Sankt Petersburg, der 15. August 2017
(Dienstag, 9.40/10.40 Uhr)
Mariä
Himmelfahrt und Geburtstag Napoleons (15. August 1769)
Meinen
ersten Gang durch die Stadt habe ich bereits unternommen – allein. Lena hat
schlecht geschlafen und wollte sich noch ausruhen.
Bis sie
sich richtet, will ich schnell zusammenfassen, wo ich auf meinem ersten
Rundgang war.
Unser
kleines Hotel liegt am nördlichen Ufer der Fontanka, eines der drei Kanäle, die
die Stadt in ost-westlicher Richtung durchschneiden. Der Kanal ist der
Querstrich des großen „A“, das die drei von der Admiralität nach Süden
ausstrahlenden Achsen bilden. Die mittlere, die Gorochowaja, liegt nur wenige
Meter von unserem Hotel entfernt.
Das
Malteser-Tor bildet sozusagen den Zugang zur Stadt. Diese zentrale Achse bin
ich nach Norden gegangen, bis ich auf die erste große Querstraße, die Sadowaja,
stieß. In diese bog ich nach links ab und gelangte so auf den Heumarkt, einen
sehr belebten Platz mit Metro-Station. Hier soll Dostowjewskis Roman „Schuld
und Sühne“ spielen, wie ich meinem Polyglott-Reiseführer entnehme. Meine
nächste Station ist die Nikolaus-Marine-Kathedrale (1753 – 1762 erbaut von Sawa
Tschewakinskij auf dem ehemaligen Marine-Exerzierplatz) mit ihren fünf goldenen
Kuppeln. Rings an den Außenwänden ist der blau-weiße Bau umgeben von
Putto-Köpfen aus Stuck, so als würde er von Engeln über dem Erdboden schwebend
gehalten.[1] Innen gibt es eine Unzahl
von Ikonen, die ich aber wegen des gedämpften Lichtes nicht lesen kann.
Meine nächste
Station ist das berühmte Mariinski-Theater, dessen südlicher Teil jedoch gerade
von einer Baustelle verdeckt wird. Gegenüber steht die Kolossal-Statue des
russischen Komponisten Rimsky-Korsakow. An der Mojka entlang, einem weiteren
Kanal der Stadt, komme ich zum Jussopow-Palast, in dem am 17. Dezember 1916
Grigorij Rasputin ermordet wurde. Weiter gehe ich an der Mojka entlang, bis ich
die Isaak-Kathedrale und das Reiterstandbild Zar Nikolaus I. vor mir habe. Auf
dem riesigen Isaakplatz, zu dem die „Blaue Brücke“ über die Moika führt, parken
unzählige Autos und Busse.
Ich gehe
weiter an der Moika bis zur Roten Brücke und folge dann der Gorochowaja zurück
zur Fontanka und zu unserem Hotel.
20.35/21.35 Uhr
Jetzt sind
wir gut müde. Lena und ich sind zusammen von etwa 12.00 Uhr bis um 20.30 Uhr
(russischer Zeit) durch Sankt Petersburg gelaufen. Zum Schluss habe ich noch
für Frieden und Völkerverständigung vor dem Winterpalais mitgetanzt. Nun spüre
ich Füße und Beine und bin, nach dem Abendbrot, das wir in unserem Hotelzimmer
eingenommen haben, einer Flasche Bier und einem Tee recht müde, zumal da ich in
der vergangenen Nacht nicht wirklich ausgeschlafen habe.
Ich wollte
mit Lena zu den Ursprüngen von Sankt Petersburg zurück, also zu dem Haus von
Peter dem Großen und zur Peter- und Paul-Festung. Wir haben auch die „Aurora“
angeschaut und waren in der Villa, die Zar Nikolaus für die Ballerina Mathilde
Kschessinskaja gebaut hat. Dort war eine sehr instruktive Ausstellung über die
Russische Revolution und 70 Jahre Sowjetunion, die wir uns ausführlich
angeschaut haben. Auch Lenins Arbeitszimmer und den Balkon, von dem aus er zu
seinen Anhängern gesprochen hat, haben wir gesehen. Es waren sehr viele
Eindrücke und ich werde später ausführlicher darüber berichten.
Sankt Petersburg, der 16. Aug. 2017
(Mittwoch, 5.15/6.15 Uhr)
In dieser
Stadt fand vor 100 Jahren die bolschewistische Revolution statt.
Hierher
gelangte Lenin, der über Deutschland, Schweden und Finnland in einem
plombierten Zug aus seinem Schweizer Exil zurückkehrte und versammelte seine
Anhänger um sich. Hier kämpften russische Soldaten unter Zar Peter I. 21 Jahre
lang gegen die Schweden im „Großen Nordischen Krieg“, der mit dem „Frieden von
Nystad“ endete, von dem Rudolf Steiner als einem der wichtigsten Ereignisse der
Neuzeit spricht.
Im Grunde
wurde die Stadt an der Neva von Peter dem Großen gegründet, um Russland vor den
Schweden zu schützen. Durch den Sieg über die nordischen Angreifer stieg
Russland zur Großmacht auf, etwa gleichzeitig mit Preußen. Es begann damit das
Spiel der fünf europäischen Großmächte, die Otto von Bismark bis zu seiner
Abdankung als Reichskanzler im Gleichgewicht zu halten versuchte. Das Bild von
den fünf Bällen, mit denen er zu „jonglieren“ versuchte, ist mir als eins der
wenigen aus dem Geschichtsunterricht aus meiner Schulzeit geblieben.
Dass
ausgerechnet ein Russe dieses Zarenreich vor 100 Jahren zerstörte, die
Zarenfamilie exekutieren und Millionen von russischen Bauern, die „Christiani“,
töten ließ, war das Ende des „alten Russland“, wie es noch Leo Tolstoi
beschrieben hat. Bis heute leidet das Land auch unter der Vernichtung seiner
„Intelligentia“ während des „Roten Terrors“.[2]
Wir
gelangten gestern auf der Dreieinigkeitsbrücke auf die nördliche, die „Petrograder
Seite“ von Sankt Petersburg. Dazu mussten wir den Fluss Newa überqueren. Nach
diesem Fluss hat der erste große russische Fürst und Nationalheld Alexander Newski
seinen Namen, nachdem er als erster im Jahre 1240 die Schweden in der „Schlacht
an der Newa“ besiegt hat.
Alle diese
historischen Ereignisse treten vor mein inneres Auge, als wir die Newa auf der Troizka
überqueren. Auf dieser Brücke höre ich auch zum ersten Mal seit unserem
Ankommen in Russland die deutsche Sprache wieder. Ein Mann und eine Frau kommen
uns entgegen und ich schnappe ein paar Brocken ihres Gesprächs auf. Unmittelbar
davor hatte ich zu Lena gesagt: „Den ersten Deutschen, den wir hier treffen,
werde ich umarmen.“ Das tat ich dann auch: zuerst umarmte ich den Mann, dann
die junge Frau. Und sie erwiderten herzlich meine Umarmungen.
Als erstes
steuerten wir das Haus Peters des Großen in unmittelbarer Nähe des Nordufers
der Newa an. Wir konnten es nur von außen anschauen, da es dienstags
geschlossen ist. Das in nur drei Tagen 1703 „aus Fichtenholzbalken im Stil
eines altrussischen Bauernhauses“ gezimmerte Gebäude, in dem der 2.03 Meter
große Hüne Peter der Große bescheiden gewohnt hat, ließ Katharina II., die
Große, 1784 mit Steinmauern umgeben, um es vor der Feuchtigkeit zu schützen.
In
unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Haus gibt es ein japanisches Restaurant, in
dem wir zu Mittag essen.
Von Peters
Holzhaus aus nahm Sankt Petersburg allmählich Gestalt an. Die ersten drei
Inseln, auf denen sich die Stadt seit 1703 ausbreitete, heißen Petrograd,
Hasen-Insel und Wassiljewski-Insel. Alle drei besuchen wir an diesem Tag. Dabei
springen wir in Gedanken immer wieder hin und her zwischen der alten und neuen
Geschichte der Stadt.
Unsere
nächste Station ist der historische Panzerkreuzer „Aurora“, der am Ufer der
Newa an der Ostseite der Insel ankert. Der Polyglott-Führer schreibt: „Zu
seinen revolutionären Ehren kam das Schlachtschiff, dessen Besatzung zu den
Bolschewiki übergelaufen war, am Abend des 25. Oktober (7. November) 1917, als
sich folgende Ereignisse zutrugen: vor der Nikolaiewskij-Brücke, die heute als
Leutnant-Schmidt-Brücke bekannt ist, bezog das Schiff Position und wartete auf
das verabredete rote Signalfeuer von der Peter-Paul-Festung. Um 21.45 Uhr gab
die „Aurora“ den legendären Blindschuss aus einer Bugkanone ab – das
Signal zur Erstürmung des Winterpalasts,
in dem die Provisorische Regierung ihren Sitz genommen hatte. Die
Geschichtsbücher der Sowjetunion lehrten noch lange Zeit, dass die „Aurora“
scharf geschossen habe und die Massen den Winterpalast mit brachialer Gewalt
erstürmen mussten. Tatsächlich stammt jenes berühmte Bild des Massensturmes aus
dem Film „Oktober“ von Sergej Eisenstein.“ (S 62)
20.35/21.35 Uhr:
Wir sind
erfüllt von all den heutigen Eindrücken, aber gleichzeitig „fix und fertig“.
Ich bin heute bestimmt 25 Kilometer gelaufen, Helena vielleicht 15. Ich habe
ungefähr 100 Euro, das heißt 70000 Rubel ausgegeben.
Sankt Petersburg, der 17. Aug. 2017
(Donnerstag, 5.00/6.00 Uhr)
Ich könnte
zwar noch schlafen, aber heute ist unser letzter Tag in Sankt Petersburg und
ich habe gestern via Internet zwei Eintrittskarten für die Eremitage gekauft
(je 20 Euro) und wir wollen rechtzeitig zur Öffnung (10.30 Uhr) dort sein.
Vorher müssen wir noch packen.
Gestern
wurde mir bewusst, wie wenig ich von russischer Geschichte, Literatur und Kunst
bisher wusste. Da ist mir Lena eine wirklich kundige Begleiterin.
Als wir am
Dienstag im Museum der Villa Kschessinskaja waren, haben wir uns mit den
historischen Umständen, die 1917 zur Russischen Revolution führten, mit dieser
selbst, dem roten Terror und siebzig Jahren kommunistischer Sowjetunion
beschäftigt. Ich hatte mir ein Gerät ausgeliehen, das mir die einzelnen
Stationen in deutscher Sprache erläuterte. Außerdem waren die meisten
Bildunterschriften auch in englischer Sprache übersetzt. So konnte ich mich
ganz gut orientieren. Die Ausstellung war museumspädagogisch perfekt gestaltet.
Ich habe einige Stationen oder Dokumente fotografiert. Lena, die sich vor allem
für die Deportationen während der Stalin-Zeit interessierte, sagte, dass sie
mindestens zehn Mal geweint hätte während des Lesens der Dokumente und des
Sehens der Bilder, bei denen sie an ihre Familie denken musste, insbesondere an ihre Großeltern.
Wir waren
nach ca. zweieinhalb Stunden so erschöpft, dass wir nur noch den Rückweg über
die Festung auf der Haseninsel und die Spitze der Wassiljewski-Insel auf die
Moskauer Seite antreten konnten, ohne die besonderen Sehenswürdigkeiten der
Polyglott-Tour „Nummer 1“ auf der Petrograder Seite zu beachten wie die
„Akademie der Wissenschaften“, die „Zwölf Kollegien“, den Menschikow-Palast mit
seinem Museum und einer Ausstellung zu Peter dem Großen und seiner Zeit oder
die Kirche der Heiligen Katharina.
Schon
allein die russischen Namen sind für mich noch schwierig zu merken:
Kschessinskaja, Wassiliewski (Basilius), Menschikow, ganz zu schweigen von den
Straßennamen und den Aufschriften an denkmalgeschützten Häusern in kyrillischer
Schrift. Ich bin schon ein wenig „eingearbeitet“, aber ich lese noch Buchstabe
für Buchstabe wie ein Erstklässler, der lesen lernt.
Alles ist
für mich „Neuland“. Ich fühle mich ein wenig wie der „Papalagi“.
Mein
mangelhaftes Wissen hängt auch damit zusammen, dass ich in einer Zeit
aufgewachsen bin, als der „Eiserne Vorhang“ die Welt in zwei „Blöcke“
unterteilte, die sich im „Kalten Krieg“ feindlich gegenüberstanden. Alles, was
jenseits der „Mauer“ war, war wie „Terra Incognita“, wie ein „Weißer Fleck“ auf
der Landkarte für mich.
Die Welt
jenseits gab es nicht wirklich in unseren westlichen Bewusstseinen. Unser Blick
ging nach Westen, mein Blick insbesondere nach Hollywood. Der Osten
interessierte mich nicht wirklich, jedenfalls nicht der sowjetische Teil des
Ostens. Ich blendete ihn aus, insbesondere, weil ich wenig mit Kommunismus und
Stalinismus anfangen konnte. Ich war nie ein Kommunist, auch wenn ich
anfänglich ein wenig mit manchen Ideen des Kommunismus sympathisierte. Aber ich
hatte nie Lust, „Das Kapital“ von Karl Marx zu lesen, geschweige denn die Werke
von Lenin. Das interessierte mich einfach nicht.
Nun bin
ich – mit meiner russischen Freundin – zum ersten Mal in diese Welt
„eingedrungen“ – etwa 25 Jahre nach dem endgültigen Untergang der Sowjetunion
und genau 100 Jahre nach der Russischen Revolution“. Lena ist wenige Wochen vor
dem Einmarsch der „Roten Armee“ in die Tschechoslowakei im August 1968
geboren, vor nun bald 50 Jahren.
Gestern
Vormittag bin ich von 8.00 bis 10.00 Uhr wieder alleine auf Tour gegangen. Ich
habe mich dabei an „Tour 3 – Wege der Kunst“ –
des Polyglott-Führers orientiert. Ich ging durch die vollkommen
erhaltene etwa 220 Meter lange sogenannte „Rossi-Straße“ auf das
Alexandrinski-Theater zu, das frühere Puschkin-Theater, das ebenfalls von dem
italienischen Architekten Carl Rossi in rein klassizistischen Formen erbaut
wurde. Vom anschließenden Ostrowski-Platz hatte ich einen wunderbaren Blick auf
die Eingangsfassade des Theaters mit der Attika und dem Wagen des Apollo als
Führer der Musen.
Als ich
mich genau in die Achse stellte, die in nordnordöstlich – südsüdwestlicher
Richtung verläuft, sah ich genau eine Handbreit über dem Giebel der Attika im
Südsüdwesten den abnehmenden Halbmond, der bereits das dritte Viertel
überschritten hatte und sich nun allmählich zu einer immer dünner werdenden
Sichel formte.
Als ich
weiter gehe und auf die monumentale Statue Katharinas II. treffe, steht der
Mond, allerdings nun drei Handbreit hoch, auch über der aus deutschem Hause
stammenden Zarin. Auf dem Piedestal sind die „Adler der Zarin“, die
bedeutendsten Vertreter ihrer Politik von Graf Pjotomkin bis zum Grafen Orloff
dargestellt.
Ich
umkreise das faszinierende Denkmal und
fotografiere es von jeder Seite. Es ist der erste Höhepunkt dieses Vormittags.
Vom Ostrowski-Park trete ich direkt hinaus auf den Newskij-Prospekt, die
berühmte Einkaufsstraße von Sankt Petersburg, die die östlichste der drei nach
Süden weisenden Achsen bildet. Diese Straße gehe ich nach Südosten und
bewundere den Anitschkof-Palast, das älteste erhaltene Gebäude am
Newskij-Prospekt, den Zarin Elisabeth I. für ihren Favoriten, Graf Rasumowski
erbauen ließ. Später schenkte Katharina II. den umgebauten Palast mehrmals
ihrem Liebhaber Graf Pjotomkin, der durch seinen ausschweifenden Lebenswandel
immer wieder in Geldnöte kam und das Geschenk verkaufte. Katharina hat es
zurückgekauft und ihm abermals geschenkt.
Gleich
nach dem gigantischen Palast führt die Anitschkof Brücke mit den vier bronzenen
Rossebändigern über die Fontanka und ich gelange schließlich rechts in den
Wladimirski-Prospekt und komme an der Wladimir-Kirche vorbei in das sogenannte
„Kutscherviertel“, in dem der berühmte russische Schriftsteller Fjodor
Dostojewskij viele Jahre lebte und 1881 auch gestorben ist.
Sosnovy Bor, der 18. August 2017 (Freitag,
17.13/18.13 Uhr)
Seit
gestern Abend sind wir wieder zu Hause bei Lenas Eltern in Sosnovy Bor. Ich
habe mich ausgeruht. Lena hat die neue Geschirrspülmaschine in Betrieb
genommen, die sie ihren Eltern gekauft hat und die ein Handwerker am Montagabend
angeschlossen hat, als wir nach Sankt Petersburg aufbrachen.
Eben
schaut sie mit ihren Eltern den Band über die Eremitage an, den ich gestern
gekauft habe. Ich habe mich in den vergangenen 90 Minuten in die Geschichte der
Romanov-Zaren von Peter dem Großen bis Katharina der Großen vertieft.
Allerdings ist die deutsche Übersetzung des Bandes, den ich am Dienstag in
einem Souvenirladen auf der Hasen-Insel gekauft hatte, schlecht und überhaupt
kann ich mich auf den sehr populär aufgemachten Inhalt nicht richtig verlassen,
weswegen ich noch vieles vertiefen will.[3] Es ist nur ein erstes
Antasten an die russische Geschichte von der Gründung Sankt Petersburgs an bis
heute.
Sosnovy Bor, der 19. August 2017 (Samstag,
7.14/8.14 Uhr)
An der
Wladimir-Kathedrale bog ich am Mittwochvormittag in die Kusnetschnyij-Straße
ein und entdeckte die berühmte Markthalle, in der „Händler aus dem Kaukasus,
aus Usbekistan und Tadschikistan, aus Aserbeidschan und aus Armenien“ allerlei
Köstlichkeiten anbieten: „Kräuter und Gewürze, Trockenfrüchte, Honig aus dem
Altai-Gebirge, Nüsse, Rauchfleisch aus Armenien oder geräucherte Pflaumen aus
Georgien“ (Polyglott-Führer, S 89).
Da es noch
früh am Vormittag ist, sind nur wenig Kunden unterwegs. Die Fischfrau richtet
gerade die eisgefüllte Fischtheke mit ganzen Lachsen. Am Honigstand soll ich
Kostproben nehmen, aber ich verstehe zunächst gar nicht, dass die farbigen
Massen, die dort cremig in rechteckigen Schalen liegen, verschiedene
Honigsorten sind und sage „danke“ auf Deutsch. Die Markthalle, die auf dem
Eingangsgiebel eine Art steinerne Uhr mit den zwölf Tierkreiszeichen zeigt,
stammt offensichtlich aus der sowjetischen Zeit, wenn man von der monumentalen Architektur
ausgeht. Davor sitzen ältere Frauen mit Kopftuch, die Blumen, einen Bund
Frühlingszwiebeln oder verschiedene Beeren anbieten, die sie aus den Gärten
ihrer Datschen hierher gebracht haben, um sich zu ihrer geringen staatlichen
Rente (ca. 200.- Euro) noch etwas dazu zu verdienen. Dabei muss ich an Lenas
Oma Vera denken.
Ich gehe
etwas weiter und komme schließlich zu dem Haus, in dem Fjodor Dostojewski
einige Jahre lebte und in dem heute ein Museum eingerichtet ist. Leider habe
ich noch nicht viel von dem russischen Dichter gelesen, aber ich werde es
gewiss nachholen, nachdem ich nun sein Haus, sein Viertel und den Heumarkt mit
eigenen Augen gesehen habe, Straßen und Orte, die in seinen Romanen vorkommen.
Immerhin habe ich mir bereits vor ein paar Jahren die Gesamtausgabe aus dem
Piper-Verlag gekauft.
Ich hatte
Lena versprochen, um 10.00 Uhr zurück im Hotel zu sein. So gehe ich jetzt auf
dem Sagorodnyi-Prospekt bis zu der T-Kreuzung, an der die zentrale Gorochowaja
endet. Nun laufe ich bis zum Malteser Tor und komme fünf nach zehn in unserem
kleinen Hotel an, das in einem rötlichen Rokoko-Palast am südlichen Ufer der
Fontanka liegt.
Lena hat
mit der Dame von der Rezeption gesprochen und erfahren, dass dieser Palast
einmal der Frau des Fürsten Felix Jussopow (1887 – 1967) und Nichte von Zar
Nikolaus II., der für ihre außergewöhnliche Schönheit bekannten Irina
Alexandrowna Romanowa (1885 – 1970), gehört habe. Die Familie besaß mehrere
Paläste in Sankt Petersburg und Moskau, Landbesitz und Minen und gehörte zu den
reichsten Familien Russlands vor der Revolution. Nach der Revolution lebten sie
bis zu ihrem Tode im Exil in Paris und finanzierten ihren luxuriösen Lebensstil
mit den Diamanten, die sie aus Russland mitgebracht hatten.[4]
Ich weiß
nicht, wieso mich diese Schicksale so anziehen. Auch Lena ist von der Tatsache
berührt, dass wir ausgerechnet im Palast von Jussupows Frau unser erstes Sankt
Petersburger Quartier genommen hatten.
Bei meinen
Recherchen erfahre ich auch etwas über Boris Vladimirowitsch Stürmer, einen
entfernten Verwandten, der seit dem 2. Februar 1916 der sechste Premierminister
des Zaren Nikolaus II. war. Er war gut bekannt mit Grigory Rasputin, der unter der
Protektion der Zarina stand, und vermutlich auch mit Fürst Jussopow, der sich
zunächst auch als Freund von Rasputin zeigte. Aber dieser hatte offenbar auch
eine dunkle Seite. Neben seinen homoerotischen Neigungen gilt Fürst Jussopow
bis heute als „Drahtzieher“ für die Ermordung des Wanderpredigers.
Stürmer
wurde nach der Februar-Revolution 1917 von der Provisorischen Regierung
verhaftet und starb am 9. September 1917 im Alter von 69 Jahren[5] an Unterernährung im
Krankenhaus auf der Peter-Paul-Festung.
Auch über
diesen Mann möchte ich noch gründliche Nachforschungen anstellen. Als ich am Dienstag in der Ausstellung über die Russische Revolution
in der Kschessinskaja-Villa einen älteren Museumswärter (auf Englisch) nach
Boris Stürmer fragte, konnte er mir keinen Hinweis geben.
Im
Internet finde ich die Memoiren des französischen Botschafters Maurice
Paleologue (1859 – 1944) aus dem Jahre 1922, die aus französischer Sicht – der
französische Botschafter war ein Vertrauter (und ehemaliger Klassenkamerad im
Pariser Elite-Gymnasium „Louis Le Grand“) von Staatspräsident Raymond Poincare
und deswegen streng antideutsch eingestellt – auch von Boris Stürmer berichten.
Zu Hause werde ich der Sache weiter nachgehen.
Es ist
einfach atemberaubend, welche Einblicke mir unser dreitägiger Aufenthalt in der
russischen Metropole in die ältere und neuere europäische Geschichte gewährt
und welche Bezüge plötzlich entstehen!
Nachdem
ich in unserem Hotel gefrühstückt habe, brechen wir gegen 11.00 Uhr zu unserer
nächsten Tour auf. Zuerst führe ich Lena die Gorochovaja zurück, auf der ich
gekommen bin. Das Ende der zentralen Achse wird durch ein modernes Gebäude
markiert, das eines der vielen Theater von Sankt Petersburg beherbergt. Es ist
das bereits 1922 eröffnete Kindertheater Bryantsev.
Davor
sitzt die Bronzestatue eines Schriftstellers, der auch Lena bisher nicht
bekannt war. Es handelt sich um den russischen Diplomaten und Dramatiker
Alexander Sergejewitsch Gribojedow (1795 – 1829), dessen Komödie „Wehe dem
Verstand“ (Gore ut Uma, 1823), eine beißende Satire auf die russische
Aristokratie, die gleich nach ihrem Erscheinen verboten wurde, heute das
meistaufgeführte Theaterspiel Russlands ist. Der Schriftsteller kam zusammen
mit 43 anderen russischen Botschaftsangehörigen bei der Stürmung der Russischen
Botschaft in Teheran ums Leben und wurde auf seinen Wunsch hin in Tiflis
begraben. Laut Wikipedia pilgerten viele spätere russische Schriftsteller an
sein Grab. Michael Bulgakow (1891 – 1940) hat später die Hauptschauplätze
seines satirischen Romans „Der Meister
und Margarita“ (1928 – 1940) nach Gribojedow benannt. Auch dieser Roman,
offenbar einer der wichtigsten Romane der Sowjetzeit, der nur in Abschriften im
Untergrund (Samisdat) weitergereicht wurde, bis er im Jahre 1966 in einer
gekürzten Version zum ersten Mal gedruckt wurde, steht schon lange in meiner
Bibliothek und wartet darauf, gelesen zu werden.
Nun gehen
wir auf dem Sagorodny Prospekt nach Osten auf den Turm der Wladimir-Kirche mit
seiner goldenen Kuppel zu und statten der Markthalle, die ich Lena zeigen will,
einen Besuch ab. Dabei entdecken wir einen Stand, in dem es echte handgemalte
Matruschkas gibt. Ich kaufe bei dem netten Händler, der mir seine
Facebook-Adresse gibt, zwei von Michael Bjakun handbemalte Mini-Matruschkas für
zusammen 3600 Rubel (etwa 52.- Euro), eine tiefblaue und eine bordeaux-rote.
Wir probieren auch verschiedene Honigsorten und sprechen mit einer armenischen
Händlerin. Die Fischtheke ist
inzwischen komplett aufgefüllt.
Ich zeige
Lena dann auch das Haus, in dem Dostojewski „Die Brüder Karamasow“ geschrieben
und am 9. Februar 1881 gestorben ist.
Nachdem
ich mir nun auf Wikipedia einen ersten Überblick über das Leben des Dichters
verschafft habe, ist er mir etwas vertrauter. Besonders berührt mich, dass er
mit dem russischen Philosophen Wladimir Solowjow (1853 – 1900), von dem Rudolf
Steiner so oft spricht und dessen „Kurze Erzählung vom Antichristen“ ich
mehrmals gelesen habe, befreundet war. Solowjow hat auch die Trauerrede bei
seiner Beerdigung im Alexander Newsky-Kloster gehalten. Auf dem Friedhof des
Klosters, das wir leider nicht mehr besucht haben, ist der Dichter auch
begraben. Auf seinem Grabstein steht das Wort aus dem Johannes-Evangelium:
„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt
und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht“
(Joh. 12, 24).
An der
Ecke Kusnetschniyj-Straße-Wladimir-Prospekt steht die Wladimir-Kirche, in die
„der eifrige Kirchgänger“ Dostojewski oft zum Beten ging, wie es in meinem Polyglott-Führer
heißt. In dieser Kirche wurde auch eine Totenmesse für ihn verlesen. Die Kirche
ist geöffnet und ich beschließe, sie – zu Ehren Dostojewskis – zu besuchen.
Lena, die
ihren kurzen Jeansrock an und kein Kopftuch dabei hat, wartet draußen.
In der
Kirche singt ein Pope an einem Seitenaltar. Schöne, meist junge Frauen mit
Schleier bewegen sich von Ikone zu Ikone und küssen die dargestellten Heiligen.
Ich stelle
mich vor die Vierung des auf einem griechischen Kreuz aufgebauten Gotteshauses
und bewundere die Ikonoklaste mit der verschlossenen Tür, die der Priester
während des Gottesdienstes mehrmals öffnet und durchschreitet.
Viele
große Heiligendarstellungen zieren die Wand, darunter auch eine Ikone des am
17. Juli 1918 ermordeten und am 20. August 2000 von der orthodoxen Kirche heiliggesprochenen
Zaren Nikolaus II. (1868 - 1918) und seiner Frau Alexandra Fjodorowna, einer
deutschen Prinzessin aus dem Hause Hessen-Darmstadt[6].
In den Zwickeln
der Vierungskuppel entdecke ich die vier Evangelisten mit ihren Symbolen. Der
Evangelist Johannes mit dem Adler ist im südöstlichen Zwickel – entgegen der
westlichen Tradition – bärtig dargestellt.
Als ich
ein Foto machen möchte, stürmt ein junger Wächter auf mich zu und winkt
energisch ab. Ich dachte schon, er wolle mir meine Kamera abnehmen.
Ich merke,
die orthodoxen Christen nehmen ihren Glauben noch sehr ernst. Die Kirchen sind
nicht, wie im Westen, zu Museen eines toten Glaubens, dem nur noch ein paar
„alte Weiber“ anhängen, geworden, sondern Orte eines praktizierten und
hoffentlich lebendigen Christentums. Aber vielleicht ist das bei vielen auch
nur äußere Tradition und die Rituale erstarrt. Ich weiß es nicht. Auf jeden
Fall erlebe ich persönlich in dieser orthodoxen Kirche etwas von dem
christlichen Geist, der hier noch weht.
17.30/18.30 Uhr:
Nach dem
Besuch der Wladimir-Kirche gehen wir weiter auf dem Wladimirski Prospekt. Wir
kommen an dem „Sankt Petersburg Lensowjet-Theater“[7] vorbei, in dem für den 23.
September Anton Tschechows „Drei Schwestern“ angekündigt werden. Das Stück
wurde am 31. Januar 1901 in Moskau unter der Regie von Konstantin Stanislawski
uraufgeführt. Die Rolle der Mascha spielte damals Olga Knipper (1868 – 1958),
Tschechows spätere Frau. Meine Klassenkameradin Charlotte hat mir den
Briefwechsel des Liebespaares[8] ausgeliehen und ich habe
vor zwei Jahren, als wir Jaki und sie in Seefeld besuchten, darin gelesen.
Es handelt
sich bei dem Theater, in dem auch ein „Brecht-Cabaret“ aufgeführt wird, um ein
Überbleibsel aus der Sowjetunion, das nach dem Zusammenbruch des
kommunistischen Imperiums von der Stadt Sankt Petersburg unterstützt und vor
dem Verkauf an skrupellose Grundstücksmakler bewahrt wurde.
Damit habe
ich an diesem Tag schon das dritte Sankt Petersburger Theater gesehen.
Auf der
anderen Straßenseite entdeckt Lena zwei ausgesprochene Luxus-Geschäfte. Zum
einen das „Imperatorski“, in dem wir das wunderschöne Tee-Service wieder
entdecken, das ich bei Mariage- Freres in Paris bereits bewundert hatte. Eine
Teetasse mit Untertasse im kobaltblauen Flechtbandmuster der Zaren kostet hier
umgerechnet ungefähr 35.- Euro. Es ist für uns unerschwinglich, auch wenn unsre
beiden Herzen bei seinem Anblick höher schlagen. Ganz anders geht es mir, als
wir an einem Kaviar-Geschäft vorbeikommen, in das wir ebenfalls eintreten und
die teuren Beluga-Kaviar-Döschen für 300.- Euro anschauen. Interessant ist für
mich das Aquarium, in dem junge Störe schwimmen.
Unser Weg
führt uns auf den Newski-Prospekt, den wir bis zur Anitschkov-Brücke
hinauflaufen, um dann am südlichen Fontanka-Ufer zum Scheremetjew-Palais zu
gelangen.
Der
Feldmarschall Boris Schermetjew gehörte wie der erste Gouverneur von Sankt
Petersburg, Alexander Menschikow, dessen prunkvoller Palast auf der Wassiljewsky-Insel
steht, zu den engsten Freunden Peters des Großen.
"Berühmt
wurde dieser barocke Prachtbau aber erst Jahrhunderte später, als ihn Anna
Achmatowa als ‚Fontänenhaus‘ in der Literatur verewigte. Die bekannte
russische Dichterin lebte mit ihrem zweiten Mann, dem Kunsthistoriker Nikolai
Punin, 1918 – 1950 in einem Seitenflügel des Palais“ (Polyglott-Führer, S 92).
Anna Achmatowa (1889 – 1966) war eine an Alexander Puschkin geschulte und von
Modigliani gezeichnete Persönlichkeit der russischen Literatur des „Silbernen Zeitalters“.
Sie gehörte mit ihrem ersten Mann Nikolai Gumilow und Ossip Mandelstam zur
Literaturbewegung der Akmeisten, die eine Gegenströmung zu den russischen
Symbolisten bildeten. Dennoch hatte sie zu dem Symbolisten und Sophiologen
Alexander Block (1880 – 1921), der neben seinem Freund Andrej Bely (1880 –
1934)[9] der Hauptvertreter dieser
Strömung war, eine enge, vielleicht sogar intime Beziehung.
Das
wichtigste Werk Anna Achmatowas ist ihr „Poem ohne Held“, ein Versepos, an dem
sie über 20 Jahre lang gearbeitet hat, bis es 1967 in New York und erst 1974
vollständig in der Sowjetunion veröffentlicht werden konnte. Es orientiert sich
formal stark an Puschkins Versepos „Eugen Onegin“ und „beschwört in Form eines
Karnevalszuges, in dem maskierte Gestalten mitlaufen, eine ganze Generation
verschwundener Freunde und Gestalten aus dem Petersburg“ (Wikipedia), die vor
ihr im „Fontänenhaus“ erscheinen. Die Schriftstellerin hatte während der
Stalin-Ära persönlich zu leiden. Ihr Mann Nikolai Punin wurde verhaftet und
starb 1953 im Arbeitslager Workuta. Auch ihr Sohn kam ins Arbeitsalger und
wurde erst 1956, drei Jahre nach Stalins Tod entlassen.
Vor dem
Palast sind auf einem Rasenstück acht schwarze Stühle aufgestellt. Wenn man
sich auf einen dieser Stühle setzt, erklingt ein Stück von Mozarts „Allegro“,
und zwar jeweils mit einem anderen Instrument dargeboten. In dem Palast kann
man neben dem Anna-Achmatova-Literatur-Museum auch eine Instrumentensammlung
besuchen.
Wir gehen
weiter. Unser nächstes Ziel ist die Michaelsburg, eine Art Wasserburg, die Zar
Paul I. erbauen ließ, weil er sich vor Mordanschlägen fürchtete. Tatsächlich
wurde er in dieser Burg am 24. März 1801 im Bett erwürgt. Auch der Erzengel
Michael, dem er die Burg weihte, konnte ihn nicht schützen.
Paul I. war als Sohn
Katharinas II. und Peters III. ein eher unbeliebter Zar, der aus Hass gegen
seine Mutter, die ihn bei jeder Gelegenheit gedemütigt hatte, versuchte, deren
Reformen rückgängig zu machen. Ein Jahr vor seinem Tod ließ der einzige nichtkatholische
Großmeister des Malteserordens[10], der eigentlich aus dem
Hause Holstein-Gottorf stammte, vor der Michaelsburg ein Standbild Peters des
Großen, das der italienische Bildhauer und Baumeister Rastrelli geschaffen
hatte, aufstellen, für das er die lakonische Widmung wählte: „Dem Urgroßvater vom Urenkel“.
Das
Schloss ist von Wasser umgeben und liegt zwischen dem Fontanka- und dem
Moika-Kanal.
1823 wurde
in dem Schloss, das viele Jahre leer stand, eine Ingenieursschule eingerichtet,
auf die unter anderen seit 1837 auch der junge Dostojewski ging. Hier wurde er
zum „Militäringenieur“ ausgebildet und erreichte den Rang eines Leutnants.
Nun ist es
schon nach 14.00 Uhr und wir sind hungrig.
Ich
entdecke in meinem Polyglott-Führer die Adresse eines nahegelegenen
vegetarischen Restaurants in der Pestelja Uliza, genau gegenüber der Barock-Kirche
des Heiligen Pantelejmon. Das Restaurant heißt „Botanika“ und wir essen ein
sehr gutes, mehrteiliges Menü für einen relativ niedrigen Preis. Neben dem Restaurant
liegt das Haus Nr. 5, in dem Alexander Puschkin seine berühmte Novelle „Der
eherne Reiter“ geschrieben hat.
Unser
nächstes Ziel ist der wunderbare Sommergarten Peters des Großen.
Der
älteste Park der Stadt Sankt Petersburg wurde bis 2012 aufwendig restauriert. Wir kommen auch am kleinen Sommerpalast
Peters vorbei. Die Hauptallee ist gesäumt von allegorischen Marmor-Statuen.
Mein
Polyglott-Führer erläutert: „Der Reformzar Peter der Große, der seine
Untertanen bis in die persönlichsten Angelegenheiten hinein bevormundete, der
die traditionelle russische Kleidung verbot, über das Tragen von Bärten
bestimmte, die Höhe von Kaminen entschied und sogar das Holz von Särgen
vorschrieb, verfolgte mit dem Sommergarten ein ausgeklügeltes pädagogisches
Konzept. All die unzähligen Faune, Götter, Nymphen und Jünglinge, die Peter bei
venezianischen Meistern bestellte, sollten seine Untertanen auf spielerische
Weise mit westeuropäischem Kulturgut und der antiken Götterwelt vertraut
machen. Denn der Zar hatte mehr als nur eine wirtschaftliche Öffnung nach Westen
im Auge“ (S. 95).
Der
Höhepunkt des Tages ist aber das Russische Museum im von Carlo Rossi 1819 –
1825 für den Großfürsten Michail Pawlowitsch, einem Bruder von Zar Alexander
I., dem Sohn und Nachfolger von Zar Paul I. und seiner aus dem Haus Württemberg
stammenden Frau, im rein klassizistischen Stil erbauten Michaelspalais.
Das Museum
stand eigentlich gar nicht auf unserem Programm. Wir entschieden uns jedoch spontan,
obwohl wir nur noch knapp 90 Minuten bis 18.00 Uhr hatten, dem Zeitpunkt, an
dem das Museum pünktlich schließen würde.
Besonders
begeistert war ich von den großformatigen alten Ikonen, die wir in drei Sälen bewundern konnten, dann aber auch von den russischen Realisten, die
mir bisher dem Namen nach völlig unbekannt waren, die Lena jedoch aus der
Schulzeit, als sie ihre Bilder beschreiben musste, sehr gut kannte und bis
heute liebt.
Bei den
Ikonen fallen mir besonders zwei immer wiederkehrende Themen auf: einmal die
„Auferweckung des Lazarus“, zum anderen der „Hinabstieg Christi in den Limbus“
(auch „Höllenfahrt Christi“ genannt). Das Thema Lazarus hat die orthodoxe
Kirche offenbar mehr beschäftigt als die katholische.
Als wir
den Saal mit den Ikonen betreten, sehen wir rechts und links der Tür zwei
Johannes-Darstellungen: einmal den Täufer (rechts) und zum anderen
Lazarus-Johannes (links). Bei den Lazarus-Darstellungen liegen immer die beiden
Schwestern Maria Magdalena und Martha Christus zu Füßen. Dabei dreht sich
Martha immer zurück zu ihrem Bruder Lazarus, der in den weißen Binden aus der
Gruft heraustritt, während Maria Magdalena sich ganz auf den Herrn vor ihr konzentriert.
Auch die
berühmte Nowgoroder Sankt Georgs-Ikone und die berühmte Nowgoroder Engel-Gabriel-Ikone
bewundern wir. Unter anderen entdecke ich auch zwei Ikonen des berühmten
russischen Ikonenmalers Andrej Rubljew: Der Heilige Petrus und der Heilige
Paulus aus Moskau (um 1408).
Ich merke
dabei, wie stark Lena auf diese heiligen Bildnisse reagiert, wie wenig sie aber
von ihrem Inhalt kennt: die Themen „Opferung Isaaks“, „der Kampf Jakobs mit dem
Engel“ oder „Jakobs Traum“ sind ihr völlig unbekannt. Alle religiösen Themen
waren in ihrer Schulzeit von den Kommunisten konsequent aus dem Unterricht
verbannt worden.
Ich bin
absolut begeistert von den monumentalen Werken der russischen Meister Karl
Pavlowitsch Brüllow (1799 – 1852) und Iwan Konstantinowitsch Aiwasowskij (1817
– 1900), die mir Lena nun vorstellt.
Brüllows
Bild „Die letzten Tage von Pompej“ aus dem Jahre 1833 ziert das Titelbild
meiner Ausgabe des Romans von Bulwer-Lytton. Ich bin völlig erstaunt, als ich
es im Original in seinen monumentalen Ausmaßen sehe.
Noch mehr
begeistern mich jedoch die Wasserbilder Aiwasowskij, „Die neunte Woge“ (1850)
und „Die Woge“ (1889). Sie wären sicherlich die absoluten Höhepunkte in der
gegenwärtigen Wind-Wasser-Wolken-Ausstellung in der Würth-Kunsthalle in
Schwäbisch Hall gewesen.
Auf dem
Rückweg sehen wir die im altrussischen Stil erbaute bunte
„Auferstehungskirche“.
„Anlass
für den Bau einer altrussischen Kirche in der ansonsten klassizistisch
geprägten Stadt war der Mord an Alexander II. am 1. März[11] 1881. Die Stelle, an der
ihn die Bombe der revolutionären ‚Narodnia Wolja‘ (Wille des Volkes) traf,
liegt im Innern der Kirche. (…) aufgrund ihrer blutigen Vorgeschichte wird das
Gotteshaus im Volksmund ‚Erlöserkirche auf dem Blut‘ genannt“ (Polyglott-Führer,
S 104).
Das Reiter-Standbild
dieses Zaren aus dem Hause Romanow-Holstein-Gottorp, der ein großer Reformator
Russlands war, haben wir bereits in Helsinki auf dem Domplatz bewundert.
Mir
gefällt die in den Jahren 1883 – 1907 erbaute Auferstehungskirche mit ihren
fünf Turmkrönungen, um die herum zahlreiche Souvenirstände ihre bunten
Russland-Souvenirs anbieten, auf den ersten Blick nicht so sehr. Sie lässt mich
eher an ein russisches "Disney-Land“ denken. Die Kirche ist zum Teil
eingerüstet und wird zur Zeit restauriert. Scharen von meist asiatischen
Touristen umkreisen sie.
Entlang
des Gribojedowa-Kanals kehren wir, am Jugendstil-Cafe „Singer“ und der
gegenüberliegenden Kasaner Kathedrale vorbei – beide am Newski-Prospekt gelegen
– allmählich zurück auf die Gorochowaja, wo wir bereits am Vortag zwei
Bio-Läden entdeckt hatten. Dort besorgen wir Dinkel-Brot, Kekse und Joghurt und
gelangen gegen 20.00 Uhr schließlich zurück zu unserem Hotel.
Sosnovy Bor, der 20. August 2017 (Sonntag,
3.05/4.05 Uhr)
Ich liege
seit einer Stunde wach und kann nicht mehr schlafen. Der gestrige Tag war
innerlich sehr bewegend für mich. Ich habe mich fast den ganzen Tag – nur
unterbrochen durch einen Einkaufsbummel mit Lenas Vater und durch das
Mittagessenkochen (Ratatouille mit Barilla-Spaghetti) – mit russischer
Literatur und Geschichte beschäftigt. Zum Mittagessen, das wir ungefähr um
16.00 Uhr im Wohnzimmer einnahmen, reichte uns Lenas Vater geschälte
Apfelschnitze. Ich erfuhr, dass an diesem Tag die orthodoxe Kirche einen
Heiligen feiert und dass man deswegen vor dem Essen einen Apfel essen soll.
Nach dem
alten russischen Kalender wurde an diesem Tag das Fest der Verklärung Christi
gefeiert, genau 13 Tage nach der Feier im Westen, die am 6. August ist. Ich
erfuhr aber zudem von einem Sergeji Tichomirov, der am 19. August seinen
Festtag hat. Er war – nach meinen Recherchen – Metropolit. Aber klug bin ich
daraus bisher nicht geworden und niemand konnte mir erklären, warum wir gestern
vor dem Essen Apfelschnitze gegessen haben.
Was mir
wichtiger erscheint, ist, dass genau heute vor 17 Jahren Zar Nikolaus II. und
seine Familie von der russisch-orthodoxen Kirche heiliggesprochen wurden.
Dieser Zar ist mir irgendwie vertraut, seitdem ich den Bericht
Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke über seinen Besuch in Sankt Petersburg
gelesen habe. Lena sagt, er sei ein schwacher Zar, aber ein guter Mensch
gewesen. Ich habe das Gefühl, die Russen verehren ihn heute, und empfinden
Abscheu über das grauenhafte Verbrechen vom 17. Juli 1918 in Jekatarinenburg.
(Bemerkung: Die Fortsetzung dieses Tagebuchberichtes befindet sich auf meinem Weblog "Kommentare zum Zeitgeschehen" unter dem Titel "Erfahrungen an einem Sonntag in Russland". Dort findet man auch eine weitere Fortsetzung meines Berichtes.)
[1]
Die Fratzen der gotischen Wasserspeier dienten nach Auffassung des Mittelalters
dazu, die Windgeister, die sich in ihnen wie gespiegelt sahen, abzuschrecken. Bei
den russisch-orthodoxen Kirchen scheint es so zu sein, dass die Engel an den
Außenwänden die Engel im Kosmos begrüßen möchten.
[2]
Diesen Terror beschreibt der russische Literaturnobelpreisträger Ivan Bunin in
seinem 1936 vollständig in Berlin, aber erst 1988 in Moskau publizierten „Cursed
Days“ (Verfluchte Tage). https://en.wikipedia.org/wiki/Cursed_Days
[3]
„Russlands Zaren – Die Rurikiden, die Romanows“ von Boris Antonow
(Übersetzerin: Susanne Brammerloh), Kunstverlag „P-2“, Sankt Petersburg, 2011
[4]
In diesem Zusammenhang fällt mir Ernst Lubitschs Komödie „Ninotschka“ ein, in
der auch eine reiche russische Fürstin auftritt, die im Pariser Exil lebt und von
der die streng linientreue Sowjet-Emissärin Ninotschka (Greta Garbo) die Zaren-Juwelen zurückfordert.
[5]
Interessanterweise starb auch mein Vater mit 69 Jahren, und zwar genau gestern
(18. August) vor 30 Jahren (1987).
[6]
Alix von Darmstadt Hessen wurde am 6. Juni 1872 im „Neuen Palais“ in Darmstadt
geboren. Eigentlich sollte sie „Alice“ heißen, aber ihre Mutter, die auf diesen
Namen hörte, meinte, diesen Namen würde man „umbringen“, weil man ihn ständig –
mit einem langen „i“ – aussprechen würde.
[7]
!929 am gleichen Platz als „Junges Theater“ gegründet.
[8]
„Mein ferner, lieber Mensch - Liebesbriefe“, herausgegeben von Jean Benedetti,
S. Fischer-Verlag, Frankfurt/Main 1998
[9]
Vladimir Nabokov hielt Andrej Belys Roman „Petersburg“, wie ich eben auf
Wikipedia lese, für einen der größten Romane des 20. Jahrhunderts.
[10]
Die Malteserritter setzten 1798 aus Dankbarkeit für ihre Zuflucht in den Schutz
Russlands vor Napoleon, der ihren Stützpunkt und Ordenssitz Malta eingenommen
hatte, ihren regierenden Großmeister Ferdinand von Hompesch (1744 – 1805) ab
und erklärten Paul I. zum neuen Großmeister (Wikipedia).
[11]
Am 1. März 1918 wurde mein Vater geboren.