Freitag, 25. August 2017

Drei Tage in Sankt Petersburg. Aus meinem Tagebuch

Sankt Petersburg, der 15. August 2017 (Dienstag, 9.40/10.40 Uhr)
Mariä Himmelfahrt und Geburtstag Napoleons (15. August 1769)
Meinen ersten Gang durch die Stadt habe ich bereits unternommen – allein. Lena hat schlecht geschlafen und wollte sich noch ausruhen.
Bis sie sich richtet, will ich schnell zusammenfassen, wo ich auf meinem ersten Rundgang war.
Unser kleines Hotel liegt am nördlichen Ufer der Fontanka, eines der drei Kanäle, die die Stadt in ost-westlicher Richtung durchschneiden. Der Kanal ist der Querstrich des großen „A“, das die drei von der Admiralität nach Süden ausstrahlenden Achsen bilden. Die mittlere, die Gorochowaja, liegt nur wenige Meter von unserem Hotel entfernt.
Das Malteser-Tor bildet sozusagen den Zugang zur Stadt. Diese zentrale Achse bin ich nach Norden gegangen, bis ich auf die erste große Querstraße, die Sadowaja, stieß. In diese bog ich nach links ab und gelangte so auf den Heumarkt, einen sehr belebten Platz mit Metro-Station. Hier soll Dostowjewskis Roman „Schuld und Sühne“ spielen, wie ich meinem Polyglott-Reiseführer entnehme. Meine nächste Station ist die Nikolaus-Marine-Kathedrale (1753 – 1762 erbaut von Sawa Tschewakinskij auf dem ehemaligen Marine-Exerzierplatz) mit ihren fünf goldenen Kuppeln. Rings an den Außenwänden ist der blau-weiße Bau umgeben von Putto-Köpfen aus Stuck, so als würde er von Engeln über dem Erdboden schwebend gehalten.[1] Innen gibt es eine Unzahl von Ikonen, die ich aber wegen des gedämpften Lichtes nicht lesen kann.


Meine nächste Station ist das berühmte Mariinski-Theater, dessen südlicher Teil jedoch gerade von einer Baustelle verdeckt wird. Gegenüber steht die Kolossal-Statue des russischen Komponisten Rimsky-Korsakow. An der Mojka entlang, einem weiteren Kanal der Stadt, komme ich zum Jussopow-Palast, in dem am 17. Dezember 1916 Grigorij Rasputin ermordet wurde. Weiter gehe ich an der Mojka entlang, bis ich die Isaak-Kathedrale und das Reiterstandbild Zar Nikolaus I. vor mir habe. Auf dem riesigen Isaakplatz, zu dem die „Blaue Brücke“ über die Moika führt, parken unzählige Autos und Busse.
Ich gehe weiter an der Moika bis zur Roten Brücke und folge dann der Gorochowaja zurück zur Fontanka und zu unserem Hotel.
20.35/21.35 Uhr
Jetzt sind wir gut müde. Lena und ich sind zusammen von etwa 12.00 Uhr bis um 20.30 Uhr (russischer Zeit) durch Sankt Petersburg gelaufen. Zum Schluss habe ich noch für Frieden und Völkerverständigung vor dem Winterpalais mitgetanzt. Nun spüre ich Füße und Beine und bin, nach dem Abendbrot, das wir in unserem Hotelzimmer eingenommen haben, einer Flasche Bier und einem Tee recht müde, zumal da ich in der vergangenen Nacht nicht wirklich ausgeschlafen habe.
Ich wollte mit Lena zu den Ursprüngen von Sankt Petersburg zurück, also zu dem Haus von Peter dem Großen und zur Peter- und Paul-Festung. Wir haben auch die „Aurora“ angeschaut und waren in der Villa, die Zar Nikolaus für die Ballerina Mathilde Kschessinskaja gebaut hat. Dort war eine sehr instruktive Ausstellung über die Russische Revolution und 70 Jahre Sowjetunion, die wir uns ausführlich angeschaut haben. Auch Lenins Arbeitszimmer und den Balkon, von dem aus er zu seinen Anhängern gesprochen hat, haben wir gesehen. Es waren sehr viele Eindrücke und ich werde später ausführlicher darüber berichten.
Sankt Petersburg, der 16. Aug. 2017 (Mittwoch, 5.15/6.15 Uhr)
In dieser Stadt fand vor 100 Jahren die bolschewistische Revolution statt.
Hierher gelangte Lenin, der über Deutschland, Schweden und Finnland in einem plombierten Zug aus seinem Schweizer Exil zurückkehrte und versammelte seine Anhänger um sich. Hier kämpften russische Soldaten unter Zar Peter I. 21 Jahre lang gegen die Schweden im „Großen Nordischen Krieg“, der mit dem „Frieden von Nystad“ endete, von dem Rudolf Steiner als einem der wichtigsten Ereignisse der Neuzeit spricht.
Im Grunde wurde die Stadt an der Neva von Peter dem Großen gegründet, um Russland vor den Schweden zu schützen. Durch den Sieg über die nordischen Angreifer stieg Russland zur Großmacht auf, etwa gleichzeitig mit Preußen. Es begann damit das Spiel der fünf europäischen Großmächte, die Otto von Bismark bis zu seiner Abdankung als Reichskanzler im Gleichgewicht zu halten versuchte. Das Bild von den fünf Bällen, mit denen er zu „jonglieren“ versuchte, ist mir als eins der wenigen aus dem Geschichtsunterricht aus meiner Schulzeit geblieben.
Dass ausgerechnet ein Russe dieses Zarenreich vor 100 Jahren zerstörte, die Zarenfamilie exekutieren und Millionen von russischen Bauern, die „Christiani“, töten ließ, war das Ende des „alten Russland“, wie es noch Leo Tolstoi beschrieben hat. Bis heute leidet das Land auch unter der Vernichtung seiner „Intelligentia“ während des „Roten Terrors“.[2]
Wir gelangten gestern auf der Dreieinigkeitsbrücke auf die nördliche, die „Petrograder Seite“ von Sankt Petersburg. Dazu mussten wir den Fluss Newa überqueren. Nach diesem Fluss hat der erste große russische Fürst und Nationalheld Alexander Newski seinen Namen, nachdem er als erster im Jahre 1240 die Schweden in der „Schlacht an der Newa“ besiegt hat.
Alle diese historischen Ereignisse treten vor mein inneres Auge, als wir die Newa auf der Troizka überqueren. Auf dieser Brücke höre ich auch zum ersten Mal seit unserem Ankommen in Russland die deutsche Sprache wieder. Ein Mann und eine Frau kommen uns entgegen und ich schnappe ein paar Brocken ihres Gesprächs auf. Unmittelbar davor hatte ich zu Lena gesagt: „Den ersten Deutschen, den wir hier treffen, werde ich umarmen.“ Das tat ich dann auch: zuerst umarmte ich den Mann, dann die junge Frau. Und sie erwiderten herzlich meine Umarmungen.
Als erstes steuerten wir das Haus Peters des Großen in unmittelbarer Nähe des Nordufers der Newa an. Wir konnten es nur von außen anschauen, da es dienstags geschlossen ist. Das in nur drei Tagen 1703 „aus Fichtenholzbalken im Stil eines altrussischen Bauernhauses“ gezimmerte Gebäude, in dem der 2.03 Meter große Hüne Peter der Große bescheiden gewohnt hat, ließ Katharina II., die Große, 1784 mit Steinmauern umgeben, um es vor der Feuchtigkeit zu schützen.


In unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Haus gibt es ein japanisches Restaurant, in dem wir zu Mittag essen.
Von Peters Holzhaus aus nahm Sankt Petersburg allmählich Gestalt an. Die ersten drei Inseln, auf denen sich die Stadt seit 1703 ausbreitete, heißen Petrograd, Hasen-Insel und Wassiljewski-Insel. Alle drei besuchen wir an diesem Tag. Dabei springen wir in Gedanken immer wieder hin und her zwischen der alten und neuen Geschichte der Stadt.
Unsere nächste Station ist der historische Panzerkreuzer „Aurora“, der am Ufer der Newa an der Ostseite der Insel ankert. Der Polyglott-Führer schreibt: „Zu seinen revolutionären Ehren kam das Schlachtschiff, dessen Besatzung zu den Bolschewiki übergelaufen war, am Abend des 25. Oktober (7. November) 1917, als sich folgende Ereignisse zutrugen: vor der Nikolaiewskij-Brücke, die heute als Leutnant-Schmidt-Brücke bekannt ist, bezog das Schiff Position und wartete auf das verabredete rote Signalfeuer von der Peter-Paul-Festung. Um 21.45 Uhr gab die „Aurora“ den legendären Blindschuss aus einer Bugkanone ab – das Signal  zur Erstürmung des Winterpalasts, in dem die Provisorische Regierung ihren Sitz genommen hatte. Die Geschichtsbücher der Sowjetunion lehrten noch lange Zeit, dass die „Aurora“ scharf geschossen habe und die Massen den Winterpalast mit brachialer Gewalt erstürmen mussten. Tatsächlich stammt jenes berühmte Bild des Massensturmes aus dem Film „Oktober“ von Sergej Eisenstein.“ (S 62)


20.35/21.35 Uhr:
Wir sind erfüllt von all den heutigen Eindrücken, aber gleichzeitig „fix und fertig“. Ich bin heute bestimmt 25 Kilometer gelaufen, Helena vielleicht 15. Ich habe ungefähr 100 Euro, das heißt 70000 Rubel ausgegeben.
Sankt Petersburg, der 17. Aug. 2017 (Donnerstag, 5.00/6.00 Uhr)
Ich könnte zwar noch schlafen, aber heute ist unser letzter Tag in Sankt Petersburg und ich habe gestern via Internet zwei Eintrittskarten für die Eremitage gekauft (je 20 Euro) und wir wollen rechtzeitig zur Öffnung (10.30 Uhr) dort sein. Vorher müssen wir noch packen.
Gestern wurde mir bewusst, wie wenig ich von russischer Geschichte, Literatur und Kunst bisher wusste. Da ist mir Lena eine wirklich kundige Begleiterin.
Als wir am Dienstag im Museum der Villa Kschessinskaja waren, haben wir uns mit den historischen Umständen, die 1917 zur Russischen Revolution führten, mit dieser selbst, dem roten Terror und siebzig Jahren kommunistischer Sowjetunion beschäftigt. Ich hatte mir ein Gerät ausgeliehen, das mir die einzelnen Stationen in deutscher Sprache erläuterte. Außerdem waren die meisten Bildunterschriften auch in englischer Sprache übersetzt. So konnte ich mich ganz gut orientieren. Die Ausstellung war museumspädagogisch perfekt gestaltet. Ich habe einige Stationen oder Dokumente fotografiert. Lena, die sich vor allem für die Deportationen während der Stalin-Zeit interessierte, sagte, dass sie mindestens zehn Mal geweint hätte während des Lesens der Dokumente und des Sehens der Bilder, bei denen sie an ihre Familie denken musste, insbesondere an ihre Großeltern.
Wir waren nach ca. zweieinhalb Stunden so erschöpft, dass wir nur noch den Rückweg über die Festung auf der Haseninsel und die Spitze der Wassiljewski-Insel auf die Moskauer Seite antreten konnten, ohne die besonderen Sehenswürdigkeiten der Polyglott-Tour „Nummer 1“ auf der Petrograder Seite zu beachten wie die „Akademie der Wissenschaften“, die „Zwölf Kollegien“, den Menschikow-Palast mit seinem Museum und einer Ausstellung zu Peter dem Großen und seiner Zeit oder die Kirche der Heiligen Katharina.
Schon allein die russischen Namen sind für mich noch schwierig zu merken: Kschessinskaja, Wassiliewski (Basilius), Menschikow, ganz zu schweigen von den Straßennamen und den Aufschriften an denkmalgeschützten Häusern in kyrillischer Schrift. Ich bin schon ein wenig „eingearbeitet“, aber ich lese noch Buchstabe für Buchstabe wie ein Erstklässler, der lesen lernt.
Alles ist für mich „Neuland“. Ich fühle mich ein wenig wie der „Papalagi“.
Mein mangelhaftes Wissen hängt auch damit zusammen, dass ich in einer Zeit aufgewachsen bin, als der „Eiserne Vorhang“ die Welt in zwei „Blöcke“ unterteilte, die sich im „Kalten Krieg“ feindlich gegenüberstanden. Alles, was jenseits der „Mauer“ war, war wie „Terra Incognita“, wie ein „Weißer Fleck“ auf der Landkarte für mich.
Die Welt jenseits gab es nicht wirklich in unseren westlichen Bewusstseinen. Unser Blick ging nach Westen, mein Blick insbesondere nach Hollywood. Der Osten interessierte mich nicht wirklich, jedenfalls nicht der sowjetische Teil des Ostens. Ich blendete ihn aus, insbesondere, weil ich wenig mit Kommunismus und Stalinismus anfangen konnte. Ich war nie ein Kommunist, auch wenn ich anfänglich ein wenig mit manchen Ideen des Kommunismus sympathisierte. Aber ich hatte nie Lust, „Das Kapital“ von Karl Marx zu lesen, geschweige denn die Werke von Lenin. Das interessierte mich einfach nicht.
Nun bin ich – mit meiner russischen Freundin – zum ersten Mal in diese Welt „eingedrungen“ – etwa 25 Jahre nach dem endgültigen Untergang der Sowjetunion und genau 100 Jahre nach der Russischen Revolution“. Lena ist wenige Wochen vor dem Einmarsch der „Roten Armee“ in die Tschechoslowakei im August 1968 geboren, vor nun bald 50 Jahren.
Gestern Vormittag bin ich von 8.00 bis 10.00 Uhr wieder alleine auf Tour gegangen. Ich habe mich dabei an „Tour 3 – Wege der Kunst“ –  des Polyglott-Führers orientiert. Ich ging durch die vollkommen erhaltene etwa 220 Meter lange sogenannte „Rossi-Straße“ auf das Alexandrinski-Theater zu, das frühere Puschkin-Theater, das ebenfalls von dem italienischen Architekten Carl Rossi in rein klassizistischen Formen erbaut wurde. Vom anschließenden Ostrowski-Platz hatte ich einen wunderbaren Blick auf die Eingangsfassade des Theaters mit der Attika und dem Wagen des Apollo als Führer der Musen.
Als ich mich genau in die Achse stellte, die in nordnordöstlich – südsüdwestlicher Richtung verläuft, sah ich genau eine Handbreit über dem Giebel der Attika im Südsüdwesten den abnehmenden Halbmond, der bereits das dritte Viertel überschritten hatte und sich nun allmählich zu einer immer dünner werdenden Sichel formte.
Als ich weiter gehe und auf die monumentale Statue Katharinas II. treffe, steht der Mond, allerdings nun drei Handbreit hoch, auch über der aus deutschem Hause stammenden Zarin. Auf dem Piedestal sind die „Adler der Zarin“, die bedeutendsten Vertreter ihrer Politik von Graf Pjotomkin bis zum Grafen Orloff dargestellt.


Ich umkreise das faszinierende Denkmal  und fotografiere es von jeder Seite. Es ist der erste Höhepunkt dieses Vormittags. Vom Ostrowski-Park trete ich direkt hinaus auf den Newskij-Prospekt, die berühmte Einkaufsstraße von Sankt Petersburg, die die östlichste der drei nach Süden weisenden Achsen bildet. Diese Straße gehe ich nach Südosten und bewundere den Anitschkof-Palast, das älteste erhaltene Gebäude am Newskij-Prospekt, den Zarin Elisabeth I. für ihren Favoriten, Graf Rasumowski erbauen ließ. Später schenkte Katharina II. den umgebauten Palast mehrmals ihrem Liebhaber Graf Pjotomkin, der durch seinen ausschweifenden Lebenswandel immer wieder in Geldnöte kam und das Geschenk verkaufte. Katharina hat es zurückgekauft und ihm abermals geschenkt.
Gleich nach dem gigantischen Palast führt die Anitschkof Brücke mit den vier bronzenen Rossebändigern über die Fontanka und ich gelange schließlich rechts in den Wladimirski-Prospekt und komme an der Wladimir-Kirche vorbei in das sogenannte „Kutscherviertel“, in dem der berühmte russische Schriftsteller Fjodor Dostojewskij viele Jahre lebte und 1881 auch gestorben ist.

Sosnovy Bor, der 18. August 2017 (Freitag, 17.13/18.13 Uhr)
Seit gestern Abend sind wir wieder zu Hause bei Lenas Eltern in Sosnovy Bor. Ich habe mich ausgeruht. Lena hat die neue Geschirrspülmaschine in Betrieb genommen, die sie ihren Eltern gekauft hat und die ein Handwerker am Montagabend angeschlossen hat, als wir nach Sankt Petersburg aufbrachen.
Eben schaut sie mit ihren Eltern den Band über die Eremitage an, den ich gestern gekauft habe. Ich habe mich in den vergangenen 90 Minuten in die Geschichte der Romanov-Zaren von Peter dem Großen bis Katharina der Großen vertieft. Allerdings ist die deutsche Übersetzung des Bandes, den ich am Dienstag in einem Souvenirladen auf der Hasen-Insel gekauft hatte, schlecht und überhaupt kann ich mich auf den sehr populär aufgemachten Inhalt nicht richtig verlassen, weswegen ich noch vieles vertiefen will.[3] Es ist nur ein erstes Antasten an die russische Geschichte von der Gründung Sankt Petersburgs an bis heute.
Sosnovy Bor, der 19. August 2017 (Samstag, 7.14/8.14 Uhr)
An der Wladimir-Kathedrale bog ich am Mittwochvormittag in die Kusnetschnyij-Straße ein und entdeckte die berühmte Markthalle, in der „Händler aus dem Kaukasus, aus Usbekistan und Tadschikistan, aus Aserbeidschan und aus Armenien“ allerlei Köstlichkeiten anbieten: „Kräuter und Gewürze, Trockenfrüchte, Honig aus dem Altai-Gebirge, Nüsse, Rauchfleisch aus Armenien oder geräucherte Pflaumen aus Georgien“ (Polyglott-Führer, S 89).
Da es noch früh am Vormittag ist, sind nur wenig Kunden unterwegs. Die Fischfrau richtet gerade die eisgefüllte Fischtheke mit ganzen Lachsen. Am Honigstand soll ich Kostproben nehmen, aber ich verstehe zunächst gar nicht, dass die farbigen Massen, die dort cremig in rechteckigen Schalen liegen, verschiedene Honigsorten sind und sage „danke“ auf Deutsch. Die Markthalle, die auf dem Eingangsgiebel eine Art steinerne Uhr mit den zwölf Tierkreiszeichen zeigt, stammt offensichtlich aus der sowjetischen Zeit, wenn man von der monumentalen Architektur ausgeht. Davor sitzen ältere Frauen mit Kopftuch, die Blumen, einen Bund Frühlingszwiebeln oder verschiedene Beeren anbieten, die sie aus den Gärten ihrer Datschen hierher gebracht haben, um sich zu ihrer geringen staatlichen Rente (ca. 200.- Euro) noch etwas dazu zu verdienen. Dabei muss ich an Lenas Oma Vera denken.
Ich gehe etwas weiter und komme schließlich zu dem Haus, in dem Fjodor Dostojewski einige Jahre lebte und in dem heute ein Museum eingerichtet ist. Leider habe ich noch nicht viel von dem russischen Dichter gelesen, aber ich werde es gewiss nachholen, nachdem ich nun sein Haus, sein Viertel und den Heumarkt mit eigenen Augen gesehen habe, Straßen und Orte, die in seinen Romanen vorkommen. Immerhin habe ich mir bereits vor ein paar Jahren die Gesamtausgabe aus dem Piper-Verlag gekauft.
Ich hatte Lena versprochen, um 10.00 Uhr zurück im Hotel zu sein. So gehe ich jetzt auf dem Sagorodnyi-Prospekt bis zu der T-Kreuzung, an der die zentrale Gorochowaja endet. Nun laufe ich bis zum Malteser Tor und komme fünf nach zehn in unserem kleinen Hotel an, das in einem rötlichen Rokoko-Palast am südlichen Ufer der Fontanka liegt.
Lena hat mit der Dame von der Rezeption gesprochen und erfahren, dass dieser Palast einmal der Frau des Fürsten Felix Jussopow (1887 – 1967) und Nichte von Zar Nikolaus II., der für ihre außergewöhnliche Schönheit bekannten Irina Alexandrowna Romanowa (1885 – 1970), gehört habe. Die Familie besaß mehrere Paläste in Sankt Petersburg und Moskau, Landbesitz und Minen und gehörte zu den reichsten Familien Russlands vor der Revolution. Nach der Revolution lebten sie bis zu ihrem Tode im Exil in Paris und finanzierten ihren luxuriösen Lebensstil mit den Diamanten, die sie aus Russland mitgebracht hatten.[4]
Ich weiß nicht, wieso mich diese Schicksale so anziehen. Auch Lena ist von der Tatsache berührt, dass wir ausgerechnet im Palast von Jussupows Frau unser erstes Sankt Petersburger Quartier genommen hatten.
Bei meinen Recherchen erfahre ich auch etwas über Boris Vladimirowitsch Stürmer, einen entfernten Verwandten, der seit dem 2. Februar 1916 der sechste Premierminister des Zaren Nikolaus II. war. Er war gut bekannt mit Grigory Rasputin, der unter der Protektion der Zarina stand, und vermutlich auch mit Fürst Jussopow, der sich zunächst auch als Freund von Rasputin zeigte. Aber dieser hatte offenbar auch eine dunkle Seite. Neben seinen homoerotischen Neigungen gilt Fürst Jussopow bis heute als „Drahtzieher“ für die Ermordung des Wanderpredigers.
Stürmer wurde nach der Februar-Revolution 1917 von der Provisorischen Regierung verhaftet und starb am 9. September 1917 im Alter von 69 Jahren[5] an Unterernährung im Krankenhaus auf der Peter-Paul-Festung.
Auch über diesen Mann möchte ich noch gründliche Nachforschungen anstellen. Als ich am Dienstag in der Ausstellung über die Russische Revolution in der Kschessinskaja-Villa einen älteren Museumswärter (auf Englisch) nach Boris Stürmer fragte, konnte er mir keinen Hinweis geben.
Im Internet finde ich die Memoiren des französischen Botschafters Maurice Paleologue (1859 – 1944) aus dem Jahre 1922, die aus französischer Sicht – der französische Botschafter war ein Vertrauter (und ehemaliger Klassenkamerad im Pariser Elite-Gymnasium „Louis Le Grand“) von Staatspräsident Raymond Poincare und deswegen streng antideutsch eingestellt – auch von Boris Stürmer berichten. Zu Hause werde ich der Sache weiter nachgehen.
Es ist einfach atemberaubend, welche Einblicke mir unser dreitägiger Aufenthalt in der russischen Metropole in die ältere und neuere europäische Geschichte gewährt und welche Bezüge plötzlich entstehen!
Nachdem ich in unserem Hotel gefrühstückt habe, brechen wir gegen 11.00 Uhr zu unserer nächsten Tour auf. Zuerst führe ich Lena die Gorochovaja zurück, auf der ich gekommen bin. Das Ende der zentralen Achse wird durch ein modernes Gebäude markiert, das eines der vielen Theater von Sankt Petersburg beherbergt. Es ist das bereits 1922 eröffnete Kindertheater Bryantsev.
Davor sitzt die Bronzestatue eines Schriftstellers, der auch Lena bisher nicht bekannt war. Es handelt sich um den russischen Diplomaten und Dramatiker Alexander Sergejewitsch Gribojedow (1795 – 1829), dessen Komödie „Wehe dem Verstand“ (Gore ut Uma, 1823), eine beißende Satire auf die russische Aristokratie, die gleich nach ihrem Erscheinen verboten wurde, heute das meistaufgeführte Theaterspiel Russlands ist. Der Schriftsteller kam zusammen mit 43 anderen russischen Botschaftsangehörigen bei der Stürmung der Russischen Botschaft in Teheran ums Leben und wurde auf seinen Wunsch hin in Tiflis begraben. Laut Wikipedia pilgerten viele spätere russische Schriftsteller an sein Grab. Michael Bulgakow (1891 – 1940) hat später die Hauptschauplätze seines satirischen Romans  „Der Meister und Margarita“ (1928 – 1940) nach Gribojedow benannt. Auch dieser Roman, offenbar einer der wichtigsten Romane der Sowjetzeit, der nur in Abschriften im Untergrund (Samisdat) weitergereicht wurde, bis er im Jahre 1966 in einer gekürzten Version zum ersten Mal gedruckt wurde, steht schon lange in meiner Bibliothek und wartet darauf, gelesen zu werden.
Nun gehen wir auf dem Sagorodny Prospekt nach Osten auf den Turm der Wladimir-Kirche mit seiner goldenen Kuppel zu und statten der Markthalle, die ich Lena zeigen will, einen Besuch ab. Dabei entdecken wir einen Stand, in dem es echte handgemalte Matruschkas gibt. Ich kaufe bei dem netten Händler, der mir seine Facebook-Adresse gibt, zwei von Michael Bjakun handbemalte Mini-Matruschkas für zusammen 3600 Rubel (etwa 52.- Euro), eine tiefblaue und eine bordeaux-rote. Wir probieren auch verschiedene Honigsorten und sprechen mit einer armenischen ändlerinHändlerin. Die Fischtheke ist inzwischen komplett aufgefüllt.
Ich zeige Lena dann auch das Haus, in dem Dostojewski „Die Brüder Karamasow“ geschrieben und am 9. Februar 1881 gestorben ist.
Nachdem ich mir nun auf Wikipedia einen ersten Überblick über das Leben des Dichters verschafft habe, ist er mir etwas vertrauter. Besonders berührt mich, dass er mit dem russischen Philosophen Wladimir Solowjow (1853 – 1900), von dem Rudolf Steiner so oft spricht und dessen „Kurze Erzählung vom Antichristen“ ich mehrmals gelesen habe, befreundet war. Solowjow hat auch die Trauerrede bei seiner Beerdigung im Alexander Newsky-Kloster gehalten. Auf dem Friedhof des Klosters, das wir leider nicht mehr besucht haben, ist der Dichter auch begraben. Auf seinem Grabstein steht das Wort aus dem Johannes-Evangelium: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht“ (Joh. 12, 24).
An der Ecke Kusnetschniyj-Straße-Wladimir-Prospekt steht die Wladimir-Kirche, in die „der eifrige Kirchgänger“ Dostojewski oft zum Beten ging, wie es in meinem Polyglott-Führer heißt. In dieser Kirche wurde auch eine Totenmesse für ihn verlesen. Die Kirche ist geöffnet und ich beschließe, sie – zu Ehren Dostojewskis – zu besuchen.
Lena, die ihren kurzen Jeansrock an und kein Kopftuch dabei hat, wartet draußen.
In der Kirche singt ein Pope an einem Seitenaltar. Schöne, meist junge Frauen mit Schleier bewegen sich von Ikone zu Ikone und küssen die dargestellten Heiligen.
Ich stelle mich vor die Vierung des auf einem griechischen Kreuz aufgebauten Gotteshauses und bewundere die Ikonoklaste mit der verschlossenen Tür, die der Priester während des Gottesdienstes mehrmals öffnet und durchschreitet.
Viele große Heiligendarstellungen zieren die Wand, darunter auch eine Ikone des am 17. Juli 1918 ermordeten und am 20. August 2000 von der orthodoxen Kirche heiliggesprochenen Zaren Nikolaus II. (1868 - 1918) und seiner Frau Alexandra Fjodorowna, einer deutschen Prinzessin aus dem Hause Hessen-Darmstadt[6].
In den Zwickeln der Vierungskuppel entdecke ich die vier Evangelisten mit ihren Symbolen. Der Evangelist Johannes mit dem Adler ist im südöstlichen Zwickel – entgegen der westlichen Tradition – bärtig dargestellt.
Als ich ein Foto machen möchte, stürmt ein junger Wächter auf mich zu und winkt energisch ab. Ich dachte schon, er wolle mir meine Kamera abnehmen.
Ich merke, die orthodoxen Christen nehmen ihren Glauben noch sehr ernst. Die Kirchen sind nicht, wie im Westen, zu Museen eines toten Glaubens, dem nur noch ein paar „alte Weiber“ anhängen, geworden, sondern Orte eines praktizierten und hoffentlich lebendigen Christentums. Aber vielleicht ist das bei vielen auch nur äußere Tradition und die Rituale erstarrt. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall erlebe ich persönlich in dieser orthodoxen Kirche etwas von dem christlichen Geist, der hier noch weht.
17.30/18.30 Uhr:
Nach dem Besuch der Wladimir-Kirche gehen wir weiter auf dem Wladimirski Prospekt. Wir kommen an dem „Sankt Petersburg Lensowjet-Theater“[7] vorbei, in dem für den 23. September Anton Tschechows „Drei Schwestern“ angekündigt werden. Das Stück wurde am 31. Januar 1901 in Moskau unter der Regie von Konstantin Stanislawski uraufgeführt. Die Rolle der Mascha spielte damals Olga Knipper (1868 – 1958), Tschechows spätere Frau. Meine Klassenkameradin Charlotte hat mir den Briefwechsel des Liebespaares[8] ausgeliehen und ich habe vor zwei Jahren, als wir Jaki und sie in Seefeld besuchten, darin gelesen.
Es handelt sich bei dem Theater, in dem auch ein „Brecht-Cabaret“ aufgeführt wird, um ein Überbleibsel aus der Sowjetunion, das nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums von der Stadt Sankt Petersburg unterstützt und vor dem Verkauf an skrupellose Grundstücksmakler bewahrt wurde.
Damit habe ich an diesem Tag schon das dritte Sankt Petersburger Theater gesehen.
Auf der anderen Straßenseite entdeckt Lena zwei ausgesprochene Luxus-Geschäfte. Zum einen das „Imperatorski“, in dem wir das wunderschöne Tee-Service wieder entdecken, das ich bei Mariage- Freres in Paris bereits bewundert hatte. Eine Teetasse mit Untertasse im kobaltblauen Flechtbandmuster der Zaren kostet hier umgerechnet ungefähr 35.- Euro. Es ist für uns unerschwinglich, auch wenn unsre beiden Herzen bei seinem Anblick höher schlagen. Ganz anders geht es mir, als wir an einem Kaviar-Geschäft vorbeikommen, in das wir ebenfalls eintreten und die teuren Beluga-Kaviar-Döschen für 300.- Euro anschauen. Interessant ist für mich das Aquarium, in dem junge Störe schwimmen.


Unser Weg führt uns auf den Newski-Prospekt, den wir bis zur Anitschkov-Brücke hinauflaufen, um dann am südlichen Fontanka-Ufer zum Scheremetjew-Palais zu gelangen.
Der Feldmarschall Boris Schermetjew gehörte wie der erste Gouverneur von Sankt Petersburg, Alexander Menschikow, dessen prunkvoller Palast auf der Wassiljewsky-Insel steht, zu den engsten Freunden Peters des Großen.
"Berühmt wurde dieser barocke Prachtbau aber erst Jahrhunderte später, als ihn Anna Achmatowa als ‚Fontänenhaus‘ in der Literatur verewigte. Die bekannte russische Dichterin lebte mit ihrem zweiten Mann, dem Kunsthistoriker Nikolai Punin, 1918 – 1950 in einem Seitenflügel des Palais“ (Polyglott-Führer, S 92). 
Anna Achmatowa (1889 – 1966) war eine an Alexander Puschkin geschulte und von Modigliani gezeichnete Persönlichkeit der russischen Literatur des „Silbernen Zeitalters“. Sie gehörte mit ihrem ersten Mann Nikolai Gumilow und Ossip Mandelstam zur Literaturbewegung der Akmeisten, die eine Gegenströmung zu den russischen Symbolisten bildeten. Dennoch hatte sie zu dem Symbolisten und Sophiologen Alexander Block (1880 – 1921), der neben seinem Freund Andrej Bely (1880 – 1934)[9] der Hauptvertreter dieser Strömung war, eine enge, vielleicht sogar intime Beziehung.
Das wichtigste Werk Anna Achmatowas ist ihr „Poem ohne Held“, ein Versepos, an dem sie über 20 Jahre lang gearbeitet hat, bis es 1967 in New York und erst 1974 vollständig in der Sowjetunion veröffentlicht werden konnte. Es orientiert sich formal stark an Puschkins Versepos „Eugen Onegin“ und „beschwört in Form eines Karnevalszuges, in dem maskierte Gestalten mitlaufen, eine ganze Generation verschwundener Freunde und Gestalten aus dem Petersburg“ (Wikipedia), die vor ihr im „Fontänenhaus“ erscheinen. Die Schriftstellerin hatte während der Stalin-Ära persönlich zu leiden. Ihr Mann Nikolai Punin wurde verhaftet und starb 1953 im Arbeitslager Workuta. Auch ihr Sohn kam ins Arbeitsalger und wurde erst 1956, drei Jahre nach Stalins Tod entlassen.
Vor dem Palast sind auf einem Rasenstück acht schwarze Stühle aufgestellt. Wenn man sich auf einen dieser Stühle setzt, erklingt ein Stück von Mozarts „Allegro“, und zwar jeweils mit einem anderen Instrument dargeboten. In dem Palast kann man neben dem Anna-Achmatova-Literatur-Museum auch eine Instrumentensammlung besuchen.
Wir gehen weiter. Unser nächstes Ziel ist die Michaelsburg, eine Art Wasserburg, die Zar Paul I. erbauen ließ, weil er sich vor Mordanschlägen fürchtete. Tatsächlich wurde er in dieser Burg am 24. März 1801 im Bett erwürgt. Auch der Erzengel Michael, dem er die Burg weihte, konnte ihn nicht schützen. 
Paul I. war als Sohn Katharinas II. und Peters III. ein eher unbeliebter Zar, der aus Hass gegen seine Mutter, die ihn bei jeder Gelegenheit gedemütigt hatte, versuchte, deren Reformen rückgängig zu machen. Ein Jahr vor seinem Tod ließ der einzige nichtkatholische Großmeister des Malteserordens[10], der eigentlich aus dem Hause Holstein-Gottorf stammte, vor der Michaelsburg ein Standbild Peters des Großen, das der italienische Bildhauer und Baumeister Rastrelli geschaffen hatte, aufstellen, für das er die lakonische Widmung wählte:  „Dem Urgroßvater vom Urenkel“.


Das Schloss ist von Wasser umgeben und liegt zwischen dem Fontanka- und dem Moika-Kanal.
1823 wurde in dem Schloss, das viele Jahre leer stand, eine Ingenieursschule eingerichtet, auf die unter anderen seit 1837 auch der junge Dostojewski ging. Hier wurde er zum „Militäringenieur“ ausgebildet und erreichte den Rang eines Leutnants.
Nun ist es schon nach 14.00 Uhr und wir sind hungrig.
Ich entdecke in meinem Polyglott-Führer die Adresse eines nahegelegenen vegetarischen Restaurants in der Pestelja Uliza, genau gegenüber der Barock-Kirche des Heiligen Pantelejmon. Das Restaurant heißt „Botanika“ und wir essen ein sehr gutes, mehrteiliges Menü für einen relativ niedrigen Preis. Neben dem Restaurant liegt das Haus Nr. 5, in dem Alexander Puschkin seine berühmte Novelle „Der eherne Reiter“ geschrieben hat.
Unser nächstes Ziel ist der wunderbare Sommergarten Peters des Großen.
Der älteste Park der Stadt Sankt Petersburg wurde bis 2012 aufwendig restauriert.  Wir kommen auch am kleinen Sommerpalast Peters vorbei. Die Hauptallee ist gesäumt von allegorischen Marmor-Statuen.
Mein Polyglott-Führer erläutert: „Der Reformzar Peter der Große, der seine Untertanen bis in die persönlichsten Angelegenheiten hinein bevormundete, der die traditionelle russische Kleidung verbot, über das Tragen von Bärten bestimmte, die Höhe von Kaminen entschied und sogar das Holz von Särgen vorschrieb, verfolgte mit dem Sommergarten ein ausgeklügeltes pädagogisches Konzept. All die unzähligen Faune, Götter, Nymphen und Jünglinge, die Peter bei venezianischen Meistern bestellte, sollten seine Untertanen auf spielerische Weise mit westeuropäischem Kulturgut und der antiken Götterwelt vertraut machen. Denn der Zar hatte mehr als nur eine wirtschaftliche Öffnung nach Westen im Auge“ (S. 95).
Der Höhepunkt des Tages ist aber das Russische Museum im von Carlo Rossi 1819 – 1825 für den Großfürsten Michail Pawlowitsch, einem Bruder von Zar Alexander I., dem Sohn und Nachfolger von Zar Paul I. und seiner aus dem Haus Württemberg stammenden Frau, im rein klassizistischen Stil erbauten Michaelspalais.
Das Museum stand eigentlich gar nicht auf unserem Programm. Wir entschieden uns jedoch spontan, obwohl wir nur noch knapp 90 Minuten bis 18.00 Uhr hatten, dem Zeitpunkt, an dem das Museum pünktlich schließen würde.
Besonders begeistert war ich von den großformatigen alten Ikonen, die wir in drei Sälen bewundern konnten, dann aber auch von den russischen Realisten, die mir bisher dem Namen nach völlig unbekannt waren, die Lena jedoch aus der Schulzeit, als sie ihre Bilder beschreiben musste, sehr gut kannte und bis heute liebt.
Bei den Ikonen fallen mir besonders zwei immer wiederkehrende Themen auf: einmal die „Auferweckung des Lazarus“, zum anderen der „Hinabstieg Christi in den Limbus“ (auch „Höllenfahrt Christi“ genannt). Das Thema Lazarus hat die orthodoxe Kirche offenbar mehr beschäftigt als die katholische.
Als wir den Saal mit den Ikonen betreten, sehen wir rechts und links der Tür zwei Johannes-Darstellungen: einmal den Täufer (rechts) und zum anderen Lazarus-Johannes (links). Bei den Lazarus-Darstellungen liegen immer die beiden Schwestern Maria Magdalena und Martha Christus zu Füßen. Dabei dreht sich Martha immer zurück zu ihrem Bruder Lazarus, der in den weißen Binden aus der Gruft heraustritt, während Maria Magdalena sich ganz auf den Herrn vor ihr konzentriert.
Auch die berühmte Nowgoroder Sankt Georgs-Ikone und die berühmte Nowgoroder Engel-Gabriel-Ikone bewundern wir. Unter anderen entdecke ich auch zwei Ikonen des berühmten russischen Ikonenmalers Andrej Rubljew: Der Heilige Petrus und der Heilige Paulus aus Moskau (um 1408).
Ich merke dabei, wie stark Lena auf diese heiligen Bildnisse reagiert, wie wenig sie aber von ihrem Inhalt kennt: die Themen „Opferung Isaaks“, „der Kampf Jakobs mit dem Engel“ oder „Jakobs Traum“ sind ihr völlig unbekannt. Alle religiösen Themen waren in ihrer Schulzeit von den Kommunisten konsequent aus dem Unterricht verbannt worden.
Ich bin absolut begeistert von den monumentalen Werken der russischen Meister Karl Pavlowitsch Brüllow (1799 – 1852) und Iwan Konstantinowitsch Aiwasowskij (1817 – 1900), die mir Lena nun vorstellt.
Brüllows Bild „Die letzten Tage von Pompej“ aus dem Jahre 1833 ziert das Titelbild meiner Ausgabe des Romans von Bulwer-Lytton. Ich bin völlig erstaunt, als ich es im Original in seinen monumentalen Ausmaßen sehe.
Noch mehr begeistern mich jedoch die Wasserbilder Aiwasowskij, „Die neunte Woge“ (1850) und „Die Woge“ (1889). Sie wären sicherlich die absoluten Höhepunkte in der gegenwärtigen Wind-Wasser-Wolken-Ausstellung in der Würth-Kunsthalle in Schwäbisch Hall gewesen.
Auf dem Rückweg sehen wir die im altrussischen Stil erbaute bunte „Auferstehungskirche“.
„Anlass für den Bau einer altrussischen Kirche in der ansonsten klassizistisch geprägten Stadt war der Mord an Alexander II. am 1. März[11] 1881. Die Stelle, an der ihn die Bombe der revolutionären ‚Narodnia Wolja‘ (Wille des Volkes) traf, liegt im Innern der Kirche. (…) aufgrund ihrer blutigen Vorgeschichte wird das Gotteshaus im Volksmund ‚Erlöserkirche auf dem Blut‘ genannt“ (Polyglott-Führer, S 104).
Das Reiter-Standbild dieses Zaren aus dem Hause Romanow-Holstein-Gottorp, der ein großer Reformator Russlands war, haben wir bereits in Helsinki auf dem Domplatz bewundert.
Mir gefällt die in den Jahren 1883 – 1907 erbaute Auferstehungskirche mit ihren fünf Turmkrönungen, um die herum zahlreiche Souvenirstände ihre bunten Russland-Souvenirs anbieten, auf den ersten Blick nicht so sehr. Sie lässt mich eher an ein russisches "Disney-Land“ denken. Die Kirche ist zum Teil eingerüstet und wird zur Zeit restauriert. Scharen von meist asiatischen Touristen umkreisen sie.
Entlang des Gribojedowa-Kanals kehren wir, am Jugendstil-Cafe „Singer“ und der gegenüberliegenden Kasaner Kathedrale vorbei – beide am Newski-Prospekt gelegen – allmählich zurück auf die Gorochowaja, wo wir bereits am Vortag zwei Bio-Läden entdeckt hatten. Dort besorgen wir Dinkel-Brot, Kekse und Joghurt und gelangen gegen 20.00 Uhr schließlich zurück zu unserem Hotel.

Sosnovy Bor, der 20. August 2017 (Sonntag, 3.05/4.05 Uhr)
Ich liege seit einer Stunde wach und kann nicht mehr schlafen. Der gestrige Tag war innerlich sehr bewegend für mich. Ich habe mich fast den ganzen Tag – nur unterbrochen durch einen Einkaufsbummel mit Lenas Vater und durch das Mittagessenkochen (Ratatouille mit Barilla-Spaghetti) – mit russischer Literatur und Geschichte beschäftigt. Zum Mittagessen, das wir ungefähr um 16.00 Uhr im Wohnzimmer einnahmen, reichte uns Lenas Vater geschälte Apfelschnitze. Ich erfuhr, dass an diesem Tag die orthodoxe Kirche einen Heiligen feiert und dass man deswegen vor dem Essen einen Apfel essen soll.
Nach dem alten russischen Kalender wurde an diesem Tag das Fest der Verklärung Christi gefeiert, genau 13 Tage nach der Feier im Westen, die am 6. August ist. Ich erfuhr aber zudem von einem Sergeji Tichomirov, der am 19. August seinen Festtag hat. Er war – nach meinen Recherchen – Metropolit. Aber klug bin ich daraus bisher nicht geworden und niemand konnte mir erklären, warum wir gestern vor dem Essen Apfelschnitze gegessen haben.
Was mir wichtiger erscheint, ist, dass genau heute vor 17 Jahren Zar Nikolaus II. und seine Familie von der russisch-orthodoxen Kirche heiliggesprochen wurden. Dieser Zar ist mir irgendwie vertraut, seitdem ich den Bericht Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke über seinen Besuch in Sankt Petersburg gelesen habe. Lena sagt, er sei ein schwacher Zar, aber ein guter Mensch gewesen. Ich habe das Gefühl, die Russen verehren ihn heute, und empfinden Abscheu über das grauenhafte Verbrechen vom 17. Juli 1918 in Jekatarinenburg.

(Bemerkung: Die Fortsetzung dieses Tagebuchberichtes befindet sich auf meinem Weblog "Kommentare zum Zeitgeschehen" unter dem Titel "Erfahrungen an einem Sonntag in Russland". Dort findet man auch eine weitere Fortsetzung meines Berichtes.)


[1] Die Fratzen der gotischen Wasserspeier dienten nach Auffassung des Mittelalters dazu, die Windgeister, die sich in ihnen wie gespiegelt sahen, abzuschrecken. Bei den russisch-orthodoxen Kirchen scheint es so zu sein, dass die Engel an den Außenwänden die Engel im Kosmos begrüßen möchten.
[2] Diesen Terror beschreibt der russische Literaturnobelpreisträger Ivan Bunin in seinem 1936 vollständig in Berlin, aber erst 1988 in Moskau publizierten „Cursed Days“ (Verfluchte Tage). https://en.wikipedia.org/wiki/Cursed_Days
[3] „Russlands Zaren – Die Rurikiden, die Romanows“ von Boris Antonow (Übersetzerin: Susanne Brammerloh), Kunstverlag „P-2“, Sankt Petersburg, 2011
[4] In diesem Zusammenhang fällt mir Ernst Lubitschs Komödie „Ninotschka“ ein, in der auch eine reiche russische Fürstin auftritt, die im Pariser Exil lebt und von der die streng linientreue Sowjet-Emissärin Ninotschka (Greta Garbo) die Zaren-Juwelen zurückfordert.
[5] Interessanterweise starb auch mein Vater mit 69 Jahren, und zwar genau gestern (18. August) vor 30 Jahren (1987).
[6] Alix von Darmstadt Hessen wurde am 6. Juni 1872 im „Neuen Palais“ in Darmstadt geboren. Eigentlich sollte sie „Alice“ heißen, aber ihre Mutter, die auf diesen Namen hörte, meinte, diesen Namen würde man „umbringen“, weil man ihn ständig – mit einem langen „i“ – aussprechen würde.
[7] !929 am gleichen Platz als „Junges Theater“ gegründet.
[8] „Mein ferner, lieber Mensch - Liebesbriefe“, herausgegeben von Jean Benedetti, S. Fischer-Verlag, Frankfurt/Main 1998
[9] Vladimir Nabokov hielt Andrej Belys Roman „Petersburg“, wie ich eben auf Wikipedia lese, für einen der größten Romane des 20. Jahrhunderts.
[10] Die Malteserritter setzten 1798 aus Dankbarkeit für ihre Zuflucht in den Schutz Russlands vor Napoleon, der ihren Stützpunkt und Ordenssitz Malta eingenommen hatte, ihren regierenden Großmeister Ferdinand von Hompesch (1744 – 1805) ab und erklärten Paul I. zum neuen Großmeister (Wikipedia).
[11] Am 1. März 1918 wurde mein Vater geboren.

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