Agrippina über das Neronische Dominat dachte (Tacitus, Annalen, XIII, 3f). Auch das an den Senat nach der Hinrichtung der Mutter gerichtete Schreiben Neros stammt von Seneca (Tacitus, Annalen, XIV, 10f). Später rühmt sich Nero des Muttermordes als einer Erfüllung des bei seinem Regierungsantritte gemachten Versprechens. Man fühlt, wie bei den Anhängern der Agrippina eine still und tief wirkende Kraft protestiert gegen die Art, wie Seneca das Neronische Dominat beeinflusst. In den heiligen Hainen der Arvalen, des Zwölf-Priester-Kollegiums, die ihre Würden nicht verlieren konnten, deren Protokolle seit Augustus in Steintafeln gehauen wurden, wurden alljährlich Opfer gebracht der ‚Concordia honoris Agrippinae Augustae‘ .(…) Ein dreißigjähriges Leben mit einem tobenden Wüten von Kräften in der Seele spielt sich ab, und dieses Kräftetoben wird noch erhöht durch die Götterprätention. Götterprätention, herausgeboren und übernommen aus Priesterinnenweisheit. Die Prätention noch fortwirkender, göttlich befruchteter Naturweisheit, die allein dem Caesar die Caesarenwürde geben kann. Diese Caesarenseele wendet sich nun aus der Souveränität heraus in Weltverachtung und Frivolität gegen alles in der Welt; spricht der ganzen Welt Hohn und spielt mit dem Leben der Menschen einer ganzen Stadt.“ (S 113f)
Diese Charakterisierung der „edlen Seele, die durch eine missratene Erziehung verdorben ist“ (Plato nach Pausanias, siehe oben) kommt dem Wesentlichen näher als die „wissenschaftlichen“ Versuche, diese Seele zu erklären, wie es im Katalog von dem Wiener Psychologen Prof i.R. Harald Aschauer unter dem Titel „Nero – ein Fall für den Psychiater?“ (S 173 – 289)[6] anhand vergleichender Tabellen und Stammbäumen versucht wird.
Polzer-Hoditz greift nun die entscheidende Frage Rudolf Steiners auf, die dieser in seinem Karmavortrag am 27. April 1924 stellt und schreibt weiter:
„Rudolf Steiner sagt in seinem Vortrag, den er über Nero hält, dass man eigentlich stumpf sein muss, wenn man hinsieht auf alles dasjenige, was dieser Nero tut, und sich gar nicht fragt, was aus einer solchen Seele wird, in welcher alleräußerster Zerstörungswille lebt, von welcher nur weltzerstörende Strahlen ausgehen. Er macht uns dann darauf aufmerksam, wie alles, was so auf die Welt abgelagert wird in einem Leben, in das Leben zwischen Tod und neuer Geburt zurückstrahlt. (…) Es zeigte sich bei dem tragischen Falle in Mayerling das Eigentümliche, dass eine Persönlichkeit, welcher das Glänzendste bevorstand, wegen einer Liebesaffäre, die kein objektiv notwendiger Grund für den Selbstmord sein konnte, das Leben für ganz wertlos hielt. Das ist eine Tatsache, die aus dem vorliegenden Leben des Kronprinzen allein doch nicht verständlich ist, wenn man auch versucht, sich die Tat auf irgendeine Weise verständlich zu machen. Warum fand diese Seele das Leben so wertlos, dass sie sich durch die äußeren Verwicklungen die Seelenpathologie schuf, aus der heraus sie sich dann tötete. Die Seele hatte in der geistigen Welt den Anblick der weltzerstörenden Kräfte, die von ihr ausgegangen waren, und nahm sich die Umkehrung vor, das heißt, sie wollte nun die Pfeile auf sich selbst richten, die sie früher nach der Welt gerichtet hatte. Man kann eine gerechte Tragik darin erleben, wenn man sieht, wie nun Rudolf von Österreich sein Leben, das äußerlich alles enthält, was wertvoll ist, doch für ganz wertlos hält und sich tötet.“ (S 114ff)
Ich zitiere nun Rudolf Steiner direkt:
„Denn nun sieht man, wie solche Dinge, die eigentlich zunächst, man möchte sagen, empörend auftreten, wie das Dasein des Nero, sich mit voller Weltgerechtigkeit ausleben, wie sich die Weltgerechtigkeit wirklich erfüllt und wie zurückkommt das Unrecht, aber so, dass die Individualität hineingestellt ist in die Ausgleichung des Unrechtes: Und das ist das Ungeheure an dem Karma. Und dann kann sich noch etwas anderes zeigen, wenn ein solches Unrecht ausgeglichen ist durch einzelne Erdenleben hindurch, wie es hier wohl fast schon ausgeglichen sein wird. Denn man muss nun wissen, dass ja zum Ausgleich dazugehört die ganze Erfüllung – denken Sie sich – hervorgehend aus einem Leben, das sich wertlos hält, das so sehr sich wertlos hält, dass dieses Leben zunächst ein großes Reich – und Österreich war ja dazumal noch ein großes Reich – und seine Herrschaft über ein großes Reich hingibt! Dieses Handanlegen an sich selbst in solchen Umständen, und hinterher, nachdem man durch die Pforte des Todes gegangen ist, weiterzuleben in der unmittelbar geistigen Anschauung, das erfüllt allerdings in einer furchtbaren Weise, was man Gerechtigkeit des Schicksals nennen kann: also Ausgleich des Unrechts. Auf der anderen Seite, wenn wir jetzt von diesem Inhalte absehen, so ist ja wiederum eine ungeheure Kraft in diesem Nero gewesen. Diese Kraft darf nun nicht verlorengehen für die Menschheit; diese Kraft muss geläutert werden. Die Läuterung haben wir besprochen. Ist nun eine solche Seele geläutert, dann wird sie die Kraft, die geläutert ist, eben auch in der Folgezeit in spätere Erdenepochen in einer heilsamen Weise hinübertragen (…) Der gerechte Ausgleich geschieht, aber die Menschenkräfte gehen doch nicht verloren. Sondern es wird dann, wenn es durchlebt wird nach dem gerechten Ausgleich, dasjenige, was ein Menschenleben verübt hat, unter Umständen umgewandelt auch in Kraft zum Guten. Daher ist solch ein Schicksal, wie das heute geschilderte, schon auch durchaus erschütternd.“ (S 90f)[7]
Polzer-Hoditz, der durch seinen Bruder dem habsburgischen Kaiserhaus nahe stand, aber auch ein intimer Schüler Rudolf Steiners war, geht jetzt in eigenständigen Karma-Forschungen über das, was Rudolf Steiner aphoristisch mitteilte, weiter hinaus, was ihn als den eigenständigen Geistesschüler ausweist, der er immer war[8]: er untersucht den karmischen Umkreis von Kaiser Nero und Rudolf von Habsburg und entdeckt erstaunliche Parallelen.
Polzer-Hoditz schreibt einleitend, was meiner Meinung nach ganz allgemein zutrifft, wenn man sich mehrdimensional mit Geschichte beschäftigt und nicht nur eindimensional, wie es bei den meisten Historikern, die nur die positiven Fakten gelten lassen wollen, leider üblich ist:
„Man kann sich in historische tief hineinleben, wenn man die Zeitgenossen solcher Persönlichkeiten betrachtet, welche in der Weltgeschichte eine besondere Rolle spielen und von denen wir durch Rudolf Steiner wissen, dass in ihnen dieselbe Seele in verschiedenen Leben lebte. Man kann dann an den Ereignissen erleben, wie die Menschenseelen es sind, welche die Ergebnisse der einen Geschichtsepoche in die nächstfolgende tragen. Zu den Zeitgenossen Neros, welche besonders stark in sein Leben hereinragten, gehörten außer den schon erwähnten – nämlich seiner Mutter Agrippina und seinem Lehrer Seneca – noch Burrus, der Kommandant der Garde und Freund Senecas, Neros Gemahlinnen Octavia und Poppea Sabina, der Verschwörer Piso, weiter seine Geliebte, die Korintherin Akte und sein steter Begleiter Sporus.“ (S 117)

Ich will es bei dieser Andeutung belassen und hoffe, dass sie den Leser anregt, selbst „eigenständig“ weiter zu forschen. So wird Geschichte erst interessant.




[1] Seneca wurde oft mit dem griechischen Philosophen Sokrates, dem Lehrer Platons, verglichen. Es existiert sogar eine Büste, in der beide Philosophen Kopf an Kopf dargestellt sind, der ältere nach hinten, der jüngere nach vorne schauend, wie bei der Darstellung des zweigesichtigen römischen Gottes Janus, von dem der Monatsnamen „Januar“ stammt. Beide Philosophen wurden bekanntermaßen zum Selbstmord getrieben.
[2] Fußnote 99 in der Neuauflage (von Andreas Bracher): „Der Tod Neros 68 n. Chr. bedeutet das Ende des julisch-claudischen Kaiserhauses, das sich auf die Abstammung von Caesar und Augustus zurückführte. Seine Kaiser waren Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius und Nero. Es folgte das Vierkaiserjahr 69 und die kurze Zeit der flavischen Dynastie (69 – 96), bevor sich dann ein System des Adoptivkaisertums etablierte, das ganz vom Prinzip des Bluts- beziehungsweise Familienerbes abwich.“
[3] Damals war es die römische Provinz Judäa. (Anmerkung. J.S.)
[4] Genauso wenig bemerkten die „anerkannten“ Historiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Monarchien ihrem Ende zueilten, die Morgenröte einer neuen „Geisteswissenschaft“, die sich zuerst „Theosophie“, später „Anthroposophie“ nannte, obwohl Rudolf Steiner der „Bewegung“ am liebsten „jede Woche einen neuen Namen“ gegeben hätte, wie Andrej Belyj in seiner Schrift „Verwandeln des Lebens“, Rudolf Steiners Kurs in England 1923 zitierend, schreibt (S 19).
[5] Rudolf Steiner spricht in seiner „Geheimwissenschaft“ (1909) von sieben aufeinanderfolgenden Kulturepochen, die er mit dem ungefähren Verweilen des Sonnenaufgangs im sogenannten Frühlingspunkt in einem Sternbild zusammenschaut, das etwa 2160 Jahre dauert. Die erste Kulturepoche nennt er die „Ur-indische“ (Zeitalter des Krebses), die zweite die „Ur-persische“ (Zeitalter der Zwillinge), die dritte die „Ägyptisch-chaldäische“ (Zeitalter des Stieres), die vierte dir „Griechisch-römische“ (Zeitalter des Widders) und die derzeitige fünfte Kulturepoche die „germanische“ (Zeitalter der Fische). Es werden noch zwei Kulturepochen folgen, die „slawische“ (Zeitalter des Wassermanns) und die „amerikanische“ (Zeitalter des Steinbocks), bevor der „nachatlantische Zyklus“ beendet sein wird.
[6] Aschauer geht bei seiner Untersuchung von einem interessanten „Detail“ aus, das auch uns bei der Ausstellung begegnet ist: „Nero lebte von 37 bis 68. Bei der Geburt handelte es sich um eine sogenannte Beckenlage (‚mit den Füßen zuerst zur Welt gekommen‘, Plinius, Naturalis historia 7, 46, Übersetzung nach Marion Giebel). Das ist eine Abweichung von der normalen Geburt, bei der nicht der Kopf, sondern das Becken des Kindes vorangeht. Heute liegt die Häufigkeit dieser Regelwidrigkeit bei 3% aller Schwangerschaften. Es handelt sich dabei um einen Risikofaktor für die Entstehung psychiatrischer Krankheiten, da während des erschwerten Geburtsvorganges durch Sauerstoffmangel oder ganz allgemein Stress Störungen der Entwicklung des Nervensystems auftreten können. Später kann es zu schizophrenen oder bipolaren affektiven Störungen kommen.(…). Die Erblichkeit spielt bei Geburten in Beckenendlagen eine Rolle. Auch Neros Urgroßvater Marcus Vipsanius Agrippa wurde so geboren.“ (Katalog, S 173)
[7] Während ich dieses Zitat aus Rudolf Steiners Karma-Vortrag abschreibe, drängt sich mir die Individualität Adolf Hitlers auf, über den Brigitte Hamann ebenfalls zwei Bücher geschrieben hat: „Hitlers Wien- Lehrjahre eines Diktators“ (Piper, 1996) und „Hitlers Edeljude – Das Leben des Armenarztes Eduard Bloch“ (Piper, 2008). Die Gedanken, die Rudolf Steiner hier über den Ausgleich des Karma und die Umwandlung böser in gute Kräfte ausspricht, bekommen erst ihre wahre und wahrlich „erschütternde“ Dimension, wenn man sie auf den „größten Verbrecher“ des 20. Jahrhunderts anwendet, auf Adolf Hitler, der oft mit Kaiser Nero verglichen wurde, so auch in dem Hollywoodfilm „Quo Vadis“, der sechs Jahre nach dem Ende des „Dritten Reiches“ entstand und unser Nero-Bild bis heute prägt. Diese Parallele wird im letzten Kapitel des Katalogs beschrieben, wo Dorothee Henschel den amerikanischen „Propagandafilm“ untersucht. Sie schreibt: „Nicht umsonst trägt Nero, während er seinen Hymnus vor dem brennenden Rom rezitiert,  in Anlehnung an die Uniformen und Symbole der Faschisten und Nationalsozialisten, eine schwarze Toga mit goldenen Adlern.“ (Katalog, S 386). Diese „starke Szene, die noch immer das Nero-Bild vieler Zeitgenossen prägt“ wird bereits in der Einleitung von Marcus Reuter zitiert, indem er auf S 17 ein Foto der Szene abdruckt.
[8] Siehe die Biographie von Thomas Meyer, Ludwig Polzer Hoditz – ein Europäer, Perseus-Verlag 1994

Mittwoch, 5. Oktober 2016

Durch Schwäbisch Hall mit Michael Klenk




Nero soll im Augenblick seines Todes ausgerufen haben: „Welch ein Künstler geht in mir verloren!“ Er hat sich nicht so sehr als Herrscher, sondern mehr als Dichter, Musiker und Schauspieler verstanden. Das hat den Spott und die Verachtung der Kreise, aus denen er stammte, auf sich gezogen. Er war ein „Außenseiter der Gesellschaft“. Das sind eigentlich Leute, die mir sympathisch sind.
Gestern (am 04.10.2016) durfte ich zusammen mit etwa 24 anderen Frauen und Männern zweieinhalb Stunden mit solch einem sympathischen „Außenseiter der Gesellschaft“ durch die Stadt Schwäbisch Hall wandeln und Plätze und Räume entdecken, die besonders mit diesem Menschen verbunden sind. Ich spreche vom Leiter der Haller Kunstakademie, Michael Klenk, der gestern Nachmittag in der Volkshochschulreihe „Haller zeigen ihre Stadt“ eine Führung anbot, die mehr über den Künstler, als über die Stadt „verriet“.
Michael Klenk ist nur ein Jahr älter als ich. Er ist 1951 in Solingen geboren, aber in Gaildorf, wo sein Vater eine Fabrik hatte, aufgewachsen. Weil er im dortigen Gymnasium zweimal „hängen geblieben“ ist, wechselte er an eine Haller Schule, wo er dann doch noch das Abitur „schaffte“. Sein Vater wollte, dass sein einziger Sohn Betriebswirtschaft lernte, Michael aber wollte von Anfang an Künstler werden. Während seines BWL-Studiums in Rosenheim hatte Michael, wie er erzählt, viel Zeit, zu lesen und Musik zu hören. Musik war schon früh neben der Kunst seine Leidenschaft. Er hatte eine Liste mit allen Musikstücken angefertigt, die er noch live hören wollte. Während dieses Studiums bewarb er sich fünf Mal an verschiedenen Kunstakademien. Erst mit seiner fünften Mappe wurde er in Karlsruhe aufgenommen.
Weil es vielen jungen Menschen, die Kunst studieren wollen, wie ihm ergeht – auch ich hatte mich einmal mit einer Mappe an der Stuttgarter Kunstakademie beworben und eine Absage bekommen – hat Michael Klenk im Jahre 1990 in Schwäbisch Hall eine Kunstakademie gegründet, in der junge Menschen innerhalb eines Jahres unter anderem auf professionelle Weise eine Mappe gestalten, mit der sie sich an einer Staatlichen Akademie bewerben können. Diese damals unterhalb der Katharinenkirche gegründete private Akademie wurde von der Stadt Schwäbisch Hall gefördert. Elf Jahre später, im Jahre 2001, entstand in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft die Kunsthalle Würth, ein Museum von überregionaler Bedeutung. Weil der Künzelsauer Unternehmer Reinhold Würth sein Museum in den nächsten fünf Jahren erweitern möchte, musste Michael Klenk vor drei Jahren umziehen. 
Seine Akademie hat nun als Unterkunft ein ehemaliges Mädchengymnasium am Haalplatz, in dem auch die Festspiele ihre Büros und Üb-Räume haben.
Michael Klenk war mit einem halben Lehrauftrag Kunsterzieher am Erasmus-Widmann-Gymnasium in Schwäbisch Hall. Dort war ich 2000 – 2001 sein Kollege. Seit drei Wochen ist er pensioniert, erzählt er. 2007 habe ich ihn im Kunstverein Ellwangen, dessen Mitglied ich damals war, wieder getroffen. Er war mit eigenen Arbeiten in der Ausstellung „Eigene Wege - neun Schoofs-Schüler", die von meinem verstorbenen Kollegen, dem Künstler und Kunsterzieher Peter Gut, kuratiert wurde, vertreten.
Michael Klenk beginnt seine Stadtführung vor dem Turm von Sankt Michael und preist die ca. siebenhundertjährige spätgotische Michaels-Statue aus den Jahren zwischen 1280 und 1320 als sein Lieblingskunstwerk der kunstreichen Stadt. Michael  erinnert daran, was sein Namenspatron schon alles gesehen haben mag: Menschen am Pranger und Aufmärsche der Nazis, aber auch unzählige Hochzeiten und natürlich die Spiele auf der Treppe.
Wir gehen anschließend durch die obere Herrengasse und halten vor dem ehemaligen Wohnhaus des Haller Rabbiners Berlinger. Sein Vater, so erzählt Michael, sei eines Tages als etwa elfjähriger Junge mit zwei Freunden an dem Haus vorbeigegangen und wurde von zwei SS-Männern aufgefordert, sich etwas aus dem Besitz des Verjagten auszusuchen. Er nahm einen wertvollen Füller mit, den er seinem Sohn Michael vererbte, der ihn heute noch besitzt, nachdem ihn die überlebenden Nachkommen des Rabbiners nicht mehr zurückhaben wollten. Schräg gegenüber dem Haus des Rabbiners liegt das Bethaus der jüdischen Gemeinde.
Die nächste Station ist Michaels Lieblingsplatz. Wir müssen viele Treppen zum sogenannten „Neubau“ hochsteigen und gelangen dann unmittelbar an der Südseite des gewaltigen mittelalterlichen Bauwerks auf den Platz, von dem wir einen der schönsten Blicke auf die Stadt genießen können. Wieder erzählt Michael eine Anekdote, die ihm sein Vater mitgeteilt hatte: er hatte sich, wieder begleitet von seinen Kumpels, unterhalb dieses Platzes, wo ein Schreiner seine Werkstatt hatte, in einen geöffneten neuen Sarg gelegt und ihn geschlossen. Die beiden Freunde taten es ihm gleich und einer wäre dabei fast in Ohnmacht gefallen.
Ich denke, wenn Michael so eine Szene erzählt, dann ist das nicht ohne Grund. Ich ahne, dass es einen karmischen Hintergrund hat, vermutlich eine Einweihungsszene in einem früheren Leben. Michael, dem in seinem Leben im Grunde alles geglückt ist, wovon er geträumt hat, ist mit seinem langen weißen Bart, seiner imposanten schlanken Gestalt und seinen wachen, gütigen Augen eine auffallende Erscheinung in dieser Stadt. Er erinnert mich immer an einen der biblischen Patriarchen. Er erzählt, dass er während seines Studiums zwei Jahre in Rom studiert hat und später sogar noch ein Stipendium der Deutschen Akademie Villa Massimo bekommen hat und in der römischen Casa Baldi wohnen durfte. Er versichert, dass ihn seine römische Zeit stark beeinflusst habe. 
Ich erfahre, dass er auch die Nero-Ausstellung in Trier besucht hat und vollkommen von der Präsentation begeistert war.
Wir steigen nun, vorbei am Hällisch-Fränkischen Museum und der wiedererrichteten Salzsiederhütte, hinab in die Kocherwiesen. Dabei erzählt Michael, dass Hall zwar im Mittelalter die fünftreichste Stadt des Reiches gewesen war, in den 50er Jahren aber zu einer kleinen, unbedeutenden Verwaltungsstadt herabgesunken ist. 1966 sei dann ein Ruck durch das verschlafene Provinz-Städtchen gegangen, als in der Kocheranlage der „Club Alpha“, das erste Jugendhaus Deutschlands, gegründet wurde. Einen der Mitgründer, Walter Müller (FDP), lerne ich als Teilnehmer der Gruppe kennen. Ich erzähle ihm, dass wir auch in Ellwangen eine Initiative für ein Jugendzentrum hatten, und dass wir als Initiatoren damals auch den Club Alpha besuchten, der dieses Jahr sein fünfzigjähriges Jubiläum feiert.
Nun gehen wir weiter zur „Unterwöhrd“, wo an diesem Dienstag mit dem Abbau des alten Globe-Theaters begonnen wurde. Es soll durch ein neues, wetterfestes Theater ersetzt werden. 
Über den „Roten Steg“ gelangen wir in die Katharinen-Vorstadt und steigen auf der gegenüberliegenden Kocherseite zur Kunsthalle Würth hinauf, die ein wahrer Segen für die Stadt ist. Michael zeigt uns die unmittelbar benachbarten Gebäude, in denen über zwanzig Jahre lang seine „Akademie der Künste“ untergebracht war. Ich habe sie vor ein paar Jahren auch schon besucht, als eine Freundin hier einen Malkurs belegte und an einer Gruppenausstellung teilnahm.
Schließlich zeigt uns Michael, der alle Teilnehmer persönlich kennt und die, welche nach Hause wollen, freundlich verabschiedet, noch sein „eigenes Reich“: die neue "Akademie der Künste" am Haal-Platz. Im Flur des schönen klassizistischen Gebäudes sehe ich das Plakat und ausgeschnittene Presseberichte zur großen Trierer Nero-Ausstellung und finde sogar noch einen Ausstellungs-Flyer in deutscher Sprache, der in den drei Trierer Museen bereits vergriffen war.

Dort hatte ich aus Versehen einen in niederländischer Sprache eingesteckt.
Nicht Politik war Neros große Leidenschaft, sondern Dichtung und Musik. Das war sein Verhängnis.