Das Schicksal Kaiser Neros (37 – 68
n. Chr.) und des habsburgischen Kronprinzen Rudolf von Habsburg (1858 – 1889), die
beide beinahe auf den Tag genau in ihrem 31. Lebensjahr durch Selbstmord endeten,
beschäftigt mich weiter. Ich habe eben den fünften Vortrag aus dem Zweiten Band
der „Esoterischen Betrachtungen karmischer Zusammenhänge“ (GA 236) vom 27.
April 1924 wieder gelesen, in dem Rudolf Steiner – nach mindestens 35 Jahren
Geistesforschung – zum ersten Mal über diese Individualität spricht. In seinen einleitenden
Worten berührt mich sein Appell an den Enthusiasmus, das Wunderbare im Alltäglichen zu bemerken:
„Das ist es ja, wonach von diesem
Rednerpulte aus so oft der Seufzer ertönt ist: Man möge innerhalb
anthroposophischer Kreise Enthusiasmus haben für das Suchen, Enthusiasmus haben
für das, was eben im anthroposophischen Streben drinnenliegt. Und dieser
Enthusiasmus muss wirklich damit beginnen, das Wunderbare in der Alltäglichkeit (kursiv: JS) wirklich als etwas
Wunderbares zu ergreifen.“
Dieser „Enthusiasmus“ für die kleinen Wunder jeden Tages, den hier Rudolf Steiner dreimal "seufzend" beschwört, ist für mich im Grunde der
Kern allen anthroposophischen Strebens. Denn „Dann wird man eben (…) erst
versucht sein, zu den Ursachen, zu den tiefer liegenden Kräften zu greifen, die
dem uns umgebenden Dasein zugrunde liegen.“ (Ausgabe Dornach 1988, S 83)
Die Nero-Ausstellung, die ich am
„Tag der Deutschen Einheit“ mit meiner russischen Freundin in der einstigen
Kaiserstadt Trier erleben durfte, wirkt mächtig in mir fort.
Ich bin noch gar
nicht dazu gekommen, den Katalog, den ich mir dort gekauft habe, zu studieren.
Vor mir liegt das erste Buch, das die vorgestern (am 4.10.) mit 86 Jahren in Wien
verstorbene deutsch-österreichische Historikerin Brigitte Hamann im Jahre 1978
über den „Kronprinz Rudolf“ verfasst hat, in der Neuauflage von 2005 (7. Auflage
September 2015), die ich am 18. August in der Buchhandlung des Klosters Ettal
bei Pater Michael gekauft habe. Das einzige Buch, das ich während unserer
gemeinsamen Reise im August auf den Spuren Sissis und König Ludwigs II. dabei
hatte, (siehe meinen Blog: http://jwsreise.blogspot.de/2016/08/ein-besuch-in-schloss-linderhof-konig.html) war eben Brigitte Hamanns drei Jahre später (1981) publizierte
Biographie der Mutter von Kronprinz Rudolf: „Elisabeth. Kaiserin wider Willen“.
Vor der Reise las ich daraus das 10. Kapitel mit dem Titel „Adler und Möwe“,
das sehr gut das liebevolle Verhältnis der acht Jahre älteren Elisabeth zu
ihrem Cousin Ludwig beschreibt: Sissi war „die Möwe“, Ludwig „der Adler“.
Warum erwähne ich all diese –
scheinbar unwichtigen – Details? Eben aus jenem Enthusiasmus heraus, den ich
den „Wundern des Alltags“ schulde.
In meinem Bericht von der
„Schweizer Reise“ hatte ich schon begonnen, über „karmische Bezüge“ zwischen
den damals verkörperten Menschen um Ludwig II. nachzudenken. Das konnte
natürlich nur sehr rudimentär geschehen. Aber es ist ein Anstoß aus
persönlichem Erleben gewesen. Und ich bin entschlossen, diesen Impuls weiter zu
verfolgen. Es ist ganz klar, dass Kronprinz Rudolf zu diesem Kreis dazu gehört.
Und es ist eine große Hilfe, dass wir durch Rudolf Steiner den wertvollen Hinweis auf die frühere
Inkarnation dieser Individualität in dem erwähnten Karma-Vortrag vom 27. April 1924 überliefert haben.
Hinzuzuziehen wäre bei einer weiteren
Erforschung der Zusammenhänge die mutige Untersuchung von Frank Berger über die
Schicksale der Musiker der Jahrhundertwende und ihres schicksalsmäßigen
Zusammenhangs mit der römischen Kaiserzeit, die er 2011 unter dem Titel
„Bruckner, Mahler, Schönberg – eine karmische Spurensuche“ im Verlag Freies
Geistesleben vorgelegt hat.
1978, das Jahr, in dem die
Rudolf-Biographie von Brigitte Hamann erschien, habe ich an der Universität
Stuttgart mein Studium mit dem Staatsexamen in den Fächern Germanistik und
Geographie abgeschlossen und habe anschließend – statt mein Referendariat zu
machen – zwei Jahre lang das Lehrer-Seminar beim Bund der Freien Waldorfschulen
auf der Stuttgarter Uhlandshöhe besucht, das im Oktober des Jahres begann.
Solch ein Satz, den ich bereits
im Vorwort von Brigitte Hamanns Biographie von Kronprinz Rudolf lese, macht
mich hellhörig: „Als 1888 Rudolfs Freund und Vorbild, der deutsche Kaiser
Friedrich III., nach nur 99tägiger Regierung starb, endeten Rudolfs Träume von
einem friedlichen, liberalen Europa.“ (S 11f).
Dieses Jahr 1888 muss ein
besonderes Schicksalsjahr gewesen sein. Im (protestantischen) zweiten deutschen
Reich herrschten in diesem Jahr drei Kaiser und deshalb heißt dieses Jahr in
der Geschichte auch das „Dreikaiserjahr“. In diesem Jahr malte in Sankt
Petersburg der russische Maler Smirnow, wie erwähnt, das in der Trierer
Ausstellung gezeigte Monumentalgemälde „Neros Tod“, das auch in der Juni-Nummer
des Geschichtsmagazins „Geschichte“ abgedruckt ist, das ich im Vorfeld der
Ausstellung gekauft und später auch als Vorbereitung auf den Besuch gelesen habe.
Rudolf Steiner weist darauf hin,
dass Kronprinz Rudolf noch zwei Tage vor seinem Doppel-Selbstmord, am 27.
Januar 1889, dem Nachfolger des im Jahr zuvor verstorbenen Kaisers, Wilhelm
II., bei einem Empfang in Wien zum Geburtstag gratulierte. Rudolf Steiner
erzählt:
„Wie gesagt, als dieses Ereignis,
das so erschütternd dazumal gewirkt
hat, sich eben vollzogen hatte, war ich auf dem Wege zu Schröer. Ich bin nicht
wegen dieses Ereignisses hingegangen, sondern ich war auf dem Wege zu Schröer.
Es war sozusagen der nächste Mensch, mit dem ich über diese Sache sprach. Der
sprach ganz unmotiviert: „Nero“ – so dass ich mich eigentlich fragen musste:
Warum denkt der gerade jetzt an Nero? – Er leitete das Gespräch gleich ein mit
„Nero“. Es erschütterte mich das Wort
„Nero“ dazumal. Aber es erschütterte (kursiv:
J.S.) mich um so mehr, als dieses Wort „Nero“ unter einem besonderen Eindrucke
gesprochen war, denn zwei Tage vorher war ja, das ist auch öffentlich ganz
bekannt geworden, eine Soiree bei dem damaligen deutschen Botschafter in Wien,
bei dem Prinzen Reuß. Da war der österreichische Kronprinz auch anwesend und
Schröer auch, und er hatte dazumal gesehen, wie der Kronprinz sich verhalten
hat, zwei Tage vor der Katastrophe. Und dieses merkwürdige Verhalten zwei Tage
vor der Katastrophe bei jener Soiree, was Schröer sehr dramatisch schilderte,
und dann der Selbstmord zwei Tage darnach: dieses im Zusammenhange damit, dass
da das Wort „Nero“ ausgesprochen wurde, das war etwas, was schon so wirkte,
dass man sich sagen konnte: Jetzt liegt eine Veranlassung vor, den Dingen
nachzugehen.“ (a.a.O. S 88 f)
In seiner üblichen Bescheidenheit
weist Steiner an dieser Stelle am 27. April 1924 daraufhin, wie er 35 Jahre
vorher mit seiner Karma-Forschung begonnen hatte. Thomas Meyer hat in seiner
grundlegenden Untersuchung „Rudolf Steiners eigentliche Mission“, die ich vermutlich
irgendjemandem ausgeliehen und nicht
mehr zurückbekommen habe und deshalb seit Wochen vergeblich in meiner
Bibliothek suche, auf diesen entscheidenden Moment deutlich hingewiesen.
Während ich eben das Zitat aus
der Mitschrift des Vortrages niederschrieb, stolperte ich über das dreimal
vorkommende Wort „erschütterte“ bzw. „erschütternd“. Es war mein hochverehrter
Germanistik-Professor Heinz Schlaffer, der mich vor ungefähr 40 Jahren lehrte,
auf solche Ausdrücke zu achten. Ich glaube, er benutzte selbst das Beispiel
„erschüttern“ in einem literarischen Zusammenhang und erklärte, dass man sich
bewusst machen solle, dass mit dieser Formulierung in literarischen Texten ein
tiefgreifender Eindruck auf die Seele der betreffenden Figur ausgedrückt werde,
der sein ganzes Leben ändern kann.
„Du musst dein Leben ändern“
heißt ein Buch des Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk aus dem Jahre 2009,
das mir gestern (6.10) bei der Suche nach der „eigentlichen Mission“ ebenfalls in die
Hände geriet, genau wie jenes andere Buch, in dem ich gestern vor dem
Einschlafen noch zu lesen begann: „Verwandeln des Lebens“ von Andrej Belyj
Zuvor war ich in der Einleitung
zum Katalog zur Trierer Ausstellung „Nero – Kaiser, Künstler und Tyrann“ im
Aufsatz von Marcus Reuter, dem Leiter des „Rheinischen Landesmuseums Trier“,
auf folgende Aussage gestoßen:
„Auch für den griechischen Autor
Pausanias (ca. 115 – ca. 180) stand die Schlechtigkeit der neronischen
Herrschaft außer Frage, er sah allerdings die Ursachen dafür in einer
fehlgeleiteten Erziehung des Kaisers. Nero war seiner Meinung nach ein Beispiel
für die Behauptung Platos, dass großes Unrecht „nicht von gewöhnlichen Menschen
ausgeht, sondern von einer edlen Seele, die durch eine missratene Erziehung
verdorben ist.“ (Katalog, Seite 18).
So gelange ich über Nero zu
Plato, der ja, wie der Kenner weiß, im 19. Jahrhundert als Karl Julius Schröer
wiederverkörpert wurde, nachdem er im Mittelalter schon einmal als Roswitha von
Gandersheim auf Erden gewandelt war.
An jenem Abend, von dem Rudolf
Steiner in seinem Karmavortrag erzählt, als er bei Karl Julius Schröer durch
den Ausspruch „Nero“ so erschüttert
wurde, dass er seine Karmaforschungen begann, hatten sich also die zwei
bedeutendsten antiken Philosophen in Wien wieder getroffen: der Lehrer (Plato)
und der Schüler (Aristoteles).
Im zweiten Aufsatz des Kataloges
mit dem Titel „Neros Weg zur Macht“ spricht Jürgen Malitz, ein Historiker der
Katholischen Universität Eichstätt, auch über den „mütterlichen Ehrgeiz“ von
Neros Mutter Agrippina, die neben dem römischen Philosophen Seneca[1]
wohl hauptsächlich für die Erziehung des jungen „Kronprinzen“ zuständig war.
Malitz führt aus:
„Agrippina bemühte sich von
Anfang an um das Wohlwollen des neuen princeps,
umgekehrt achtete aber auch Claudius sehr auf seine Nichte, die schon aufgrund ihres
Vaters Germanicus in der römischen Öffentlichkeit präsent war – und eben auch
einen Sohn hatte. Claudius hatte aus seiner Ehe mit Messalina ebenfalls einen
Sohn, den im Jahre 41 geborenen Britannicus. Ein Beispiel für Agrippinas
geschickte Förderung ihres Sohnes war Neros erster öffentlicher Auftritt beim
sogenannten Trojaspiel (Lusus Troiae) im Jahre 47, einem Reiterspiel der
adligen Jugend – offenbar die einzige Berührung Neros mit den militärischen
Aspekten der „Prinzenerziehung“. Der Enkel des Germanicus, der Ururenkel des
Augustus erhielt rauschenden Beifall, deutlich mehr als der kleine Britannicus.
(…) Kaum ein Jahr nach Neros Auftritt beim Trojaspiel wurde Messalina auf
Befehl des Claudius als Ehebrecherin und Verschwörerin getötet. (…) Es ging
Messalina bei allem, was sie tat, um die Sicherung der Nachfolge ihres Sohnes
Britannicus; (…) Claudius war sich vollkommen darüber im Klaren, dass die
verwitwete Agrippina durch eine weitere Ehe mit einem standesgemäßen
Aristokraten eine Bedrohung für die Ansprüche seines Sohnes darstellte. Er hat
sich am Ende dazu entschlossen, seine Nichte (Agrippina) zu heiraten. (…) Die
angeblichen Verführungskünste der jungen Witwe und die Ratschläge seiner
Höflinge haben sicher nicht den Ausschlag bei dieser Entscheidung gegeben.
Claudius hatte erkannt, dass die unbarmherzig ehrgeizige Tochter des Germanicus
allein durch eine Ehe mit dem princeps
selbst unter Kontrolle gebracht werden konnte. Kein anderer als Claudius durfte
im Jahr 49 der Stiefvater Neros werden. Wie sehr Agrippina alles bedacht hatte,
was ihrem Sohn und ihr selbst von Vorteil sein könnte, zeigt die für
zeitgenössische Verhältnisse ganz ungewöhnliche Entscheidung, im Jahre 49 die
bisherigen Erzieher (…) abzulösen und die jetzt anstehende ‚gymnasiale‘
Ausbildung Neros nicht irgendeinem renommierten ‚Fachlehrer‘ (…) anzuvertrauen,
sondern einem stadtbekannten römischen Intellektuellen und Schriftsteller:
Lucius Annaeus Seneca. (…) Gleich nach der eigenen Hochzeit mit dem princeps kümmerte sich Agrippina um die
Anbahnung der Ehe ihres Sohnes mit der damals etwa zehnjährigen Octavia, der
Tochter des Claudius. (…) Im Jahre 53 heiratete der fünfzehnjährige Nero die
damals etwa zwölfjährige Octavia, die Tochter des princeps. Wer wollte, konnte sich an den jungen Marcellus erinnern,
Augustus‘ ersten Schwiegersohn. Eine weitere Steigerung von Neros Status als
‚Kronprinz‘ war im Rahmen der augusteischen Tradition nicht mehr denkbar – nur
eingeschränkt durch den möglichen ‚Doppelprinzipat‘ mit Britannicus (…).
Spätestens in das Jahr der Hochzeit sind Neros Auftritte im Senat zu datieren.
Er plädierte – in griechischer Sprache – erfolgreich für die Streichung der
steuerlichen Abgaben Troias, der Heimat des Aeneas, des Stammvaters der Römer.
Einem jungen Redner, der sich direkt auf die Verwandtschaft mit Augustus (…)
berufen konnte, stand das eher an als Britannicus, der ohnehin zu jung gewesen
wäre für einen solchen Auftritt.“ (Katalog, verschiedene Seiten).
Also ist auch hier immer wieder
die Rede vom „Kronprinz“.
Nun ist es interessant, was der
österreichische Anthroposoph Ludwig Graf Polzer-Hoditz, dessen Bruder Artur 1917 Kaninettschef des letzten Kaisers
war, in seinem 1928 zum ersten Mal
veröffentlichtem „Opus Magnum“ (Thomas Meyer), „Das Mysterium der europäischen
Mitte“, das 2012 im Basler Perseus-Verlag unter dem Titel „Der Untergang der
Habsburgermonarchie und die Zukunft Mitteleuropas“ wieder aufgelegt wurde, in
dem Kapitel IV („Der Abgrund zwischen den Mysterien der Vergangenheit und denen
der Zukunft“) ausführt. Einleitend schreibt er zunächst folgende Sätze, welche
die Stimmung skizzieren, mit der solche, das Karma der Menschen betreffenden
Aussagen, aufgenommen werden sollten:
„Wir lernen durch karmische
Betrachtungen, wenn wir uns in die eine oder andere Gruppe vertiefen, auch zu
leben in den Persönlichkeiten, die in ihnen auftreten. Wir fühlen uns
allmählich, über unsere Lebenszeit hinausreichend, wie mit diesen Seelen
verbunden, und dann scheint es nicht allzu wunderbar, wenn sich uns blitzartig,
bei äußerlich oft geringfügigen Geschehnissen oder Beobachtungen mitten im
tätigen Leben Zusammenhänge ergeben, von denen wir wissen, sie sind nicht kombiniert,
nicht aus Spekulationen gewonnen, sondern weiterwirkende, lebendige Tatsachen
früherer Zeiten, mit denen sich unsere erwachende Seele zart begegnete.“ (S
108).
Dann schreibt Polzer-Hoditz über
den Selbstmord des Kronprinzen Rudolf in Mayerling und die „Veranlassung“
Rudolf Steiners, „sich mit diesem Tode besonders zu beschäftigen“ (S 109). Er
sagt, wie die karmischen Erkenntnisse Rudolf Steiners Geschichte erst
„verständlich“ machen und „sinnvoll“ erscheinen lassen: „Von allen Seiten her
erschließen sich dadurch Entwicklungserkenntnisse und aufschlussreiche
Übereinstimmungen. Was unverständlich war, wird verständlich, eine große Anzahl
von Ereignissen erhält sinnvollen und geistigen Zusammenhang“ (S109f)
„Die Tragik dieser Ereignisse am
österreichischen Kaiserhof“, so schreibt der Graf weiter, „wiederholt die
Tragik in Rom, als mit Nero das julisch-claudische Herrscherhaus ausstirbt.
Wenn auch der Name Caesar beibehalten wurde, das Haus der Caesaren ist mit Nero
erloschen.[2]
Tacitus, Sueton, Plinius und andere Historiker beschäftigten sich mit den
Ereignissen im römischen Weltreiche zur Zeit seiner äußeren, nahezu größten
Ausdehnung, als sich gleichzeitig in Palästina[3]
das Ereignis von Golgatha abspielte, welches sie jedoch kaum bemerkten.[4]
In die Regierungszeit der ersten römischen Imperatoren, in welcher trotz des
Höhepunktes, den das römische Reich erklimmt, ungeheure Tragik liegt, fällt die
Geburt des Jesusknaben, und als vorläufiger Abschluss dieser
Caesaren-Höhepunkts-Tragik, in welcher das Blut eines Herrscherhauses gegen eine sich regierungsfähig fühlende
Staatsphilosophie kämpft, steht dann die Gestalt des Nero zerrissen zwischen
beiden: die Blutskräfte und die ganze orientalische Art der dritten
Kulturepoche[5]
verkörpert in seiner Mutter Agrippina, und die Staatsphilosophie verkörpert in
seinem Lehrer Seneca.“ (S 110)
Weiter schreibt Polzer-Hoditz:
„Nero steht zwischen zwei
Weltgegensätzlichkeiten, er steht darinnen wie zwischen Weltenende und
Weltenanfang. Agrippina ist der Meinung, dass ein Caesar nicht gemacht werden
könne, sondern geboren werden müsse. Nur die göttlich-geistig befruchtete
Weisheit, welche in alten Zeiten durch die Natur wirkte, kann einen Caesar
hervorbringen; nach ihrer Meinung macht die Philosophie – so wie sie in Rom
auftrat – ganz untauglich zur Herrschaft. Agrippina stand somit gegen Seneca im
Kampfe, der nach ihrer Meinung die Grundfesten des Herrscherhauses
staatsphilosophisch unterhöhlte. Die Mutter sagte: Nero regiert nicht als der
Beste und Würdigste, sondern als Sohn seiner Mutter, der Angehörigen eines
regierenden Hauses. Seneca hatte dem Nero seine Thronrede verfasst, und die in
derselben ausgesprochenen Maximen widersprachen in allem dem, was sich
Agrippina über das Neronische Dominat dachte (Tacitus, Annalen, XIII, 3f). Auch das an den Senat nach der Hinrichtung der
Mutter gerichtete Schreiben Neros stammt von Seneca (Tacitus, Annalen, XIV, 10f). Später rühmt sich
Nero des Muttermordes als einer Erfüllung des bei seinem Regierungsantritte
gemachten Versprechens. Man fühlt, wie bei den Anhängern der Agrippina eine
still und tief wirkende Kraft protestiert gegen die Art, wie Seneca das
Neronische Dominat beeinflusst. In den heiligen Hainen der Arvalen, des
Zwölf-Priester-Kollegiums, die ihre Würden nicht verlieren konnten, deren
Protokolle seit Augustus in Steintafeln gehauen wurden, wurden alljährlich
Opfer gebracht der ‚Concordia honoris Agrippinae Augustae‘ .(…) Ein
dreißigjähriges Leben mit einem tobenden Wüten von Kräften in der Seele spielt
sich ab, und dieses Kräftetoben wird noch erhöht durch die Götterprätention.
Götterprätention, herausgeboren und übernommen aus Priesterinnenweisheit. Die
Prätention noch fortwirkender, göttlich befruchteter Naturweisheit, die allein
dem Caesar die Caesarenwürde geben kann. Diese Caesarenseele wendet sich nun
aus der Souveränität heraus in Weltverachtung und Frivolität gegen alles in der
Welt; spricht der ganzen Welt Hohn und spielt mit dem Leben der Menschen einer
ganzen Stadt.“ (S 113f)
Diese Charakterisierung der
„edlen Seele, die durch eine missratene Erziehung verdorben ist“ (Plato nach
Pausanias, siehe oben) kommt dem Wesentlichen näher als die
„wissenschaftlichen“ Versuche, diese Seele zu erklären, wie es im Katalog von
dem Wiener Psychologen Prof i.R. Harald Aschauer unter dem Titel „Nero – ein
Fall für den Psychiater?“ (S 173 – 289)[6]
anhand vergleichender Tabellen und Stammbäumen versucht wird.
Polzer-Hoditz greift nun die
entscheidende Frage Rudolf Steiners auf, die dieser in seinem Karmavortrag am
27. April 1924 stellt und schreibt weiter:
„Rudolf Steiner sagt in seinem
Vortrag, den er über Nero hält, dass man eigentlich stumpf sein muss, wenn man
hinsieht auf alles dasjenige, was dieser Nero tut, und sich gar nicht fragt,
was aus einer solchen Seele wird, in welcher alleräußerster Zerstörungswille
lebt, von welcher nur weltzerstörende Strahlen ausgehen. Er macht uns dann
darauf aufmerksam, wie alles, was so auf die Welt abgelagert wird in einem
Leben, in das Leben zwischen Tod und neuer Geburt zurückstrahlt. (…) Es zeigte
sich bei dem tragischen Falle in Mayerling das Eigentümliche, dass eine
Persönlichkeit, welcher das Glänzendste bevorstand, wegen einer Liebesaffäre,
die kein objektiv notwendiger Grund für den Selbstmord sein konnte, das Leben
für ganz wertlos hielt. Das ist eine Tatsache, die aus dem vorliegenden Leben
des Kronprinzen allein doch nicht verständlich ist, wenn man auch versucht,
sich die Tat auf irgendeine Weise verständlich zu machen. Warum fand diese Seele
das Leben so wertlos, dass sie sich durch die äußeren Verwicklungen die
Seelenpathologie schuf, aus der heraus sie sich dann tötete. Die Seele hatte in
der geistigen Welt den Anblick der weltzerstörenden Kräfte, die von ihr
ausgegangen waren, und nahm sich die Umkehrung vor, das heißt, sie wollte nun
die Pfeile auf sich selbst richten, die sie früher nach der Welt gerichtet
hatte. Man kann eine gerechte Tragik darin erleben, wenn man sieht, wie nun
Rudolf von Österreich sein Leben, das äußerlich alles enthält, was wertvoll
ist, doch für ganz wertlos hält und sich tötet.“ (S 114ff)
Ich zitiere nun Rudolf Steiner
direkt:
„Denn nun sieht man, wie solche
Dinge, die eigentlich zunächst, man möchte sagen, empörend auftreten, wie das
Dasein des Nero, sich mit voller Weltgerechtigkeit ausleben, wie sich die
Weltgerechtigkeit wirklich erfüllt und wie zurückkommt das Unrecht, aber so,
dass die Individualität hineingestellt ist in die Ausgleichung des Unrechtes:
Und das ist das Ungeheure an dem Karma. Und dann kann sich noch etwas anderes
zeigen, wenn ein solches Unrecht ausgeglichen ist durch einzelne Erdenleben
hindurch, wie es hier wohl fast schon ausgeglichen sein wird. Denn man muss nun
wissen, dass ja zum Ausgleich dazugehört die ganze Erfüllung – denken Sie sich
– hervorgehend aus einem Leben, das sich wertlos hält, das so sehr sich wertlos
hält, dass dieses Leben zunächst ein großes Reich – und Österreich war ja
dazumal noch ein großes Reich – und seine Herrschaft über ein großes Reich
hingibt! Dieses Handanlegen an sich selbst in solchen Umständen, und hinterher,
nachdem man durch die Pforte des Todes gegangen ist, weiterzuleben in der
unmittelbar geistigen Anschauung, das erfüllt allerdings in einer furchtbaren
Weise, was man Gerechtigkeit des Schicksals nennen kann: also Ausgleich des
Unrechts. Auf der anderen Seite, wenn wir jetzt von diesem Inhalte absehen, so
ist ja wiederum eine ungeheure Kraft in diesem Nero gewesen. Diese Kraft darf
nun nicht verlorengehen für die Menschheit; diese Kraft muss geläutert werden.
Die Läuterung haben wir besprochen. Ist nun eine solche Seele geläutert, dann
wird sie die Kraft, die geläutert ist, eben auch in der Folgezeit in spätere
Erdenepochen in einer heilsamen Weise hinübertragen (…) Der gerechte Ausgleich
geschieht, aber die Menschenkräfte gehen doch nicht verloren. Sondern es wird
dann, wenn es durchlebt wird nach dem gerechten Ausgleich, dasjenige, was ein
Menschenleben verübt hat, unter Umständen umgewandelt auch in Kraft zum Guten.
Daher ist solch ein Schicksal, wie das heute geschilderte, schon auch durchaus
erschütternd.“ (S 90f)[7]
Polzer-Hoditz, der durch seinen
Bruder dem habsburgischen Kaiserhaus nahe stand, aber auch ein intimer Schüler
Rudolf Steiners war, geht jetzt in eigenständigen Karma-Forschungen über das,
was Rudolf Steiner aphoristisch mitteilte, weiter hinaus, was ihn als den
eigenständigen Geistesschüler ausweist, der er immer war[8]:
er untersucht den karmischen Umkreis von Kaiser Nero und Rudolf von Habsburg
und entdeckt erstaunliche Parallelen.
Polzer-Hoditz schreibt
einleitend, was meiner Meinung nach ganz allgemein zutrifft, wenn man sich
mehrdimensional mit Geschichte beschäftigt und nicht nur eindimensional, wie es
bei den meisten Historikern, die nur die positiven Fakten gelten lassen wollen,
leider üblich ist:
„Man kann sich in historische tief
hineinleben, wenn man die Zeitgenossen solcher Persönlichkeiten betrachtet,
welche in der Weltgeschichte eine besondere Rolle spielen und von denen wir
durch Rudolf Steiner wissen, dass in ihnen dieselbe Seele in verschiedenen
Leben lebte. Man kann dann an den Ereignissen erleben, wie die Menschenseelen
es sind, welche die Ergebnisse der einen Geschichtsepoche in die nächstfolgende
tragen. Zu den Zeitgenossen Neros, welche besonders stark in sein Leben
hereinragten, gehörten außer den schon erwähnten – nämlich seiner Mutter
Agrippina und seinem Lehrer Seneca – noch Burrus, der Kommandant der Garde und
Freund Senecas, Neros Gemahlinnen Octavia und Poppea Sabina, der Verschwörer
Piso, weiter seine Geliebte, die Korintherin Akte und sein steter Begleiter
Sporus.“ (S 117)
Ich will es bei dieser Andeutung
belassen und hoffe, dass sie den Leser anregt, selbst „eigenständig“ weiter zu
forschen. So wird Geschichte erst interessant.
[1] Seneca
wurde oft mit dem griechischen Philosophen Sokrates, dem Lehrer Platons,
verglichen. Es existiert sogar eine Büste, in der beide Philosophen Kopf an
Kopf dargestellt sind, der ältere nach hinten, der jüngere nach vorne schauend,
wie bei der Darstellung des zweigesichtigen römischen Gottes Janus, von dem der
Monatsnamen „Januar“ stammt. Beide Philosophen wurden bekanntermaßen zum
Selbstmord getrieben.
[2] Fußnote
99 in der Neuauflage (von Andreas Bracher): „Der Tod Neros 68 n. Chr. bedeutet
das Ende des julisch-claudischen Kaiserhauses, das sich auf die Abstammung von
Caesar und Augustus zurückführte. Seine Kaiser waren Augustus, Tiberius,
Caligula, Claudius und Nero. Es folgte das Vierkaiserjahr 69 und die kurze Zeit
der flavischen Dynastie (69 – 96), bevor sich dann ein System des
Adoptivkaisertums etablierte, das ganz vom Prinzip des Bluts- beziehungsweise
Familienerbes abwich.“
[3] Damals
war es die römische Provinz Judäa. (Anmerkung. J.S.)
[4] Genauso
wenig bemerkten die „anerkannten“ Historiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts,
als die Monarchien ihrem Ende zueilten, die Morgenröte einer neuen
„Geisteswissenschaft“, die sich zuerst „Theosophie“, später „Anthroposophie“
nannte, obwohl Rudolf Steiner der „Bewegung“ am liebsten „jede Woche einen
neuen Namen“ gegeben hätte, wie Andrej Belyj in seiner Schrift „Verwandeln des
Lebens“, Rudolf Steiners Kurs in England 1923 zitierend, schreibt (S 19).
[5] Rudolf
Steiner spricht in seiner „Geheimwissenschaft“ (1909) von sieben
aufeinanderfolgenden Kulturepochen, die er mit dem ungefähren Verweilen des
Sonnenaufgangs im sogenannten Frühlingspunkt in einem Sternbild zusammenschaut,
das etwa 2160 Jahre dauert. Die erste Kulturepoche nennt er die „Ur-indische“
(Zeitalter des Krebses), die zweite die „Ur-persische“ (Zeitalter der
Zwillinge), die dritte die „Ägyptisch-chaldäische“ (Zeitalter des Stieres), die
vierte dir „Griechisch-römische“ (Zeitalter des Widders) und die derzeitige
fünfte Kulturepoche die „germanische“ (Zeitalter der Fische). Es werden noch
zwei Kulturepochen folgen, die „slawische“ (Zeitalter des Wassermanns) und die
„amerikanische“ (Zeitalter des Steinbocks), bevor der „nachatlantische Zyklus“
beendet sein wird.
[6] Aschauer
geht bei seiner Untersuchung von einem interessanten „Detail“ aus, das auch uns
bei der Ausstellung begegnet ist: „Nero lebte von 37 bis 68. Bei der Geburt
handelte es sich um eine sogenannte Beckenlage (‚mit den Füßen zuerst zur Welt
gekommen‘, Plinius, Naturalis historia 7, 46, Übersetzung nach Marion Giebel).
Das ist eine Abweichung von der normalen Geburt, bei der nicht der Kopf,
sondern das Becken des Kindes vorangeht. Heute liegt die Häufigkeit dieser
Regelwidrigkeit bei 3% aller Schwangerschaften. Es handelt sich dabei um einen
Risikofaktor für die Entstehung psychiatrischer Krankheiten, da während des
erschwerten Geburtsvorganges durch Sauerstoffmangel oder ganz allgemein Stress
Störungen der Entwicklung des Nervensystems auftreten können. Später kann es zu
schizophrenen oder bipolaren affektiven Störungen kommen.(…). Die Erblichkeit
spielt bei Geburten in Beckenendlagen eine Rolle. Auch Neros Urgroßvater Marcus
Vipsanius Agrippa wurde so geboren.“ (Katalog, S 173)
[7] Während
ich dieses Zitat aus Rudolf Steiners Karma-Vortrag abschreibe, drängt sich mir
die Individualität Adolf Hitlers auf, über den Brigitte Hamann ebenfalls zwei
Bücher geschrieben hat: „Hitlers Wien- Lehrjahre eines Diktators“ (Piper, 1996)
und „Hitlers Edeljude – Das Leben des Armenarztes Eduard Bloch“ (Piper, 2008).
Die Gedanken, die Rudolf Steiner hier über den Ausgleich des Karma und die
Umwandlung böser in gute Kräfte ausspricht, bekommen erst ihre wahre und
wahrlich „erschütternde“ Dimension, wenn man sie auf den „größten Verbrecher“ des
20. Jahrhunderts anwendet, auf Adolf Hitler, der oft mit Kaiser Nero verglichen
wurde, so auch in dem Hollywoodfilm „Quo Vadis“, der sechs Jahre nach dem Ende
des „Dritten Reiches“ entstand und unser Nero-Bild bis heute prägt. Diese
Parallele wird im letzten Kapitel des Katalogs beschrieben, wo Dorothee
Henschel den amerikanischen „Propagandafilm“ untersucht. Sie schreibt: „Nicht
umsonst trägt Nero, während er seinen Hymnus vor dem brennenden Rom
rezitiert, in Anlehnung an die Uniformen
und Symbole der Faschisten und Nationalsozialisten, eine schwarze Toga mit
goldenen Adlern.“ (Katalog, S 386). Diese „starke Szene, die noch immer das
Nero-Bild vieler Zeitgenossen prägt“ wird bereits in der Einleitung von Marcus
Reuter zitiert, indem er auf S 17 ein Foto der Szene abdruckt.
[8] Siehe
die Biographie von Thomas Meyer, Ludwig Polzer Hoditz – ein Europäer, Perseus-Verlag
1994