Der Führung, die auch im
Veranstaltungskalender des Haller Tagblatts angekündigt war, hatte ich den
Titel gegeben: „Wo ist Jerusalem? Rundgang auf der Groß-Comburg und Besuch der
Nikolauskirche“.
Ich begann ganz bewusst unten am
Parkplatz im Waschbachtal, wo zwei Fußwege abgehen: der eine nach Süden zur
kleinen und der andere nach Norden zur großen Comburg. Ich wollte, dass die
Teilnehmer den Aufstieg erleben. Die imposante Klosteranlage der großen Comburg
liegt nämlich auf einem Umlaufberg des Kochers. Wenn man von Schwäbisch Hall
und Steinbach her kommt, dann ragt die Anlage vor den Blicken des Betrachters
auf wie eine phantastische Burg. Professor Fritz Arens zitiert Adolf Mettler, den
Erforscher mittelalterlicher Klosteranlagen in Württemberg:
„Kein schöneres Landschaftsbild
haben wir im Land (Württemberg) als die Ansicht der Comburg. Kloster und Veste
zugleich, thront wie die Gralsburg ihr in dem dreitürmigen Münster gipfelnder
Gebäudering auf dem Scheitel des vom Kocher umflossenen Combergs“[1]
Genau diesen Eindruck hatte ich,
als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal von Schwäbisch Hall kommend über
Hessental zurück in meine damalige Heimat bei Ellwangen fuhr. Der Anblick ist
beeindruckend, egal zu welcher Tageszeit man ihn hat, ob am Morgen, am Abend
oder – beleuchtet – in der Nacht. Es ist wie die Vision der real existierenden
Gralsburg.
Wenn man dagegen auf der
Landstraße von Ellwangen nach Schwäbisch Hall fährt, sieht man gerade einmal
die Turmspitzen der Nikolauskirche, wenn man nach links schaut. Die Anlage des
ehemaligen Benediktinerklosters ist also von Westen gesehen auffallend aus der
Landschaft hervorragend, von Osten gesehen in einer Talsenke verborgen.
Der Umlaufberg, auf dem die Comburg
liegt, wurde in vorhistorischer Zeit vom Kocher umflossen, bis sich der Kocher
bei Steinbach eine Abkürzung geschafft hat. Wenn man beide Zustände, den
jetzigen und den früheren, zusammenschaut, dann kann man sagen, der Burgfelsen
ragt wie eine Insel aus dem Wasser empor.
Aber auch konfessionell war die
Comburg eine Insel. Hier befindet sich neben Sankt Johannes im nahegelegenen
Steinbach die einzige katholische Kirche im ansonsten evangelischen Hohenloher
Land. Wohl auch deshalb blieb die Anlage bis heute erhalten, weil sie von
Würzburg aus, dem zuständigen Bistum, auch noch im siebzehnten und achtzehnten
Jahrhundert, also zur Zeit der Gegenreformation, mit Geistlichen – Dekanen und
Pröpsten – versorgt wurde, nachdem das ehemalige Benediktinerkloster 1488 in
einen weltlichen Chorherrenstift umgewandelt worden war. Damals entstand der
Neubau der Nikolauskirche im barocken Stil. Nur die drei imposanten Türme sind
noch romanisch und datieren aus der Stauferzeit.
Wir müssen also mehrere
Zeitschichten auseinanderhalten, wenn wir uns der Anlage nähern, an der so
viele Generationen und Baumeister gebaut haben und die heute trotzdem immer
noch so homogen und stimmig wirkt.
Schon der einzige Eintritt in die
Klosteranlage, die seit 1948 eine Lehrerfortbildungsstätte ist, weist auf den
Mysteriencharakter hin, den die Comburg ausstrahlt: wir müssen, von Osten
kommend, durch drei Tore hindurch gehen, also drei Schwellen überschreiten, um
dem Heiligtum näher zu kommen.
Der schon erwähnte Dekan und
spätere Probst Erasmus Neustetter genannt Stürmer ließ im späten 16.
Jahrhundert eine Ringmauer um die romanische Anlage erbauen, so dass zwischen
dem alten Mauerring und dem neuen ein Zwinger, ein freier Raum, entstand. Durch
diese Mauer kommt man durch das sogenannte „Gittertor“. Die weiblichen
Allegorien Abundantia (Überfluss) und Fortitudo (Stärke), welche das Wappen der
Comburg, einen Löwenkopf mit einem Dreieckssparren im Maul, halten, bekrönen
das Tor, das mit einem schmiedeeisernen Gitter verschlossen werden kann.
Danach folgt das „Innere
Zwingertor“, das in den Jahren 1560 bis 1575 ebenfalls von dem „baulustigen“
Dekan Neustetter errichtet und mit einer Wächterwohnung versehen wurde.
Schließlich gelangen wir zu dem dritten Tor, das noch aus romanischer Zeit
stammt. Über ihm erhebt sich eine romanische Kapelle mit zwei Osttürmen, die
dem Erzengel Michael geweiht ist. Ich erkläre meinen Zuhörern, dass Parzival in
dem Epos von Wolfram von Eschenbach an einem Michaelstag, also am 29. September,
zum ersten Mal zur Gralsburg gelangt. Fünfeinhalb Jahre später kam er nach
langer Irrfahrt zum zweiten Mal in die geheimnisvolle Burg, die man nicht
willentlich aufsuchen kann: es war ein Karfreitag.[2]
Über der Toreinfahrt unter der
Michaelskapelle sieht man noch einen gemauerten Rahmen. Aus zwei Löwenköpfen
steigen geschmückte Lisenen auf, welche die Wand in drei Felder aufteilen. Im
mittleren, gerahmten Feld befand sich ursprünglich ein Fresko mit dem
thronenden Christus und zwei Heiligen, von dem aber heute nichts mehr zu sehen ist.
Über dieser gegliederten Wand folgen eine romanische Zwerggalerie mit acht
Säulen und neun Bögen und dahinter die zwei zierlichen Türme. Fritz Arens
schreibt: „Auf keiner Burg wird man ein so reich ausgestattetes romanisches Tor
finden. Es ist daher berechtigt, diesen Bau als Atriumsportal zu bezeichnen". Er
vergleicht den Bau mit der berühmten karolingischen Vorhalle in Lorsch, einer
dreitorigen Einfahrt in den Klosterbereich.
Aber wir sind, nachdem wir die
drei Tore passiert haben, noch nicht am Ziel. Wir müssen nun eine Wendung um
90° nach Süden machen und durch einen vierten „Tunnel“ schreiten, der abermals
unter einer Kapelle durch und schräg nach oben führt: Es ist die geheimnisvolle
romanische Sechseckkapelle, die auch Erhardkapelle genannt wird.
„Dieser Bau
ist in jeder Beziehung eigenartig. Das erschwert seine Deutung, denn es sind
keine Baunachrichten, kein Benutzerzweck und noch nicht einmal das Patrozinium
überliefert.“ (Arens, S 11) Sechseckkapellen sind äußerst selten, während man
zahlreiche Beispiele für Achteckkapellen wie zum Beispiel die Pfalzkapelle in
Aachen oder die oktonale Kirche von Otmarsheim auf der elsässischen Seite des
Oberrheins, aber auch die zahlreichen Templerkapellen in Frankreich und Spanien
(Eunate) kennt. Zwischen glattem Unterbau und dem eigentlichen Kapellenbau
liegt wieder eine den ganzen Zentralbau umlaufende Zwerggalerie mit fünf mal
sechs Arkaden. Der Eingang liegt direkt gegenüber dem Nordportal der
Nikolauskirche.
Man hat sich geeinigt, diesen mit
Abstand schönsten Bau der ganzen Anlag nach dem Regensburger Bischof Erhard zu
nennen, weil dieser Name in den Schriften immer wieder im Zusammenhang einer
Kapelle auf der Komburg genannt wird. Ob dabei die Sechseckkapelle gemeint war,
ist unsicher.
Nun möchte ich auf das Gralsbuch
von Walter Johannes Stein zurückkommen, das in etwas populärer Form auch die
Grundlage für den in viele Sprachen übersetzten Bestseller „The Spear of
Destiny“ (englisch: 1972, deutsch: „Die heilige Lanze“: 1988) des englischen
Autors Trevor Ravenscroft ist, der den 1957 in London verstorbenen W.J. Stein
persönlich kannte.
Der ehemalige Geschichts- und
Deutschlehrer an der ersten, von dem Unternehmer Emil Molt gegründeten und von
Rudolf Steiner geistig betreuten
Waldorfschule auf der Uhlandshöhe in Stuttgart schrieb im letzten
(siebten) Kapitel über das Gralsgeschlecht. Nachdem er zuvor ausgeführt hat,
dass es in vorchristlicher Zeit die Mission des jüdischen Volkes war, eine leibliche
Hülle für den zur Erde kommenden Sonnengeist Christus zu bilden, so legt er nun
dar, dass es auch in nachchristlicher Zeit eine Gemeinschaft geben würde, die,
nun geistig gesehen, die Substanz des Christentums wie in einer Schale
empfangen sollte. W.J. Stein fährt fort:
„So entstand die Aufgabe in der
Mitte (Europas) – also auf der Linie Lothringens – ein Licht aufstrahlen zu
lassen, das nach Osten leuchten sollte.
Was damals als weithin wirksamer
historischer Impuls erstand, das drückte sich zunächst wie in einem
Historisch-Symbolischen im Schicksal der Heiligen Odilie aus.
Odilie entstammte einem Hause,
dessen Vorstand – ihr Vater Adalrich oder Eticho – 666 das Elsass als erbliches
Herzogtum empfangen hatte. Er ist eine Persönlichkeit, die ganz stark wie eine
Last jene Verantwortung empfindet, die auf dem einzelnen dadurch ruht, dass er
seine ihm innewohnenden Kräfte physisch vererbt.
Als ihm daher ein Kind geboren
wurde, das blind war – Odilie – da sagte er sich: Nun werden die Menschen
fragen: ‚Wer hat gesündigt: dieses Kind oder seine Eltern?‘ Und so wollte er
das Kind töten lassen, um dem Vorwurf zu entgehen, seine Schuld sei es, dass
Odilie ohne Augenlicht geboren wurde. So urteilte der Vater. Die Mutter aber
rettete das Kind. Sie brachte es mit Hilfe einer Amme zu ihrer Verwandten nach
Beaume les Dames. Dort wuchs das Kind auf.
In Regensburg, also östlich von
Palma (Beaume les Dames), lebte damals Erhard, Bischof von Regensburg. Ihm ward
die Gnade einer göttlichen Offenbarung zuteil. Es ward ihm der Auftrag, nach
Palma zu ziehen, zusammen mit seinem Bruder Hydulfus, um dort das blinde
Mägdlein zu taufen. In der Taufe würde es sehend werden. Und so geschah es.“ (S
397f)
Der Namenstag der Heiligen
Odilie, die später ein Kloster auf dem Odilienberg im Elsass gründete, das
heute noch als das zentrale Heiligtum dieser Landschaft und als ein besonders
spiritueller Ort gilt, ist der 13. Dezember. Vielleicht ist es kein Zufall,
dass diese Heilige, deren Attribut zwei Augen auf einem Buch sind und die bei
allerlei Augenleiden angerufen wir, genau auf jenen Tag fällt, an dem die
russisch-orthodoxe Kirche den Heiligen Nikolaus feiert, auf den 13. Dezember: Da im
gregorianischen Kalender nach der Reform elf Tage im Verhältnis zum
julianischen fehlen, muss man bei allen Kirchenfesten der Ostkirche immer die
elf Tage dazu zählen, um zum entsprechenden Termin zu kommen. Vielleicht hängt
die Sechszahl der Erhardskapelle auch mit dem bis heute sehr populären
Nikolaustag zusammen, der auf den 6. Dezember fällt. Dann wären wir bei der
sechs als der Hälfte der Zahl zwölf und hätten einen geradezu kabbalistischen
Bezug zwischen Nikolauskirche und Erhardskapelle, die auch in der Sicht-Achse
aufeinander bezogen sind, hergestellt.
Fritz Arens hat die Bedeutung der
Erhardskapelle näher untersucht und kommt zu dem Schluss, dass sie wohl in Anlehnung
an die Grabeskirche in Jerusalem gebaut worden war.
Solche „Heiligen Gräber“ findet
man an oder in vielen christlichen Sakralbauten des Abendlandes, zum Beispiel
im Münster von Konstanz oder in der Busdorfkirche in Paderborn. Die Nachbildung
des Heiligen Grabes in Jerusalem war in Europa vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, also zur Zeit der Kreuzzüge, sehr populär.
Die Erhardskapelle stammt, wie
man aus stilistischen Merkmalen erschließen kann, aus den ersten Jahrzehnten
des 13. Jahrhunderts. Arens zieht zum Vergleich Rituale heran, die von anderen
Kirchen bezeugt sind, und meint, dass die Mönche am Karfreitag vom Kreuzaltar
der Hauptkirche in feierlicher Prozession zur Erhardskapelle gezogen seien.
Der Hauptaltar der Nikolauskirche bezeichnete damit den Hügel Golgatha, auf dem
Christus gestorben, und die Erhardskapelle die Gruft des Joseph von Arimathia,
in die der Leichnam gelegt wurde. Dort blieb er aber nur knapp „drei“ Tage,
denn am Ostersonntag war er „verschwunden“.
Als Beleg für seine These führt
Arens die mittelalterlich Skulptur einer Löwin mit ihrem Jungen an, die sich an
der Nordseite der Erhardskapelle erhalten hat. Er bezieht sich dabei auf die
spätantike Schrift „Physiologus“, in der erzählt wird, dass die Löwin ihr
Junges tot zur Welt bringe. Nach drei Tagen würde sie es anbrüllen und dadurch
würde der junge Löwe aufwachen. Diese Geschichte ist ein schönes Beispiel für
das symbolische Denken des mittelalterlichen Menschen: Er bezog sie auf Tod und
Auferstehung Christi.
Wenn es sich bei der
Erhardskapelle wirklich um ein „Heilges Grab“ handelt, dann haben wir hier
einen zweiten Bezug zu den im staufischen Hochmittelalter sehr populären
Gralserzählungen. Damals wusste jeder, dass es der Jerusalemer Ratsherr Joseph
von Arimathia[3] war, der
in der Abendmahls-Schale das vom Kreuz herabfließende Blut Christi gesammelt
hat und anschließend mit dem „Gral“ über Südfrankreich nach Glastonbury in
Südengland gelangt ist, von wo aus sich im 11. und 12. Jahrhundert die
Gralsgeschichten über ganz Europa verbreiteten. Dabei spielt auch der Name des
sagenhaften Königs Artus eine wichtige Rolle. Es ist überliefert, dass der Abt
eines Benediktinerklosters bei den nächtlichen Gebetsstunden im Chorgestühl des
Mönchschores seine mit dem Schlaf ringenden Brüder einfach mit dem Satz: „Es war
einmal ein König Artus…“ wieder wach machen konnte.
Wolfram von Eschenbach spricht in
seinem Versepos „Parzival“ an keiner Stelle von der Abendmahls-Schale. Für ihn
ist der Gral einfach nur ein „dinc“. An anderer Stelle bezeichnet er ihn als „lapis
exillis“, also, frei übersetzt, als „Stein, der vom Himmel fiel“.
Die Erhardskapelle ist das
eigentliche architektonische Juwel der Comburg.
Alle Teilnehmer der Führung waren
beglückt, als Herr Erhard, unser offizieller Führer, uns die Kapelle
aufschloss, in die das Publikum sonst nur am „Tag des offenen Denkmals“
eintreten darf.
Wir staunten über die mittlere
Säule, die wie ein Lebensbaum die Rippen des Gewölbes trug. In den Gewölbe-Zwickel
hatte der Konstanzer Renaissance-Künstler Hans Violl im Jahre 1562 Pflanzenmotive und
Grotesken als Dekoration aufgemalt. Auch die Evangelisten- und Apostelfiguren
an den Wänden stammen von ihm. Herr Erhard weist uns auf die beiden
Wächterengel hin, die an den zwei Pfeilern, die sich zur Stiftskirche hin öffnen,
eingeritzt sind und aus spätromanischer Zeit stammen. Auch diese kann man als
Hinweis auf die Funktion der Kapelle als „Heiliges Grab“ ansehen, da in den
vier Evangelien auf recht unterschiedliche Weise von „weißen Männern“
beziehungsweise Engeln berichtet wird, die das Grab zu bewachen schienen, als
am Ostersonntagmorgen die heiligen Frauen und die Apostel Johannes und Petrus
an die verlassene Gruft des Joseph traten.
Nun ist es Zeit, auf die
Gründungsgeschichte des Klosters einzugehen. Im 10. Jahrhundert hatten die
Grafen von Rothenburg auf dem „kahlen Fels“, wie der Berg ursprünglich hieß,
eine neue Burg errichtet, da sie sich vom Salzhandel der reichen Stadt Hall
Zollgebühren erhofften. Es wird berichtet, dass ein Graf Richard den Berg, auf
dem die Comburg errichtet werden sollte, vom Bischof von Augsburg erworben
habe.[4] Rainer Jooß
führt aus:
„Den ersten einigermaßen
gesicherten Hinweis auf eine Familie, die sich nach der Komburg nannte, gibt
der Öhringer Stiftungsbrief, die Gründungsurkunde des Stifts Öhringen. Zwar
stammt deren heute vorliegende Fassung aus dem letzten Jahrzehnt des 11.
Jahrhunderts, aber die dort genannten Personen können durchaus im überlieferten
Jahr 1037 gelebt haben. Graf Burkhard erhielt damals die Vogtei über das neu
gegründete Stift. (…) Bei den übrigen Personen des Stiftungsbriefes handelte es
sich wohl durchweg um Verwandte der Stifter von Öhringen. Graf Burkhard selbst
könnte der Schwiegersohn der Kaiserinmutter Adelheit und der Schwager des
Bischofs Gebhard von Regensburg gewesen sein.“[5]
Damit erweist sich für die Grafen
der Comburg eine verwandtschaftliche Nähe zum Kaiserhaus der Salier.
Adelheit, deren Gebeine in der
Krypta der Stiftskirche „Peter und Paul“ in Öhringen ruhen, war die Mutter des
ersten Kaisers aus dem neuen Kaisergeschlecht. Die Kaiserkrone war nach dem Tod
von Heinrich II., einem Sachsen, an Konrad II., einen salischen Franken
übergegangen. Etwa ein Jahrhundert später sollte sie dann mit der Kaiserkrönung
Friedrichs I. Barbarossa an das schwäbische Haus der Hohenstaufen übergehen.
Es ist bekannt, dass seit Kaiser
Heinrich II. die Bestrebung bestand, sich von der Dominanz des römischen
Papstes zu emanzipieren. Der letzte Sachsenkaiser gründete in Bamberg sein
eigenes geistiges Zentrum, abseits von Rom. So kam es unter den Salierkaisern,
die diese Politik („weg von Rom“) weiterverfolgten, zum sogenannten
„Investiturstreit“, in dem es um das Recht ging, die Bischöfe einzusetzen, das
sowohl der Kaiser als auch der Papst für sich beanspruchten. Die Bischöfe und
Reichsäbte waren wegen ihrer Schriftkundigkeit die Ratgeber der Herrscher. Die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln
waren auch maßgeblich an der Wahl und der Krönungszeremonie der fränkischen
Könige beteiligt, während der Paps das Recht hatte, sie zum Kaiser zu krönen.
Der oberste der drei Erzbischöfe war der Erzbischof von Mainz. Er wurde
automatisch zum Reichskanzler ernannt.
Schwäbisch Hall lag im Einflussgebiet
dreier Bistümer: Augsburg, Konstanz und insbesondere Würzburg. Letzteres Bistum
gehört zur Erzdiözese Mainz.
Rainer Jooß, der die historischen
Urkunden des 11. Jahrhunderts studiert und ausgewertet hat, führt aus:
„Von der vermutlich letzten
Generation der Grafenfamilie trat der Älteste, Emehard, in den geistlichen
Stand. 1069 war er Subdiakon, 1089 ernannte ihn Heinrich IV. zum Bischof von
Würzburg, und zwar noch zu Lebzeiten seines Vorgängers Adalbero. Die
Bischofsweihe empfing er erst 1093, 1105 starb er. Der Gründung seiner Brüder
gegenüber verhielt er sich sehr zurückhaltend. Nur von der Schenkung eines
Kelchs wird berichtet. (…) Der zweitälteste Bruder war Graf Burkhart. (…)
Burkhard erreichte ein Alter von etwa 55 Jahren und starb wohl 1098. (…) Nach
der ‚Historia‘ nahmen alle drei Brüder Burkhart, Rugger und Heinrich (…) an
einem Sachsenfeldzug König Heinrichs IV. teil. (…) Um zu entscheiden, welcher
von beiden Sachsenfeldzügen gemeint ist, muss man bedenken, dass wohl um die
Mitte der Siebzigerjahre jenes Ereignis eintrat, das dem Leben Burkharts eine völlig neue Richtung gab. Die
anthropologische Untersuchung seiner Gebeine ergab, dass er an einer
‚langandauernden Knochenerkrankung litt, die ihm ritterliche, körperliche
Betätigung unmöglich machte‘. (…) Die stärker werdende Krankheit schloss
Burkhart zunehmend vom Leben seiner Standesgenossen aus. (…) Gezwungenermaßen
wandte er sich einem mehr beschaulichen Leben zu, und hier mag ihm der Gedanke
an eine Klostergründung gekommen sein, vielleicht in Einlösung eines Gelübdes
oder als Sühne für eine Tat, als deren Strafe er die Krankheit ansah. (…) Gegen
Ende seines Lebens trat er selbst in den Konvent ein, und nach der Aussage (…)
des Bleiplättchens in seinem Grab, starb er an einem zweiten Dezember.“[6]
Ganz anders als bei der Gründung
des Klosters in Ellwangen im Jahre 764, bei der den zwei adligen Brüdern Erlolf
und Hariolf bei der Jagd im Virngrund eine Vision zuteilwurde, stand bei der
etwa 330 Jahre später erfolgten Gründung der Komburg ein bewusster Entschluss
eines durch einen Schicksalsschlag getroffenen Adligen Pate.
Das zeigt deutlich den Wandel des
Bewusstseins der Menschen: Die alte Hellsichtigkeit, über die die Brüder des 8.
Jahrhunderts offenbar noch verfügten, wenn man der „Vita Hariolfi“ Glauben
schenken will, ist am Ende des elften Jahrhunderts verglommen. Es begann damals
die Furcht vor den Höllenqualen und so stifteten um ihres Seelenheiles im
Jenseits willen viele Adlige einen Teil ihres Besitzes an Klöster, deren Äbte dann dafür sorgten, dass
täglich eine Totenmesse für den meist im Kirchenchor bestatteten Stifter
gelesen wurde.
So war es auch in der frommen
Stiftung der Comburg. Zwei der drei Brüder liegen in der Tumba, die im Ostchor
der Nikolauskirche steht: Burkhart und Heinrich.
Graf Burkhart hat die
Benediktinerabtei im Jahre 1078, also mit etwa 25 Jahren gegründet. Die Kirche
konnte bereits neun Jahre später, im Jahre 1087 vom Bischof Adalbero von
Würzburg dem Heiligen Nikolaus geweiht werden.
Nikolaus von Myra war einer der
beliebtesten Heiligen des oströmischen Reiches und von Konstantinopel aus
gelangte sein Kult insbesondere nach Russland, wo er in jeder Kirche mit einer
Ikone an der Ikonostase vertreten ist, meist zusammen mit Maria rechts oder
links von Christus. Im neunten Jahrhundert wurde der Nikolauskult durch Theophanu,
die byzantinische Ehefrau von Kaiser Otto II., auch im westlichen und
nördlichen Europa populär. Einer der bedeutendsten römischen Päpste, Nikolaus
I. der Große, nannte sich nach dem Heiligen.
Exakt ein Jahr vor der Weihe der
Klosterkirche auf der Comburg wurden im Jahre 1087 die Gebeine des Heiligen in
einer Nacht- und Nebelaktion von italienischen Seefahrern unter dem Archidiakon
von Bari aus der Hand der 1054 „exkommunizierten“ Griechen „gerettet“ und in
die süditalienische Stadt Bari gebracht, wo sie bis heute verehrt werden. Die
Trennung von römisch-katholischer und griechisch-orthodoxer Kirche hatte
ausgerechnet Papst Nikolaus I. im neunten Jahrhundert eingeleitet. So fand das
letzte ökumenische Konzil beider Kirchen im Jahre 869/70 statt.[7] Auf
diesem Konzil wurde, laut Rudolf Steiner, „der Geist abgeschafft“.
Es war jedoch zugleich die Zeit,
in der die Ereignisse um Parzival und den Gral stattfanden. Es ging also das
esoterische, das geistige Christentum als verborgener Strom der
Geistesgeschichte weiter, während die offizielle Kirche den Geist ablehnte und
an seine Stelle das Dogma setzte. Das hat konsequent zum Materialismus geführt,
der im 19. Jahrhundert an einem ersten Höhepunkt angelangt war. Erst durch die
Begründung der Geisteswissenschaft durch Rudolf Steiner am Beginn des 20.
Jahrhunderts wurde (zunächst nur für eine kleine Gruppe von Menschen) das Tor
zum Geist wieder geöffnet: 1901 erschien sein grundlegendes Buch: „Das
Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums“.
Die „Abschaffung“ des Geistes für
knapp 1000 Jahre war aber auch deshalb notwendig, weil sich die Menschen von
allen unbewussten Einflüssen aus der Ätherwelt lösen mussten, um eigenständige,
freie Individuen zu werden: Deshalb sah es Papst Nikolaus I. als seine Aufgabe
an, sowohl die Impulse aus dem keltischen Westen, durch die der Geist im
Ätherbereich des Makrokosmos, also in der Naturgeistigkeit der Elemente,
gesucht und gefunden wurde, als auch die Impulse aus dem griechischen Osten,
durch die der Geist im Ätherbereich des Mikrokosmos, also in der Geistigkeit
des Kultus, gesucht und gefunden wurde, zurückzudrängen und einen Freiraum in
der Mitte Europas zu schaffen, in dem das Individuelle gedeihen konnte.
Im Jahre 1054 legte der
Benediktinermönch Humbert von Silva Candida im Auftrag des Papstes Leo IX. die Bannbulle
auf den Altar der Hagia Sophia in Konstantinopel und löste damit das bis heute
andauernde „Schisma“ zwischen orthodoxer und katholischer Kirche aus. Humbert
war, beeinflusst von der cluniazensischen Reform, ein strikter Gegner der
Laieninvestitur, also der Einsetzung der Bischöfe durch die großen weltlichen Fürsten. Nachdem
Papst Leo IX. gestorben war, kam bald darauf der Reform-Mönch Hildebrand als
Gregor VII. auf den Papstthron und „legte“ sich mit dem deutschen Kaiser
Heinrich IV. an. Der musste im Februar 1077 im Büßerhemd bei klirrender Kälte
den berühmten „Gang nach Canossa“ antreten.
Das war genau ein Jahr vor der
Gründung des Klosters auf der Comburg.
Bereits der dritte Abt der neu
gegründeten Benediktinerabtei, Hartwig, war ein Anhänger der Klosterreform. Er
war ein Abgesandter des Reformklosters Hirsau im Nordschwarzwald, das unter Abt
Wilhelm den Impuls von Cluny ins Deutsche Reich "importierte". Die zunächst
kaisertreuen Stifter gerieten dadurch in den Konflikt zwischen Kaiser und
Papst, was jedoch nach dem Aussterben der Grafenfamilie im Mannesstamm am
Anfang des 12. Jahrhunderts keine Rolle mehr spielte.
Dem kunstsinnigen Abt Hartwig
gelang es, Baumeister und Goldschmiede auf die Comburg zu holen und so
entstanden einige der bedeutendsten Kunstwerke des frühen zwölften
Jahrhunderts: das Antependium und der Radleuchter. Es sind die Kunstschätze der
Nikolauskirche, denen unsere Hauptaufmerksamkeit während der Führung gilt.
Das Antependium, ein vergoldeter
Altarvorsatz, zeigt Christus in der Mandorla, umgeben von den vier Evangelisten-Symbolen
und den zwölf Aposteln, die zu jeweils sechs in zwei übereinanderliegenden
Reihen rechts und links von Christus stehen. Christus als Dreizehnter trennt
beziehungsweise verbindet die zwölf. Eine Schrift auf der Innenseite der
erhöhten, mit Goldemail und Edelsteinen verzierten Mandorla, erklärt in
lateinischer Sprache: „AD SOLIVM CELI DVM FORMAM TRANSFERO SERVI ALPHA VOCATUS
E(T) O SVP(ER)IS TERRESTRIA JVNGO“ (Indem ich die Knechtsgestalt zum
Himmelsthron bringe, vereinige ich das Irdische und das Himmlische. Alpha und
Omega werde ich genannt.)
Christus wird hier als
Weltenrichter gezeigt, der nach dem 20. Kapitel der Offenbarung des Johannes
beim jüngsten Gericht den Vorsitz haben wird:
„Und ich sah einen großen, weißen
Thron und den, der darauf saß; und vor seinem Angesicht floh die Erde und der
Himmel, und ihnen ward keine Stätte gefunden. Und ich sah die Toten, beide,
groß und klein, stehen vor dem Thron, und Bücher wurden aufgetan. Und ein
anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten
wurden gerichtet nach dem, was geschrieben steht in den Büchern, nach ihren
Werken. Und das Meer gab die Toten, die darin waren, und der Tod und sein Reich
gaben die Toten, die darin waren; und sie wurden gerichtet, ein jeglicher nach
seinen Werken. Und der Tod und sein reich wurden geworfen in den feurigen
Pfuhl. Das ist der zweite Tod: der feurige Pfuhl. Und so jemand nicht gefunden
ward geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen
Pfuhl.“
Wenn hier von dem „Buch des
Lebens“ gesprochen wird, so kann man durchaus wieder an den Heiligen Nikolaus
denken, der ja am 6. Dezember in die Familien kommt und neben dem Sack mit den
Gaben auch ein großes Buch dabei hat, aus dem er vorliest, was die Kinder im
vergangenen Jahr gemacht haben. Es ist wohl eines der Bücher, von denen der
Apokalyptiker spricht. In der Terminologie der Anthroposophie kann man dieses
Buch auch als einen Teil der immateriellen „Akasha-Chronik“ verstehen. Auf
allen bildlichen Darstellungen, sowohl auf den Ikonen der Ostkirche, als auch
auf den Tafeln der Westkirche, wird der Heilige Nikolaus immer mit einem Buch
gezeigt.
Die Verbindung zwischen dem
Irdischen und Himmlischen, die in der Inschrift genannt wird, kann man mehrfach
interpretieren: einerseits verweist sie auf Christus als den wahren
Vermittler zwischen dem Kaiser als oberster weltlicher Macht und dem Papst als oberster geistlicher Macht. Die Inschrift findet
aber auch einen Wiederhall am Ende des mittelalterlichen Versepos „Parzival“,
wo es heißt:
„Swes leben sich so verendet
Daz got niht wirt gephendet
Der sele durch slibes schulde,
und der doch der werlde hulde
behalden kann mit werdekeit,
daz ist ein nütziu arbeit.[8]
Das ist die Botschaft der Gralsgeschichten:
ein Gralsritter wie Parzival oder Lohengrin soll sowohl seine weltlichen, als auch
seine geistigen Aufgaben gewissenhaft verrichten.
Auch das „Ora et Labora“ (Bete und
Arbeite!) der Benediktinerregel drückt diese Verbindung zwischen Himmlischem und
Irdischen aus.
Gleich im Anschluss an die
Erzählung vom Weltgericht, das an unzähligen Kirchen des Mittelalters über den
Westportalen dargestellt wird, wobei immer der Christus – umgeben von den vier
Tieren – in der Mitte thront (zum Beispiel im Tympanon des mittleren Königsportals
in der Westfassade der Kathedrale von Chartres[9]), folgt
im 21. Kapitel der Offenbarung die Vision vom „Himmlischen Jerusalem“:
„Und ich sah einen neuen Himmel
und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen, und das
Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von
Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet wie eine geschmückte Braut ihrem
Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron, die sprach: siehe da, die
Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden
sein Volk sein, und er selbst, Gott, wird mit ihnen sein; und Gott wird
abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch
Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Und der auf dem Thron saß, sprach: ‚Siehe, ich mache alles neu!‘ Und er
spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! Und er sprach
zu mir: es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich
will dem Durstigen geben von dem Brunnen des lebendigen Wassers umsonst. Wer
überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird
mein Sohn sein. Der feigen Verleugner aber und Ungläubigen und Frevler und
Totschläger und Unzüchtigen und Zauberer und Götzendiener und aller Lügner,
deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt; das ist
der zweite Tod.
Und es kam zu mir einer von den
sieben Engeln, welche die sieben Schalen hatten voll der letzten sieben Plagen,
und redete mit mir und sprach: Komm, ich will dir das weib zeigen, die Braut
des Lammes. Und er führte mich hin im Geist auf einen großen und hohen Berg und
zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem herniederfahren aus dem Himmel von Gott,
die hatte die Herrlichkeit Gottes. Und ihr Licht war gleich dem alleredelsten
Stein, einem Jaspis, klar wie Kristall. Und sie hatte eine große und hohe Mauer
und hatte zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel und Namen darauf geschrieben,
nämlich der zwölf Geschlechter der Kinder Israels: von Morgen drei Tore, von
Mitternacht drei Tore, von Mittag drei Tore, von Abend drei Tore. Und die Mauer
der Stadt hatte zwölf Grundsteine und auf ihnen die zwölf Namen der zwölf
Apostel des Lammes.“
Der Text geht noch weiter. Es
folgt die Beschreibung der Grundsteine der zwölf Tore, die alle aus den
wertvollsten Edelsteinen bestehen:
„Der erste Grundstein war ein
Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalcedon, der vierte ein
Smaragd, der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Sarder, der siebente ein
Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein
Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst.“
In dem monumentalen romanischen
Radleuchter, der über dem Hauptaltar hängt, einen Durchmesser von fünf Metern
und einen Umfang von knapp sechzehn Metern hat, haben wir einen Versuch, diese
Vision in ein materielles Kunstwerk umzusetzen Er ist wie das Antependium in
den Jahren 1130 bis 1135 entstanden und es haben sich auf der ganzen Welt nur
drei solche Radleuchter erhalten: im Dom von Aachen, im Dom von Hildesheim und
eben in der Stiftskirche der Comburg.
In zwölf vergoldeten Türmen, die
für „den Senat der zwölf Apostel“ stehen, wie es in der Inschrift heißt, erkennen
wir Apostel, Engel und Heilige. Zwischen den Türmen sind in zwölf Medaillons die
Abbilder der Propheten zu sehen. Insgesamt befinden sich auf dem Leuchter mit
seinen 48 (viermal zwölf) Kerzenhaltern 144 (zwölfmal zwölf) unterschiedliche
figürliche Darstellungen.
Der mittelalterliche Mensch hat
in jedem Kirchengebäude ein Abbild des Himmlischen Jerusalem gesehen.
Idealtypisch sollte deshalb jede Kirche zwölf Türme haben. Das wurde jedoch in
keiner mittelalterlichen Kirche realisiert. Am nächsten an das Ideal kommt wohl
der Dom von Limburg an der Lahn, der in den Jahren zwischen 1180 und 1190 begonnen
wurde und ein Übergangswerk zwischen Romanik und Gotik ist. Bei dem ebenfalls
dem Heiligen Nikolaus geweihten Sakralbau kann man sieben Türme erkennen.
Sieben ist die Addition der Zahl vier (Zahl des Irdischen) und der Zahl drei
(Zahl des Göttlichen), so wie die zwölf die Multiplikation der beiden Zahlen
ist.
In der Klosteranlage der Comburg
kann man tatsächlich die zwölf Türme erkennen, wenn man die Türme der beiden Ringmauern
und die drei erhalten gebliebenen, zum Teil reich geschmückten romanischen
Türme der Stiftskirche zusammenzählt.
Einige mittelalterliche Dichter
haben die Gralsburg beschrieben und dabei immer wieder die Zahl zwölf betont.
Dabei werden auch all die Edelsteine erwähnt, die so charakteristisch für die
himmlische Stadt sind.
Bei Wolfram treten bei Parzivals
erstem Besuch auf der Gralsburg zweimal zwölf Jungfrauen mit unterschiedlichen wertvollen
Gegenständen auf, die alle genau beschrieben werden. Als Fünfundzwanzigste
erscheint schließlich Repanse de Schoye, die Gralsträgerin mit dem Gral. Dieser
Gral wird einmal im Jahr am Karfreitag enthüllt. Dann fliegt eine weiße Taube
herab und legt eine Oblate auf den Gral.[10]
Anschließend spendet der Gral jedem Anwesenden die besten Speisen. Ich denke,
dass es sich dabei um geistige Speisen handelt im Sinne des Christuswortes: Der
Mensch lebt nicht vom Brot allein.
Besonders markante Beispiele für
die spirituelle Bedeutung der Zwölfzahl sind auch die gotischen Fensterrosen.
Eine der frühesten ist die Rose an der Westfassade der Kathedrale von Chartres,
die etwa zur gleichen Zeit konzipiert wie der Radleuchter, aber erst nach dem
Brand von 1194 gebaut wurde. Von außen gleicht sie dem Rad der Fortuna, das an
anderen Bauten des Mittelalters (zum Beispiel an der Kathedrale Saint Etienne
in Beauvais)[11]
angedeutet ist. Der Mensch wird ja im Idealfalle durch zwölf Jahrsiebte, also
durch alle Tierkreisqualitäten, geführt, bis er mit 84 Jahren sein Leben
vollendet hat.[12]
Der
West-Rose von Chartres entspricht in den Ausmaßen das Labyrinth im Inneren des
Kirchenschiffes mit seinem Sechspass in der Mitte und seinen 33 Wendungen, die
an die dreiunddreißig Jahre des Christuslebens erinnern.
Wenn man die Rose mit
ihren farbigen Gläsern von Innen anschaut, dann erkennt man in der Mitte wieder
den Christus als Weltenrichter, in den eher ovalen zwölf Strahlen die zwölf
Apostel und Heilige und in den äußeren kleineren Rosen Engel.[13]
Die Rose von Chartres beginnt
sich scheinbar zu drehen, wenn man sie über längere Zeit betrachtet. Sie
korrespondiert offenbar mit der zwölfblättrigen Herz-Chakra. Diese wird
aktiviert durch die Meditation der mittleren der sieben Vater-Unser-Bitten, in
der es um das „panem supersubstantialem“ (das geistige Brot, also: das Wort
Gottes) geht. Hierin kann man das eigentliche Gralsgeheimnis erkennen.
Es ist vielleicht nicht
unbedeutend, dass auf dem barocken Schalldeckel der Kanzel die Zahl sieben in
Form der Allegorien der sieben Todsünden als Gegenbild zu den sieben Bitten aus
dem Vaterunser erscheinen: Der auferstandene Christus, der auf dem Scheitel des
Deckels steht, schleudert wie ein antiker Zeus Blitze auf die zum Teil üppigen
und prunkvoll gekleideten Frauenfiguren. Die Trägheit reitet auf einem Esel,
die Wollust auf einem Ziegenbock, der Zorn hält einen Dolch, die Habsucht einen
Geldbeutel, die Hoffart, in Begleitung eines Pfaus, einen Spiegel. Der Neid
wird von einem Hund, die Maßlosigkeit von einem Schwein begleitet.[14]
Zum Abschluss besuchen wir in der
Josefskapelle, die an den romanischen Kapitelsaal anschließt, die Grabmäler der
Erneuerer der Urbanskirche mit dem wunderbaren spätgotischen Marienaltar, die
wir bei der letzten Führung kennen gelernt haben: Schenk Friedrich V. und seine
Frau Susanna von Thierstein, die bekannt war für ihre überdurchschnittliche
Schönheit.
Ich sehe in den beiden
Sakralbauten, in der Urbanskirche und in der Großcomburg, einen inneren
Zusammenhang. In der Unterlimpurger Marienkirche wird insbesondere die Verkündigung
und die Christgeburt dargestellt. Es handelt sich hier um das Geschehen von
Bethlehem. Interessant dabei ist, dass bei der Darstellung der Geburt nach
Lukas die Schenkenburg auf dem Berg zu erkennen ist, so als sei Bethlehem nicht
im fernen Heiligen Land, sondern hier in Hohenlohe. Urbanskirche: Verkündigung
(25. März) und Geburt Christi (25. 12.). Die Erhardskapelle auf der Comburg
symbolisiert das Heilige Grab. Die Nikolauskirche symbolisiert den Hügel von
Golgatha. Beide Ereignisse beziehen sich auf den Karfreitag. Wir befinden uns also in Jerusalem. Dargestellt
sind außerdem Weltgericht und Himmlisches Jerusalem am Ende der Zeiten.
Das größte Geheimnis, die
Auferstehung, findet nur in den Herzen der Gläubigen statt. Nur wenige Künstler
haben sich an die Darstellung dieses größten Mysteriums gewagt, so zum Beispiel
Mathias Grünewald im Isenheimer Altar in Colmar.
In die Nähe des Geheimnisses
kommen die Fresken in der Magdalenenkapelle im zweiten Turmgeschoss der
Michaelskirche in Schwäbisch Hall, die wir bei der ersten Führung aufgesucht
haben.
Aber dort heißt es bedeutsam:
„Noli me tangere!“ (berühre mich nicht).
Unser Bewusstsein ist noch nicht
weit genug entwickelt, um dieses Mysterium, das den Verstand übersteigt, zu
begreifen. Vielleicht sind die Geschichten vom Gral eine Art Vorbereitung und
Einübung auf das Herzdenken, das man dazu braucht.
[1] Adolf
Mettler, Die ursprüngliche Bauanlage des Klosters Comburg im Mittelalter:
Württemberg. Vierteljahreshefte für Landesgeschichte 20, 1911
[2] Richard
Wagner nahm ein spirituelles Erlebnis, das er am Karfreitag, den 20. April 1857
hatte, als Ausgangspunkt für die Bearbeitung des Parzival-Stoffes, aus dem dann
seine letzte „Oper“ hervorging, das „Bühnenweihfestspiel Parsifal“ (1882). Am
Donnerstag, also einen Tag vor der geplanten Führung, brachte der Kultursender
SWR2 in der Reihe „Forum“ ein Expertengespräch über Wagners Parsifal unter dem
Titel „Männerfantasie und Mysterium – was tun mit Richard Wagners ‚Parsifal‘?“
siehe: https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/swr2-forum/maennerfantasie-und-mysterium-was-tun-mit-wagners-parsifal/-/id=660214/did=21385478/nid=660214/1emtbq7/index.html
Diese Gesprächsrunde zeigte einmal wieder, wie wenig
sich die heutigen Intellektuellen in die Gralsgeschichte hineinfühlen können,
was schon der Titel der Sendung andeutet. Dabei muss man nur in
Richard Wagners Autobiographie „Mein Leben“ nachlesen, wie dieser Künstler, der
ja inkarnatorisch eng mit dem Artuskreis verbunden war (er war in einem
früheren Leben der Zauberer Merlin) zu seinen Inspirationen kam: Er schreibt in
dem Kapitel über das Jahr 1857: „So kam der 20. April heran, an welchem ich
meine bisherige, nun bereits vermietete Wohnung im Zeltwege verlassen musste,
ohne das noch nicht ganz fertig eingerichtete Landhaus bereits beziehen zu
können. Bei unfreundlicher Witterung hatten sich während der steten Besuche des
von Maurern und Schreinern nachlässig okkupierten Häuschens Erkältungen bei uns
eingestellt. In übelster Laune verbrachten wir eine Woche im Gasthofe, und ich
überlegte mir, ob es denn überhaupt der Mühe verlohne, erst noch dieses Grundstück
zu beziehen, indem es mir plötzlich ahnte, dass ich doch auch von dort wieder
weiterwandern dürfte. Endlich setzten wir am Ende des April mit Gewalt unsere
Einsiedelung durch; es war kalt und feucht, die neuen Heizungen wärmten nicht;
wir beide waren krank und vermochten kaum das Bett zu verlassen. Da erschien
ein gutes Anzeichen: der erste Brief, der mir hier zukam, war eiin
versöhnendes, sehr liebevolles Schreiben der Frau Julie Ritter, wodurch sie mir
die Beendigung des Zerwürfnisses wegen des Benehmens ihres Sohnes ankündigte.
Nun brach auch schönes Frühlingswetter herein; am Karfreitag erwachte ich zum
ersten Mal in diesem Hause bei vollem Sonnenschein: das Gärtchen war ergrünt,
die Vögel sangen, und endlich konnte ich mich auf die Zinne des Häuschens
setzen, um der langersehnten verheißungsvollen Stille mich zu erfreuen. Hiervon
erfüllt, sagte ich mir plötzlich, dass heute ja ‚Karfreitag‘ sei, und entsann
mich, wie bedeutungsvoll diese Mahnung mir schon einmal in Wolframs Parzival
aufgefallen war. Seit jenem Aufenthalte in Marienbad, wo ich die
‚Meistersinger‘ und ‚Lohengrin‘ konzipierte, hatte ich mich nie wieder mit
jenem Gedichte beschäftigt; jetzt trat sein idealer Gehalt in überwältigender
Form an mich heran, und von dem Karfreitags-Gedanken aus konzipierte ich
schnell ein ganzes Drama, welches ich, in drei Akte geteilt, sofort mit wenigen
Zügen flüchtig skizzierte.“ (Richard Wagner, Mein Leben, herausgegeben von
Martin Gregor-Dellin, Serie Musik Piper Schott, 2. Auflage 1989, S 561). (Ergänzung vom 31. Juli 2018: Richard Wagner lässt seine am 28. August 1850 in Weimar uraufgeführte romantische Oper "Lohengrin" in Antwerpen spielen, also in jener Stadt, in der das Atelier zu Hause war, das einige spätmittelalterliche Tafeln im Haller Raum geschaffen hat, so zum Beispiel die Geburtsgeschichte in der Urbanskirche oder den Hauptaltar mit der Passionsgeschichte in Sankt Michael.)
[3] Sein
Angedenken feiert die Kirche am 17. März, sinnigerweise zusammen mit dem
Nationalheiligen der Iren, Sankt Patrick (Patricius).
[4] Rainer
Jooß, Kloster Komburg im Mittelalter, Studien zur Verfassungs-, Besitz- und
Sozialgeschichte einer fränkischen Benediktinerabtei, Jan Thorbecke-Verlag
Sigmaringen, 1987, S 15.
[5] A.a.O. S
16
[6] A.a.O. S
17f
[7] Siehe meinen „Kommentar zum Zeitgeschehen“
vom 18.03.2018: http://jzeitgeschehenkommentare.blogspot.de/2018/03/helmuth-von-moltke-und-der-osten.html
[8]
Parzival, Buch XVI, Vers 19 – 24 (herausgegeben von Albert Leitzmann, 1903, Max
Niemeyer Verlag, Tübingen, 1965 (Altdeutsche Textbibliothek, Nr. 14)Übersetzung nach Wilhelm Stapel: „Wenn einer sein Leben
so endet, dass Gott nicht der Seele beraubt
wird durch des Menschen eigne Schuld, und wenn er sich dennoch die Huld der Welt
bewahren kann mit Ehren, so hat seine Mühe einen guten Ertrag“
[9] Der
thronende Weltenrichter in der Mandorla erscheint über den zwölf Aposteln.
[10] An der
zur Comburg weisenden Südseite des Chors der Urbanskirche befindet sich eine
solche Darstellung: eine nach unten schwebende Taube trägt eine Oblate im
Schnabel. Ich kenne keine andere Darstellung dieses Inhalts aus dem
Mittelalter. Siehe meine Führung in der Urbanskirche am 8. Dezember 2017: http://jwsreise.blogspot.de/2017/12/wo-ist-bethlehem-eine-fuhrung-durch-die.html
[11]Roland
Halfen, Chartres – Schöpfungsbau und Ideenwelt im Herzen Europas, Band 3:
Architektur und Glasmalerei, Verlag Johannes M. Mayer & Co, Stuttgart –
Berlin 2007, S 633ff)
[12] Siehe
Hans Sterneder, Tierkreisgeheimnis und Menschenleben, Drei-Eichen-Verlag,
München 1956
[13] „Die Fensterrose
über den drei Lanzetten in der Westfassade der Kathedrale ist sowohl ihrer
Lage, als auch ihrer Größe, ihrer Form und ihrer Struktur nach eng mit dem
Labyrinth verwandt und verbunden. Nicht nur ihr Durchmesser entspricht ziemlich
genau dem des Kirchenlabyrinths. Auch ihr Mittelpunkt hat die gleiche
Entfernung von der Schwelle der Westfassade, wie der Mittelpunkt des
Labyrinths. Würde man eine der beiden Ebenen, auf welcher sich die beiden Gebilde
befinden, jeweils über die Schwelle der Westfassade um 90° schwenken, würden
beide kongruent aufeinander zu liegen kommen. Schon der Sechspass im Zentrum
des Labyrinths vermag an die Struktur der Rosenfenster zu erinnern.“ (Roland
Halfen S 680)
[14] Siehe Gabriele
Kleiber, Groß- und Kleincomburg, Deutscher Kunstverlag München Berlin, 1999.