Im Museo Comunale d’Arte Moderna
Ascona stoßen wir wieder auf eine alte Bekannte: Der ganze zweite Stock des
Museums ist der russischen Künstlerin Marianne von Werefkin (1860 – 1938)
gewidmet, die von 1918 bis zu ihrem Tode in Ascona lebte. Sie hat hier auch
ihre letzte Ruhestätte gefunden. Sie war an der Gründung des städtischen
Museums 1922 beteiligt, in dem heute ihre wunderbaren Bilder zu sehen sind.
Marianne von Werefkin war ab 1885
Schülerin des berühmten russischen Malers Ilja Repin, mit dem sie auch befreundet
war. Damals lebte sie in Sankt Petersburg. Im Hause des Malers ist sie im Jahr
1892 auch dem russischen Philosophen und Liebhaber der „Sophia“ Wladimir Solowjow
(1853 – 1900) begegnet. Damals begann, durch Ilja Repin vermittelt, auch die
über dreißigjährige Freundschaft mit Alexej Jawlensky. Im November 1896 reist
sie mit Jawlensky und einem anderen Künstler zum Studium nach München. Ein Jahr
später stößt auch Wasily Kandinsky zu der Gruppe. In der Stadt an der Isar
eröffnet die Adlige Marianne von Werefkin im Jahr 1900 einen Salon, in dem die
russischen Künstler und Aristokraten, die in München leben oder dorthin kommen,
aus- und eingehen. In den Jahren 1908 bis 1909 weilen die Künstlerpaare
Werefkin-Jawlensky und Münter-Kandinsky im bayerischen Murnau. Es ist die Zeit,
in der Werefkin zusammen mit ihren Freunden Jawlensky, Kandinsky und Münter die
„Neue Künstlervereinigung München“ (NKVM) gründet Später verlassen sie die
Künstlervereinigung wieder und bilden eine neue Künstlergruppe, die einen
Almanach mit dem Titel „Der Blaue Reiter“ herausgibt, nach dem sie sich ab 1911
nennt.
Nicht erst seit der großen
Kandinsky-Ausstellung des Lenbach-Hauses im Jahre 2008 begeistere ich mich für
die Malerei der Künstlergruppe „Der blaue Reiter“, zu der auch Franz Marc und
August Macke gehören. Meine Begeisterung geht auf eine Bildbetrachtung zurück,
die wir Ende der Siebziger Jahre zusammen mit einem Freund und Dietrich Rapp,
dem damaligen Herausgeber der anthroposophischen Zeitschrift „Die Drei“,
anlässlich einer Paul Klee-Ausstellung in Stuttgart gemacht haben. Wir
betrachteten gemeinsam das Paul-Klee-Bild „Gebirgsbildung“. Damals habe ich
verstanden, was der Impuls der sogenannten „Abstrakten Malerei“, als dessen
Begründer Wassily Kandinsky gilt, in Wirklichkeit war. Wassily Kandinsky lernte
in seiner Münchener Zeit auch Rudolf Steiner kennen und würdigt ihn in seinem
theoretischen Grundlagenwerk „Das Geistige in der Kunst“ als wesentlichen
Inspirator seiner Kunst.
Ich sehe in der Gruppe dieser
vorwiegend russischen Künstler die „Erstlinge“ des von Rudolf Steiner
verkündeten neuen „Lichten Zeitalters“, das im Jahre 1900 begonnen hat. Sie
hatten die Möglichkeit, die neuen geistigen Impulse aufzugreifen, die aus der
übersinnlichen Welt in die Menschenseelen, die dafür offen waren, einströmten.
König Ludwig II. und sein Kreis hatten diese Möglichkeit noch nicht und
scheiterten tragisch an ihren „verfrühten“ Idealen.
Neben Murnau am Staffelsee ist
Ascona am Lago Maggiore der zweite wichtige Ort, an dem sich Menschen trafen,
die diese neue Zeit aufkommen spürten. Beides sind Orte an Alpenseen, die
nördlich und südlich des Gebirges vom gleichen gigantischen Gletscher der
letzten Eiszeit geschaffen wurden, die um das Jahr 8000 vor Christus mit dem
Untergang des atlantischen Kontinents endete.
In beiden Orten gibt es ein
„Russenhaus“. Von Rudolf Steiner wissen wir, dass besonders die russischen
Seelen die Träger der neuen, der sechsten nachatlantischen Kulturepoche sein
werden, die im New-Age-Jargon auch das „Wassermann-Zeitalter“ (Age of Aquarius) genannt wird, in der nach
Rudolf Steiner das Geistselbst, das erste höhere Wesensglied des Menschen,
ausgebildet werden soll. Dieses Zeitalter wird erst im dritten Jahrtausend
beginnen, aber es wird schon jetzt von einzelnen Menschen und Menschengruppen „vorbereitet“.
Und ich habe das starke Gefühl, dass zu diesen Menschen auch russische
Persönlichkeiten wie Marianne von Werefkin, deren leuchtende Bilder wir in
Ascona bewundern, gehören. Es ist, als ob in ihnen über den gemalten Bergen der
goldene Himmel der alten Ikonen wiedererstrahlen würde. Das Gold war immer eine
Farbe der Geistig- Himmlischen Welt. Die neue geistige Welt ist über den Bergen
der Alpen aufgegangen, wie wir an diesen Bildern von Marianne von Werefkin,
aber auch an jenem einzigartigen Bild von Alexej Jawlensky im Schlossmuseum
Murnau sehen konnten, von dem ich leider keine Kunstkarte bekommen habe.
Curt Riess zitiert in seinem Buch
„Ascona – Geschichte des seltsamsten Dorfes der Welt“ (Europa-Verlag, Zürich 2.
Auflage 2014) den heute vergessenen Bonner Schriftsteller Wilhelm Schmidtbonn
(1876 – 1952). Der Freund des Malers August Macke schreibt in den dreißiger
Jahren über die „Invasionen“ in das um 1900 noch sehr bäuerliche Dorf Ascona
Folgendes:
„Zuerst kamen die Vegetarier, die
Grasfresser, die in weißen Hemden herumgingen und ihren Acker bebauten. Dann
kamen die Gottsucher jeder Art. Die Astrologen, Gesundbeter, Buddhisten, die
auch eine Erneuerung der Welt – aber von der Seele her – wollten. Wie die
Urmönche die Wüste, suchten sie die Einsamkeit von See und Fels, um mit dem
Rätsel des Daseins zu ringen. Dann kamen die Verherrlicher des Lebens: die
Maler, Bildhauer, Dichter, Architekten – insbesondere solche, die anderswo ihr
Leben nicht mehr fristen konnten. Unter dieser unermüdlichen Sonne trugen sie
auch die bittersten Entbehrungen leichter. Zuletzt kamen die Millionäre.“ (S
18)
Murnau und Ascona, das sind für
mich wie die zwei Seiten einer Medaille. An beiden Orten probierten Menschen
neue Lebenswege oder neue künstlerische Wege aus. Das eine liegt nördlich, das
andere südlich der Alpen. So ist natürlich auch das Licht an den beiden Orten
ein ganz anderes. Während nördlich der Alpen, im „Blauen Land“, oft mystische
Wolken „wabern“, scheint über dem Monte Verita immer die Sonne des Lichten
Zeitalters.
Murnau mit der Insel Wörth, auf
dem das älteste deutsche Gebet, das Wessobrunner Gebet aufgezeichnet wurde,
erinnert mich noch an die atlantischen Zeiten. Auf den südlichen Inseln des
Lago Maggiore, den beiden Brissago-Inseln, die wir leider nicht mehr besucht
haben, blühen im berühmten Botanischen Garten die Blumen der nachatlantischen
Zeit. Kein Wunder, wenn ich über der Haustür eines Hauses in der zentralen
Straße von Ascona eine Kopie eines Bildes von Raphael sehe, auf dem Maria mit
dem Jesus- und dem Johannesknaben zu sehen sind. Der südliche Maler der
Madonnen kontrastierte mit dem gleichzeitigen nördlichen Dämonen-Meister Matthias
Grünewald (Versuchung des Antonius im Isenheimer Altar, Colmar).
Marianne Werefkin gelangte im
Süden zum Höhepunkt ihres expressionistischen Malstils, voller leuchtender
Farben, während Wassili Kandinsky im Norden den abstrakten Malstil entwickelte
und damit die Malerei von Grund auf revolutionierte. Malerei wurde bei ihm
Musik und Tanz. Beide Malstile sind Ausdruck des Innersten der menschlichen
Seele, auch wenn bei den Expressionisten noch Anklänge an die äußere
Wirklichkeit bestehen, während bei den Abstrakten nur noch Formen und Farben
aufeinandertreffen.
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