Wir fahren weiter und biegen dann
ab nach Schloss Linderhof. Nachdem wir eine Eintrittskarte ohne Schlossführung gekauft haben, wandeln wir wie König und Königin durch die
parkähnliche Landschaft mit den auf einer Symmetrieachse zwischen den Bergen
erbauten Ensembles, in deren Mittelpunkt das Schlösschen steht. Zuerst
ersteigen wir die Treppe zum Venus-Rundtempel. Von dort haben wir einen schönen Überblick auf die Anlage.
Linderhof ist das kleinste von
den drei Schlössern, die König Ludwig II. erbauen ließ und sein
Lieblingsschloss, das er am häufigsten besucht hat. Ursprünglich wollte Ludwig
II. im abgelegenen Graswangtal ein Schloss nach dem Vorbild von Versailles
errichten. Er änderte aber seine Pläne und erbaute Herrenchiemsee als sein
Versailles. Das Vorbild für das Schlösschen Linderhof war die in der Nähe von
Versailles gelegene Pavillon-Anlage von Marly, in die sich der französische
König zurückziehen konnte, wenn ihm das Hofleben zu viel wurde.
König Ludwig II. von Bayern wurde an einem 25. August geboren, dem Tag des französischen Königs Ludwig IX., der
auch der Heilige genannt wurde, und der unter anderem die Sainte Chapelle in
Paris errichten ließ, um eine der bedeutendsten Reliquien der Christenheit,
Christi Dornenkrone, die er in Konstantinopel erworben hatte, würdig
aufbewahren zu können. Diesen König interessierte nicht die äußere Macht, die
eine Königskrone symbolisiert, sondern das Vorbild Christi, der mit
der Schmerzenskrone gekrönt wurde.
Die späteren französischen
Könige, die auf den Namen Ludwig hörten, waren eher machtbewusste Herrscher,
die sich wenig um das Vorbild Ludwigs des Heiligen scherten. Nur der letzte der
Ludwige, der mit seiner Frau, der Österreicherin Marie-Antoinette, auf der
Pariser Place de la Concorde unter der Guillotine endete, musste die
Schmerzenskrone kosten.
Eine Büste von Marie-Antoinette
auf einem Sockel mit dem Wappen der französischen Könige lächelt uns beim
Aufstieg zum Venus-Tempel an.
Ludwig XVI. war, wie ich erfahre, der Taufpate
von Ludwigs Großvater Ludwig I., der ebenfalls an einem 25. August geboren
worden war. Daher rührt wohl die Liebe der bayerischen Könige für die
französischen Könige aus dem Hause Bourbon. Ludwig II. wollte nicht den Glanz
und Prunk dieser Könige nachahmen, sondern durch seine Bauten auf das
Gottesgnadentum der Königsmacht hinweisen, von dem er überzeugt war. Selbst war
er ein bescheidener Mensch, der sich am liebsten im bürgerlichen Gehrock und
inkognito auf Reisen begab.
Als nächstes Ziel steuern wir die
Venusgrotte an.
Der Gartenarchitekt des Königs hat die beiden Gartentypen der
Zeit wunderbar vereint. Die streng symmetrische Anlage, die vom Venustempel auf
der südlichen Höhe zum Neptunbrunnen mit der Kaskade auf der nördlichen Höhe
reicht, und in deren Mittelpunkt die königliche Villa steht, ist nach den
Regeln des französischen Barockgartens gestaltet. Die weitere Umgebung mit dem
Königshaus, dem Maurischen Kiosk, der Gurnemanz- Einsiedelei und der
Hundingshütte ist nach dem Vorbild des Englischen Gartens gestaltet, der mehr
der Epoche der Romantik, in der König Ludwig II. geboren wurde, entspricht.
Die Venusgrotte, eine künstliche
Tropfsteinhöhle, in der ein künstlicher See eine illusionistische Kulisse für
Aufführungen der Wagner-Oper „Tannhäuser“ bildet, führt uns in die
phantastische Traumwelt des „Märchenkönigs“ ein. Hier erleben wir in dem
unterirdischen Seelenpalast sein Wesen. Plötzlich wird uns klar: der Bayernkönig wollte nie erwachsen werden. Er ist ein Kind geblieben.
In der Venusgrotte befindet sich
ein künstlicher See, über den sich der König in einem schwanenförmigen Kahn
hinüberfahren ließ, um an seinen Königslogenplatz zu gelangen. Das Wasser in
diesem See konnte er mit Hilfe der Dynamos des ersten bayerischen
Elektrizitätswerkes auf 45 ° Celsius erwärmen lassen. Die ganze Grotte kommt mir vor wie der Mutterleib, in dem das Ungeborene im Fruchtwasser schwimmt und selig lächelt.
Plötzlich ist
mir klar: König Ludwig II. war ein Kind geblieben, das sich unbewusst
zurück in den Mutterleib sehnte, weil ihm die kalte irdische Realität weh tat.
Mein Gedanke geht aber noch
weiter. Warum fühlte sich der bayerische König in der Realität, die er vorfand,
nicht wohl? Warum zog er sich in die Einsamkeit der Berge oder in seine
künstlichen Welten der Poesie und Schönheit zurück?
Ich denke, er war nicht der
einzige seiner Generation, der unter der Realität des fortgeschrittenen 19.
Jahrhunderts litt. Es war die Zeit, in der nach dem Idealismus der Goethezeit
ein zunehmender Materialismus aufkam.
Das hängt mit dem im Jahre 1842
beginnendem Kampf Michaels mit Ahriman in der unmittelbar an die physische Welt
angrenzenden Ätherwelt zusammen, der, wie Rudolf Steiner in Mitgliedervorträgen
im Jahre 1917 mitteilte (GA 177), mit dem „Sturz der Geister der Finsternis“ im November
1879 endete. Immer mehr besetzten diese ahrimanischen Geister die Köpfe der
Menschen und ließen sie die Ideale der Goethezeit vergessen, die wiederum mit
dem himmlischen Kultus zusammenhängen, der am Ende des 18. Jahrhunderts in der
Schule Michaels stattfand, und von dem Schiller (in den „Briefen über die
Ästhetische Erziehung des Menschen“) und Goethe (im „Märchen von der grünen Schlange
und der schönen Lilie“) einen Abglanz auf der Erde empfingen.
All die Menschen, die jetzt
inkarnierten und zu dieser Michael-Schule gehörten, mussten nun durch das Tal
der Einsamkeit schreiten, weil die andere Gruppe, die zur Schule Ahrimans
gehörte, das Sagen hatte. Nur wenige Menschen hatten die Kraft, den Anhängern
Ahrimans entgegenzutreten. Darunter war als einsamer Kämpfer Richard Wagner,
der aus einer tiefen inneren Weisheit heraus die Bilder aus der Siegfried- und
Artussage schöpfte und zu Opern gestaltete[1]. Es war im entscheidenden
Jahr 1842, als er nach Dresden übersiedelte und auf der nicht weit entfernten
böhmischen Burgruine des Schreckenstein bei Aussig den ersten Entwurf zum
„Tannhäuser“ niederschrieb.
Damals war König Ludwig noch
nicht einmal geboren. Aber schon als Knabe sah der Kronprinz den Tannhäuser und
erfuhr von der Liebesgrotte. So ernst nahm er die inneren Bilder der Oper, dass
er sie in die Realität herunterholen wollte und im Graswangtal solch eine
Liebesgrotte verwirklichte. Hier konnte sein Geist sich entfalten, hier konnte
er in seinen Bildwelten leben, hier konnte er die Luft atmen, die seine Seele
ernährte.
Zu den verwandten Seelen Ludwigs
gehörten innerhalb der damals führenden Kreise auch die acht Jahre ältere
Sissi, die Kaiserin Österreich-Ungarns, und die 20 Jahre ältere Zarin Maria
Alexandrowna, eine Prinzessin aus dem Hause Hessen-Darmstadt, nicht aber die
preußischen Verwandten seiner Mutter.
Einer fehlte in dem Kreise dieser
Menschen, einer, der berufen gewesen wäre, die wirkliche Führerschaft in den
deutschen Ländern zu übernehmen. Ich meine den badischen Erbprinzen, der am 29.
September 1812 in Karlsruhe geboren wurde und ein paar Tage später angeblich
starb, in Wirklichkeit aber unter mysteriösen Umständen verborgen wurde und
schließlich am Pfingstmontag, den 26. Mai 1828 in Nürnberg als Kaspar Hauser
wieder auftauchte, um nach nur fünf Jahren mit erst 21 Jahren, am 14. Dezember
1833 im Hofgarten von Ansbach von einem Emissär westlicher Logen ermordet zu
werden[2].
Der badische Großherzog hätte
sowohl bei der in Baden beginnenden 48er Revolution als auch bei der
unheilvollen Verkündigung des Zweiten Deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal
von Versailles eine wichtige Rolle spielen können, die den Idealen eines Königs
Ludwig eher entsprochen hätte als die politischen Veranstaltungen, die im Sinne
Bismarks, des Antipoden Kaspar Hausers, unternommen wurden.
Dass König Ludwig II.
ausgerechnet an einem Pfingstsonntag ums Leben gekommen ist, zeigt für mein
Empfinden, wes Geistes Kind er war. Beide, Kaspar Hauser und Ludwig, standen
unter dem gleichen Stern: es ist der Stern der „Heiligen Sophia“, die damals
noch nicht auf der Erde angekommen war, weil die Zeit noch nicht angebrochen
war. Rudolf Steiner sprach im Zusammenhang mit jenen Menschen, zu denen auch
Friedrich Nietzsche gehörte, von den „verfrühten Seelen“, von den
„Frühgeburten“ des erst im Jahre 1900 beginnenden „Lichten Zeitalters“.
In diesem geistigen Zusammenhang
erst offenbart sich für mich die wahre Symbolik der Venusgrotte von Linderhof.
[1]Friedrich
Nitzsche schreibt über seine erste Begegnung mit dem Komponisten, dessen Werk
erst durch die großzügige finanzielle Unterstützung des Bayernkönigs möglich
wurde, am 17. Mai 1869 in Wagners Villa in Triebschen, an seinen Freund Erwin Rohde: „(…)dazu habe
ich einen Menschen gefunden, der wie kein anderer das Bild dessen, was
Schopenhauer „das Genie“ nennt, mir offenbart und der ganz durchdrungen ist von
jener wundersamen innigen Philosophie. Dies ist kein anderer als Richard
Wagner, über den Du kein Urteil glauben darfst, das sich in der Presse, in den
Schriften der Musikgelehrten usw. findet. Niemand kennt ihn und kann ihn
beurteilen, weil alle Welt auf einem anderen Fundament steht und in seiner
Atmosphäre nicht heimisch ist. In ihm herrscht so unbedingte Idealität, eine
solche tiefe und rührende Menschlichkeit, ein solcher erhabener Lebensernst,
dass ich mich in seiner Nähe wie in der Nähe des Göttlichen fühle“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Tribschen)
[2]
Am Samstag, den 13. August zeigte Arte drei Filme über sogenannte
„Geheimgesellschaften“, die natürlich in vielen Aspekten einseitig waren. Dabei
wurde auch die Loge an der amerikanischen Elite-Universität Yale gezeigt, die
im Todesjahr Kaspar Hausers gegründet wurde und jenen Totenkopf über gekreuzten
Knochen („Skull and Bones“) zum Symbol hat, der auch auf dem Dolch zu finden
ist, mit dem Kaspar Hauser ermordet wurde. Noch wichtiger erscheint mir aber,
dass exakt zehn Jahre später in New York die jüdische Loge B’nai B’rith
gegründet wurde, der bis heute nur Juden – und keine Nichtjuden – angehören
dürfen. Von dieser Loge berichtete Arte allerdings nichts.