Sonntag, 25. März 2018

Wo ist Jerusalem? Eine Führung zur Großcomburg und in die Nikolauskirche


Der Führung, die auch im Veranstaltungskalender des Haller Tagblatts angekündigt war, hatte ich den Titel gegeben: „Wo ist Jerusalem? Rundgang auf der Groß-Comburg und Besuch der Nikolauskirche“.
Ich begann ganz bewusst unten am Parkplatz im Waschbachtal, wo zwei Fußwege abgehen: der eine nach Süden zur kleinen und der andere nach Norden zur großen Comburg. Ich wollte, dass die Teilnehmer den Aufstieg erleben. Die imposante Klosteranlage der großen Comburg liegt nämlich auf einem Umlaufberg des Kochers. Wenn man von Schwäbisch Hall und Steinbach her kommt, dann ragt die Anlage vor den Blicken des Betrachters auf wie eine phantastische Burg. Professor Fritz Arens zitiert Adolf Mettler, den Erforscher mittelalterlicher Klosteranlagen in Württemberg:
„Kein schöneres Landschaftsbild haben wir im Land (Württemberg) als die Ansicht der Comburg. Kloster und Veste zugleich, thront wie die Gralsburg ihr in dem dreitürmigen Münster gipfelnder Gebäudering auf dem Scheitel des vom Kocher umflossenen Combergs“[1]



Genau diesen Eindruck hatte ich, als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal von Schwäbisch Hall kommend über Hessental zurück in meine damalige Heimat bei Ellwangen fuhr. Der Anblick ist beeindruckend, egal zu welcher Tageszeit man ihn hat, ob am Morgen, am Abend oder – beleuchtet – in der Nacht. Es ist wie die Vision der real existierenden Gralsburg.
Wenn man dagegen auf der Landstraße von Ellwangen nach Schwäbisch Hall fährt, sieht man gerade einmal die Turmspitzen der Nikolauskirche, wenn man nach links schaut. Die Anlage des ehemaligen Benediktinerklosters ist also von Westen gesehen auffallend aus der Landschaft hervorragend, von Osten gesehen in einer Talsenke verborgen.



Der Umlaufberg, auf dem die Comburg liegt, wurde in vorhistorischer Zeit vom Kocher umflossen, bis sich der Kocher bei Steinbach eine Abkürzung geschafft hat. Wenn man beide Zustände, den jetzigen und den früheren, zusammenschaut, dann kann man sagen, der Burgfelsen ragt wie eine Insel aus dem Wasser empor.
Aber auch konfessionell war die Comburg eine Insel. Hier befindet sich neben Sankt Johannes im nahegelegenen Steinbach die einzige katholische Kirche im ansonsten evangelischen Hohenloher Land. Wohl auch deshalb blieb die Anlage bis heute erhalten, weil sie von Würzburg aus, dem zuständigen Bistum, auch noch im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, also zur Zeit der Gegenreformation, mit Geistlichen – Dekanen und Pröpsten – versorgt wurde, nachdem das ehemalige Benediktinerkloster 1488 in einen weltlichen Chorherrenstift umgewandelt worden war. Damals entstand der Neubau der Nikolauskirche im barocken Stil. Nur die drei imposanten Türme sind noch romanisch und datieren aus der Stauferzeit.
Wir müssen also mehrere Zeitschichten auseinanderhalten, wenn wir uns der Anlage nähern, an der so viele Generationen und Baumeister gebaut haben und die heute trotzdem immer noch so homogen und stimmig wirkt.
Schon der einzige Eintritt in die Klosteranlage, die seit 1948 eine Lehrerfortbildungsstätte ist, weist auf den Mysteriencharakter hin, den die Comburg ausstrahlt: wir müssen, von Osten kommend, durch drei Tore hindurch gehen, also drei Schwellen überschreiten, um dem Heiligtum näher zu kommen.
Der schon erwähnte Dekan und spätere Probst Erasmus Neustetter genannt Stürmer ließ im späten 16. Jahrhundert eine Ringmauer um die romanische Anlage erbauen, so dass zwischen dem alten Mauerring und dem neuen ein Zwinger, ein freier Raum, entstand. Durch diese Mauer kommt man durch das sogenannte „Gittertor“. Die weiblichen Allegorien Abundantia (Überfluss) und Fortitudo (Stärke), welche das Wappen der Comburg, einen Löwenkopf mit einem Dreieckssparren im Maul, halten, bekrönen das Tor, das mit einem schmiedeeisernen Gitter verschlossen werden kann.



Danach folgt das „Innere Zwingertor“, das in den Jahren 1560 bis 1575 ebenfalls von dem „baulustigen“ Dekan Neustetter errichtet und mit einer Wächterwohnung versehen wurde. Schließlich gelangen wir zu dem dritten Tor, das noch aus romanischer Zeit stammt. Über ihm erhebt sich eine romanische Kapelle mit zwei Osttürmen, die dem Erzengel Michael geweiht ist. Ich erkläre meinen Zuhörern, dass Parzival in dem Epos von Wolfram von Eschenbach an einem Michaelstag, also am 29. September, zum ersten Mal zur Gralsburg gelangt. Fünfeinhalb Jahre später kam er nach langer Irrfahrt zum zweiten Mal in die geheimnisvolle Burg, die man nicht willentlich aufsuchen kann: es war ein Karfreitag.[2]



Über der Toreinfahrt unter der Michaelskapelle sieht man noch einen gemauerten Rahmen. Aus zwei Löwenköpfen steigen geschmückte Lisenen auf, welche die Wand in drei Felder aufteilen. Im mittleren, gerahmten Feld befand sich ursprünglich ein Fresko mit dem thronenden Christus und zwei Heiligen, von dem aber heute nichts mehr zu sehen ist. Über dieser gegliederten Wand folgen eine romanische Zwerggalerie mit acht Säulen und neun Bögen und dahinter die zwei zierlichen Türme. Fritz Arens schreibt: „Auf keiner Burg wird man ein so reich ausgestattetes romanisches Tor finden. Es ist daher berechtigt, diesen Bau als Atriumsportal zu bezeichnen". Er vergleicht den Bau mit der berühmten karolingischen Vorhalle in Lorsch, einer dreitorigen Einfahrt in den Klosterbereich.
Aber wir sind, nachdem wir die drei Tore passiert haben, noch nicht am Ziel. Wir müssen nun eine Wendung um 90° nach Süden machen und durch einen vierten „Tunnel“ schreiten, der abermals unter einer Kapelle durch und schräg nach oben führt: Es ist die geheimnisvolle romanische Sechseckkapelle, die auch Erhardkapelle genannt wird. 



„Dieser Bau ist in jeder Beziehung eigenartig. Das erschwert seine Deutung, denn es sind keine Baunachrichten, kein Benutzerzweck und noch nicht einmal das Patrozinium überliefert.“ (Arens, S 11) Sechseckkapellen sind äußerst selten, während man zahlreiche Beispiele für Achteckkapellen wie zum Beispiel die Pfalzkapelle in Aachen oder die oktonale Kirche von Otmarsheim auf der elsässischen Seite des Oberrheins, aber auch die zahlreichen Templerkapellen in Frankreich und Spanien (Eunate) kennt. Zwischen glattem Unterbau und dem eigentlichen Kapellenbau liegt wieder eine den ganzen Zentralbau umlaufende Zwerggalerie mit fünf mal sechs Arkaden. Der Eingang liegt direkt gegenüber dem Nordportal der Nikolauskirche.
Man hat sich geeinigt, diesen mit Abstand schönsten Bau der ganzen Anlag nach dem Regensburger Bischof Erhard zu nennen, weil dieser Name in den Schriften immer wieder im Zusammenhang einer Kapelle auf der Komburg genannt wird. Ob dabei die Sechseckkapelle gemeint war, ist unsicher.
Nun möchte ich auf das Gralsbuch von Walter Johannes Stein zurückkommen, das in etwas populärer Form auch die Grundlage für den in viele Sprachen übersetzten Bestseller „The Spear of Destiny“ (englisch: 1972, deutsch: „Die heilige Lanze“: 1988) des englischen Autors Trevor Ravenscroft ist, der den 1957 in London verstorbenen W.J. Stein persönlich kannte.
Der ehemalige Geschichts- und Deutschlehrer an der ersten, von dem Unternehmer Emil Molt gegründeten und von Rudolf Steiner geistig betreuten  Waldorfschule auf der Uhlandshöhe in Stuttgart schrieb im letzten (siebten) Kapitel über das Gralsgeschlecht. Nachdem er zuvor ausgeführt hat, dass es in vorchristlicher Zeit die Mission des jüdischen Volkes war, eine leibliche Hülle für den zur Erde kommenden Sonnengeist Christus zu bilden, so legt er nun dar, dass es auch in nachchristlicher Zeit eine Gemeinschaft geben würde, die, nun geistig gesehen, die Substanz des Christentums wie in einer Schale empfangen sollte. W.J. Stein fährt fort:
„So entstand die Aufgabe in der Mitte (Europas) – also auf der Linie Lothringens – ein Licht aufstrahlen zu lassen, das nach Osten leuchten sollte.
Was damals als weithin wirksamer historischer Impuls erstand, das drückte sich zunächst wie in einem Historisch-Symbolischen im Schicksal der Heiligen Odilie aus.
Odilie entstammte einem Hause, dessen Vorstand – ihr Vater Adalrich oder Eticho – 666 das Elsass als erbliches Herzogtum empfangen hatte. Er ist eine Persönlichkeit, die ganz stark wie eine Last jene Verantwortung empfindet, die auf dem einzelnen dadurch ruht, dass er seine ihm innewohnenden Kräfte physisch vererbt.
Als ihm daher ein Kind geboren wurde, das blind war – Odilie – da sagte er sich: Nun werden die Menschen fragen: ‚Wer hat gesündigt: dieses Kind oder seine Eltern?‘ Und so wollte er das Kind töten lassen, um dem Vorwurf zu entgehen, seine Schuld sei es, dass Odilie ohne Augenlicht geboren wurde. So urteilte der Vater. Die Mutter aber rettete das Kind. Sie brachte es mit Hilfe einer Amme zu ihrer Verwandten nach Beaume les Dames. Dort wuchs das Kind auf.
In Regensburg, also östlich von Palma (Beaume les Dames), lebte damals Erhard, Bischof von Regensburg. Ihm ward die Gnade einer göttlichen Offenbarung zuteil. Es ward ihm der Auftrag, nach Palma zu ziehen, zusammen mit seinem Bruder Hydulfus, um dort das blinde Mägdlein zu taufen. In der Taufe würde es sehend werden. Und so geschah es.“ (S 397f)
Der Namenstag der Heiligen Odilie, die später ein Kloster auf dem Odilienberg im Elsass gründete, das heute noch als das zentrale Heiligtum dieser Landschaft und als ein besonders spiritueller Ort gilt, ist der 13. Dezember. Vielleicht ist es kein Zufall, dass diese Heilige, deren Attribut zwei Augen auf einem Buch sind und die bei allerlei Augenleiden angerufen wir, genau auf jenen Tag fällt, an dem die russisch-orthodoxe Kirche den Heiligen Nikolaus feiert, auf den 13. Dezember: Da im gregorianischen Kalender nach der Reform elf Tage im Verhältnis zum julianischen fehlen, muss man bei allen Kirchenfesten der Ostkirche immer die elf Tage dazu zählen, um zum entsprechenden Termin zu kommen. Vielleicht hängt die Sechszahl der Erhardskapelle auch mit dem bis heute sehr populären Nikolaustag zusammen, der auf den 6. Dezember fällt. Dann wären wir bei der sechs als der Hälfte der Zahl zwölf und hätten einen geradezu kabbalistischen Bezug zwischen Nikolauskirche und Erhardskapelle, die auch in der Sicht-Achse aufeinander bezogen sind, hergestellt.
Fritz Arens hat die Bedeutung der Erhardskapelle näher untersucht und kommt zu dem Schluss, dass sie wohl in Anlehnung an die Grabeskirche in Jerusalem gebaut worden war.
Solche „Heiligen Gräber“ findet man an oder in vielen christlichen Sakralbauten des Abendlandes, zum Beispiel im Münster von Konstanz oder in der Busdorfkirche in Paderborn. Die Nachbildung des Heiligen Grabes in Jerusalem war in Europa vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, also zur Zeit der Kreuzzüge, sehr populär.
Die Erhardskapelle stammt, wie man aus stilistischen Merkmalen erschließen kann, aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts. Arens zieht zum Vergleich Rituale heran, die von anderen Kirchen bezeugt sind, und meint, dass die Mönche am Karfreitag vom Kreuzaltar der Hauptkirche in feierlicher Prozession zur Erhardskapelle gezogen seien. Der Hauptaltar der Nikolauskirche bezeichnete damit den Hügel Golgatha, auf dem Christus gestorben, und die Erhardskapelle die Gruft des Joseph von Arimathia, in die der Leichnam gelegt wurde. Dort blieb er aber nur knapp „drei“ Tage, denn am Ostersonntag war er „verschwunden“.



Als Beleg für seine These führt Arens die mittelalterlich Skulptur einer Löwin mit ihrem Jungen an, die sich an der Nordseite der Erhardskapelle erhalten hat. Er bezieht sich dabei auf die spätantike Schrift „Physiologus“, in der erzählt wird, dass die Löwin ihr Junges tot zur Welt bringe. Nach drei Tagen würde sie es anbrüllen und dadurch würde der junge Löwe aufwachen. Diese Geschichte ist ein schönes Beispiel für das symbolische Denken des mittelalterlichen Menschen: Er bezog sie auf Tod und Auferstehung Christi.
Wenn es sich bei der Erhardskapelle wirklich um ein „Heilges Grab“ handelt, dann haben wir hier einen zweiten Bezug zu den im staufischen Hochmittelalter sehr populären Gralserzählungen. Damals wusste jeder, dass es der Jerusalemer Ratsherr Joseph von Arimathia[3] war, der in der Abendmahls-Schale das vom Kreuz herabfließende Blut Christi gesammelt hat und anschließend mit dem „Gral“ über Südfrankreich nach Glastonbury in Südengland gelangt ist, von wo aus sich im 11. und 12. Jahrhundert die Gralsgeschichten über ganz Europa verbreiteten. Dabei spielt auch der Name des sagenhaften Königs Artus eine wichtige Rolle. Es ist überliefert, dass der Abt eines Benediktinerklosters bei den nächtlichen Gebetsstunden im Chorgestühl des Mönchschores seine mit dem Schlaf ringenden Brüder einfach mit dem Satz: „Es war einmal ein König Artus…“ wieder wach machen konnte.
Wolfram von Eschenbach spricht in seinem Versepos „Parzival“ an keiner Stelle von der Abendmahls-Schale. Für ihn ist der Gral einfach nur ein „dinc“. An anderer Stelle bezeichnet er ihn als „lapis exillis“, also, frei übersetzt, als „Stein, der vom Himmel fiel“.

Die Erhardskapelle ist das eigentliche architektonische Juwel der Comburg.
Alle Teilnehmer der Führung waren beglückt, als Herr Erhard, unser offizieller Führer, uns die Kapelle aufschloss, in die das Publikum sonst nur am „Tag des offenen Denkmals“ eintreten darf.
Wir staunten über die mittlere Säule, die wie ein Lebensbaum die Rippen des Gewölbes trug. In den Gewölbe-Zwickel hatte der Konstanzer Renaissance-Künstler Hans Violl im Jahre 1562 Pflanzenmotive und Grotesken als Dekoration aufgemalt. Auch die Evangelisten- und Apostelfiguren an den Wänden stammen von ihm. Herr Erhard weist uns auf die beiden Wächterengel hin, die an den zwei Pfeilern, die sich zur Stiftskirche hin öffnen, eingeritzt sind und aus spätromanischer Zeit stammen. Auch diese kann man als Hinweis auf die Funktion der Kapelle als „Heiliges Grab“ ansehen, da in den vier Evangelien auf recht unterschiedliche Weise von „weißen Männern“ beziehungsweise Engeln berichtet wird, die das Grab zu bewachen schienen, als am Ostersonntagmorgen die heiligen Frauen und die Apostel Johannes und Petrus an die verlassene Gruft des Joseph traten.
Nun ist es Zeit, auf die Gründungsgeschichte des Klosters einzugehen. Im 10. Jahrhundert hatten die Grafen von Rothenburg auf dem „kahlen Fels“, wie der Berg ursprünglich hieß, eine neue Burg errichtet, da sie sich vom Salzhandel der reichen Stadt Hall Zollgebühren erhofften. Es wird berichtet, dass ein Graf Richard den Berg, auf dem die Comburg errichtet werden sollte, vom Bischof von Augsburg erworben habe.[4] Rainer Jooß führt aus:
„Den ersten einigermaßen gesicherten Hinweis auf eine Familie, die sich nach der Komburg nannte, gibt der Öhringer Stiftungsbrief, die Gründungsurkunde des Stifts Öhringen. Zwar stammt deren heute vorliegende Fassung aus dem letzten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts, aber die dort genannten Personen können durchaus im überlieferten Jahr 1037 gelebt haben. Graf Burkhard erhielt damals die Vogtei über das neu gegründete Stift. (…) Bei den übrigen Personen des Stiftungsbriefes handelte es sich wohl durchweg um Verwandte der Stifter von Öhringen. Graf Burkhard selbst könnte der Schwiegersohn der Kaiserinmutter Adelheit und der Schwager des Bischofs Gebhard von Regensburg gewesen sein.“[5]
Damit erweist sich für die Grafen der Comburg eine verwandtschaftliche Nähe zum Kaiserhaus der Salier.
Adelheit, deren Gebeine in der Krypta der Stiftskirche „Peter und Paul“ in Öhringen ruhen, war die Mutter des ersten Kaisers aus dem neuen Kaisergeschlecht. Die Kaiserkrone war nach dem Tod von Heinrich II., einem Sachsen, an Konrad II., einen salischen Franken übergegangen. Etwa ein Jahrhundert später sollte sie dann mit der Kaiserkrönung Friedrichs I. Barbarossa an das schwäbische Haus der Hohenstaufen übergehen.
Es ist bekannt, dass seit Kaiser Heinrich II. die Bestrebung bestand, sich von der Dominanz des römischen Papstes zu emanzipieren. Der letzte Sachsenkaiser gründete in Bamberg sein eigenes geistiges Zentrum, abseits von Rom. So kam es unter den Salierkaisern, die diese Politik („weg von Rom“) weiterverfolgten, zum sogenannten „Investiturstreit“, in dem es um das Recht ging, die Bischöfe einzusetzen, das sowohl der Kaiser als auch der Papst für sich beanspruchten. Die Bischöfe und Reichsäbte waren wegen ihrer Schriftkundigkeit die Ratgeber der Herrscher. Die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln waren auch maßgeblich an der Wahl und der Krönungszeremonie der fränkischen Könige beteiligt, während der Paps das Recht hatte, sie zum Kaiser zu krönen. Der oberste der drei Erzbischöfe war der Erzbischof von Mainz. Er wurde automatisch zum Reichskanzler ernannt.
Schwäbisch Hall lag im Einflussgebiet dreier Bistümer: Augsburg, Konstanz und insbesondere Würzburg. Letzteres Bistum gehört zur Erzdiözese Mainz.
Rainer Jooß, der die historischen Urkunden des 11. Jahrhunderts studiert und ausgewertet hat, führt aus:
„Von der vermutlich letzten Generation der Grafenfamilie trat der Älteste, Emehard, in den geistlichen Stand. 1069 war er Subdiakon, 1089 ernannte ihn Heinrich IV. zum Bischof von Würzburg, und zwar noch zu Lebzeiten seines Vorgängers Adalbero. Die Bischofsweihe empfing er erst 1093, 1105 starb er. Der Gründung seiner Brüder gegenüber verhielt er sich sehr zurückhaltend. Nur von der Schenkung eines Kelchs wird berichtet. (…) Der zweitälteste Bruder war Graf Burkhart. (…) Burkhard erreichte ein Alter von etwa 55 Jahren und starb wohl 1098. (…) Nach der ‚Historia‘ nahmen alle drei Brüder Burkhart, Rugger und Heinrich (…) an einem Sachsenfeldzug König Heinrichs IV. teil. (…) Um zu entscheiden, welcher von beiden Sachsenfeldzügen gemeint ist, muss man bedenken, dass wohl um die Mitte der Siebzigerjahre jenes Ereignis eintrat, das dem Leben Burkharts  eine völlig neue Richtung gab. Die anthropologische Untersuchung seiner Gebeine ergab, dass er an einer ‚langandauernden Knochenerkrankung litt, die ihm ritterliche, körperliche Betätigung unmöglich machte‘. (…) Die stärker werdende Krankheit schloss Burkhart zunehmend vom Leben seiner Standesgenossen aus. (…) Gezwungenermaßen wandte er sich einem mehr beschaulichen Leben zu, und hier mag ihm der Gedanke an eine Klostergründung gekommen sein, vielleicht in Einlösung eines Gelübdes oder als Sühne für eine Tat, als deren Strafe er die Krankheit ansah. (…) Gegen Ende seines Lebens trat er selbst in den Konvent ein, und nach der Aussage (…) des Bleiplättchens in seinem Grab, starb er an einem zweiten Dezember.“[6]
Ganz anders als bei der Gründung des Klosters in Ellwangen im Jahre 764, bei der den zwei adligen Brüdern Erlolf und Hariolf bei der Jagd im Virngrund eine Vision zuteilwurde, stand bei der etwa 330 Jahre später erfolgten Gründung der Komburg ein bewusster Entschluss eines durch einen Schicksalsschlag getroffenen Adligen Pate.
Das zeigt deutlich den Wandel des Bewusstseins der Menschen: Die alte Hellsichtigkeit, über die die Brüder des 8. Jahrhunderts offenbar noch verfügten, wenn man der „Vita Hariolfi“ Glauben schenken will, ist am Ende des elften Jahrhunderts verglommen. Es begann damals die Furcht vor den Höllenqualen und so stifteten um ihres Seelenheiles im Jenseits willen viele Adlige einen Teil ihres Besitzes an  Klöster, deren Äbte dann dafür sorgten, dass täglich eine Totenmesse für den meist im Kirchenchor bestatteten Stifter gelesen wurde.
So war es auch in der frommen Stiftung der Comburg. Zwei der drei Brüder liegen in der Tumba, die im Ostchor der Nikolauskirche steht: Burkhart und Heinrich.
Graf Burkhart hat die Benediktinerabtei im Jahre 1078, also mit etwa 25 Jahren gegründet. Die Kirche konnte bereits neun Jahre später, im Jahre 1087 vom Bischof Adalbero von Würzburg dem Heiligen Nikolaus geweiht werden.



Nikolaus von Myra war einer der beliebtesten Heiligen des oströmischen Reiches und von Konstantinopel aus gelangte sein Kult insbesondere nach Russland, wo er in jeder Kirche mit einer Ikone an der Ikonostase vertreten ist, meist zusammen mit Maria rechts oder links von Christus. Im neunten Jahrhundert wurde der Nikolauskult durch Theophanu, die byzantinische Ehefrau von Kaiser Otto II., auch im westlichen und nördlichen Europa populär. Einer der bedeutendsten römischen Päpste, Nikolaus I. der Große, nannte sich nach dem Heiligen.
Exakt ein Jahr vor der Weihe der Klosterkirche auf der Comburg wurden im Jahre 1087 die Gebeine des Heiligen in einer Nacht- und Nebelaktion von italienischen Seefahrern unter dem Archidiakon von Bari aus der Hand der 1054 „exkommunizierten“ Griechen „gerettet“ und in die süditalienische Stadt Bari gebracht, wo sie bis heute verehrt werden. Die Trennung von römisch-katholischer und griechisch-orthodoxer Kirche hatte ausgerechnet Papst Nikolaus I. im neunten Jahrhundert eingeleitet. So fand das letzte ökumenische Konzil beider Kirchen im Jahre 869/70 statt.[7] Auf diesem Konzil wurde, laut Rudolf Steiner, „der Geist abgeschafft“.
Es war jedoch zugleich die Zeit, in der die Ereignisse um Parzival und den Gral stattfanden. Es ging also das esoterische, das geistige Christentum als verborgener Strom der Geistesgeschichte weiter, während die offizielle Kirche den Geist ablehnte und an seine Stelle das Dogma setzte. Das hat konsequent zum Materialismus geführt, der im 19. Jahrhundert an einem ersten Höhepunkt angelangt war. Erst durch die Begründung der Geisteswissenschaft durch Rudolf Steiner am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde (zunächst nur für eine kleine Gruppe von Menschen) das Tor zum Geist wieder geöffnet: 1901 erschien sein grundlegendes Buch: „Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums“.
Die „Abschaffung“ des Geistes für knapp 1000 Jahre war aber auch deshalb notwendig, weil sich die Menschen von allen unbewussten Einflüssen aus der Ätherwelt lösen mussten, um eigenständige, freie Individuen zu werden: Deshalb sah es Papst Nikolaus I. als seine Aufgabe an, sowohl die Impulse aus dem keltischen Westen, durch die der Geist im Ätherbereich des Makrokosmos, also in der Naturgeistigkeit der Elemente, gesucht und gefunden wurde, als auch die Impulse aus dem griechischen Osten, durch die der Geist im Ätherbereich des Mikrokosmos, also in der Geistigkeit des Kultus, gesucht und gefunden wurde, zurückzudrängen und einen Freiraum in der Mitte Europas zu schaffen, in dem das Individuelle gedeihen konnte.
Im Jahre 1054 legte der Benediktinermönch Humbert von Silva Candida  im Auftrag des Papstes Leo IX. die Bannbulle auf den Altar der Hagia Sophia in Konstantinopel und löste damit das bis heute andauernde „Schisma“ zwischen orthodoxer und katholischer Kirche aus. Humbert war, beeinflusst von der cluniazensischen Reform, ein strikter Gegner der Laieninvestitur, also der Einsetzung der Bischöfe durch die großen weltlichen Fürsten. Nachdem Papst Leo IX. gestorben war, kam bald darauf der Reform-Mönch Hildebrand als Gregor VII. auf den Papstthron und „legte“ sich mit dem deutschen Kaiser Heinrich IV. an. Der musste im Februar 1077 im Büßerhemd bei klirrender Kälte den berühmten „Gang nach Canossa“ antreten.
Das war genau ein Jahr vor der Gründung des Klosters auf der Comburg.
Bereits der dritte Abt der neu gegründeten Benediktinerabtei, Hartwig, war ein Anhänger der Klosterreform. Er war ein Abgesandter des Reformklosters Hirsau im Nordschwarzwald, das unter Abt Wilhelm den Impuls von Cluny ins Deutsche Reich "importierte". Die zunächst kaisertreuen Stifter gerieten dadurch in den Konflikt zwischen Kaiser und Papst, was jedoch nach dem Aussterben der Grafenfamilie im Mannesstamm am Anfang des 12. Jahrhunderts keine Rolle mehr spielte.
Dem kunstsinnigen Abt Hartwig gelang es, Baumeister und Goldschmiede auf die Comburg zu holen und so entstanden einige der bedeutendsten Kunstwerke des frühen zwölften Jahrhunderts: das Antependium und der Radleuchter. Es sind die Kunstschätze der Nikolauskirche, denen unsere Hauptaufmerksamkeit während der Führung gilt.



Das Antependium, ein vergoldeter Altarvorsatz, zeigt Christus in der Mandorla, umgeben von den vier Evangelisten-Symbolen und den zwölf Aposteln, die zu jeweils sechs in zwei übereinanderliegenden Reihen rechts und links von Christus stehen. Christus als Dreizehnter trennt beziehungsweise verbindet die zwölf. Eine Schrift auf der Innenseite der erhöhten, mit Goldemail und Edelsteinen verzierten Mandorla, erklärt in lateinischer Sprache: „AD SOLIVM CELI DVM FORMAM TRANSFERO SERVI ALPHA VOCATUS E(T) O SVP(ER)IS TERRESTRIA JVNGO“ (Indem ich die Knechtsgestalt zum Himmelsthron bringe, vereinige ich das Irdische und das Himmlische. Alpha und Omega werde ich genannt.)
Christus wird hier als Weltenrichter gezeigt, der nach dem 20. Kapitel der Offenbarung des Johannes beim jüngsten Gericht den Vorsitz haben wird:
„Und ich sah einen großen, weißen Thron und den, der darauf saß; und vor seinem Angesicht floh die Erde und der Himmel, und ihnen ward keine Stätte gefunden. Und ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor dem Thron, und Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was geschrieben steht in den Büchern, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten, die darin waren, und der Tod und sein Reich gaben die Toten, die darin waren; und sie wurden gerichtet, ein jeglicher nach seinen Werken. Und der Tod und sein reich wurden geworfen in den feurigen Pfuhl. Das ist der zweite Tod: der feurige Pfuhl. Und so jemand nicht gefunden ward geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl.“
Wenn hier von dem „Buch des Lebens“ gesprochen wird, so kann man durchaus wieder an den Heiligen Nikolaus denken, der ja am 6. Dezember in die Familien kommt und neben dem Sack mit den Gaben auch ein großes Buch dabei hat, aus dem er vorliest, was die Kinder im vergangenen Jahr gemacht haben. Es ist wohl eines der Bücher, von denen der Apokalyptiker spricht. In der Terminologie der Anthroposophie kann man dieses Buch auch als einen Teil der immateriellen „Akasha-Chronik“ verstehen. Auf allen bildlichen Darstellungen, sowohl auf den Ikonen der Ostkirche, als auch auf den Tafeln der Westkirche, wird der Heilige Nikolaus immer mit einem Buch gezeigt.
Die Verbindung zwischen dem Irdischen und Himmlischen, die in der Inschrift genannt wird, kann man mehrfach interpretieren: einerseits verweist sie auf Christus als den wahren Vermittler  zwischen dem Kaiser als oberster weltlicher Macht und dem Papst als oberster geistlicher Macht. Die Inschrift findet aber auch einen Wiederhall am Ende des mittelalterlichen Versepos „Parzival“, wo es heißt:

„Swes leben sich so verendet
Daz got niht wirt gephendet
Der sele durch slibes schulde,
und der doch der werlde hulde
behalden kann mit werdekeit,
daz ist ein nütziu arbeit.[8]

Das ist die Botschaft der Gralsgeschichten: ein Gralsritter wie Parzival oder Lohengrin soll sowohl seine weltlichen, als auch seine geistigen Aufgaben gewissenhaft verrichten.
Auch das „Ora et Labora“ (Bete und Arbeite!) der Benediktinerregel drückt diese Verbindung zwischen Himmlischem und Irdischen aus.



Gleich im Anschluss an die Erzählung vom Weltgericht, das an unzähligen Kirchen des Mittelalters über den Westportalen dargestellt wird, wobei immer der Christus – umgeben von den vier Tieren – in der Mitte thront (zum Beispiel im Tympanon des mittleren Königsportals in der Westfassade der Kathedrale von Chartres[9]), folgt im 21. Kapitel der Offenbarung die Vision vom „Himmlischen Jerusalem“:
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet wie eine geschmückte Braut ihrem Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron, die sprach: siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott, wird mit ihnen sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: ‚Siehe, ich mache alles neu!‘ Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! Und er sprach zu mir: es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von dem Brunnen des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein. Der feigen Verleugner aber und Ungläubigen und Frevler und Totschläger und Unzüchtigen und Zauberer und Götzendiener und aller Lügner, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt; das ist der zweite Tod.
Und es kam zu mir einer von den sieben Engeln, welche die sieben Schalen hatten voll der letzten sieben Plagen, und redete mit mir und sprach: Komm, ich will dir das weib zeigen, die Braut des Lammes. Und er führte mich hin im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem herniederfahren aus dem Himmel von Gott, die hatte die Herrlichkeit Gottes. Und ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein, einem Jaspis, klar wie Kristall. Und sie hatte eine große und hohe Mauer und hatte zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel und Namen darauf geschrieben, nämlich der zwölf Geschlechter der Kinder Israels: von Morgen drei Tore, von Mitternacht drei Tore, von Mittag drei Tore, von Abend drei Tore. Und die Mauer der Stadt hatte zwölf Grundsteine und auf ihnen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes.“
Der Text geht noch weiter. Es folgt die Beschreibung der Grundsteine der zwölf Tore, die alle aus den wertvollsten Edelsteinen bestehen:
„Der erste Grundstein war ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalcedon, der vierte ein Smaragd, der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Sarder, der siebente ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst.“



In dem monumentalen romanischen Radleuchter, der über dem Hauptaltar hängt, einen Durchmesser von fünf Metern und einen Umfang von knapp sechzehn Metern hat, haben wir einen Versuch, diese Vision in ein materielles Kunstwerk umzusetzen Er ist wie das Antependium in den Jahren 1130 bis 1135 entstanden und es haben sich auf der ganzen Welt nur drei solche Radleuchter erhalten: im Dom von Aachen, im Dom von Hildesheim und eben in der Stiftskirche der Comburg.
In zwölf vergoldeten Türmen, die für „den Senat der zwölf Apostel“ stehen, wie es in der Inschrift heißt, erkennen wir Apostel, Engel und Heilige. Zwischen den Türmen sind in zwölf Medaillons die Abbilder der Propheten zu sehen. Insgesamt befinden sich auf dem Leuchter mit seinen 48 (viermal zwölf) Kerzenhaltern 144 (zwölfmal zwölf) unterschiedliche figürliche Darstellungen.
Der mittelalterliche Mensch hat in jedem Kirchengebäude ein Abbild des Himmlischen Jerusalem gesehen. Idealtypisch sollte deshalb jede Kirche zwölf Türme haben. Das wurde jedoch in keiner mittelalterlichen Kirche realisiert. Am nächsten an das Ideal kommt wohl der Dom von Limburg an der Lahn, der in den Jahren zwischen 1180 und 1190 begonnen wurde und ein Übergangswerk zwischen Romanik und Gotik ist. Bei dem ebenfalls dem Heiligen Nikolaus geweihten Sakralbau kann man sieben Türme erkennen. Sieben ist die Addition der Zahl vier (Zahl des Irdischen) und der Zahl drei (Zahl des Göttlichen), so wie die zwölf die Multiplikation der beiden Zahlen ist.
In der Klosteranlage der Comburg kann man tatsächlich die zwölf Türme erkennen, wenn man die Türme der beiden Ringmauern und die drei erhalten gebliebenen, zum Teil reich geschmückten romanischen Türme der Stiftskirche zusammenzählt.
Einige mittelalterliche Dichter haben die Gralsburg beschrieben und dabei immer wieder die Zahl zwölf betont. Dabei werden auch all die Edelsteine erwähnt, die so charakteristisch für die himmlische Stadt sind.
Bei Wolfram treten bei Parzivals erstem Besuch auf der Gralsburg zweimal zwölf Jungfrauen mit unterschiedlichen wertvollen Gegenständen auf, die alle genau beschrieben werden. Als Fünfundzwanzigste erscheint schließlich Repanse de Schoye, die Gralsträgerin mit dem Gral. Dieser Gral wird einmal im Jahr am Karfreitag enthüllt. Dann fliegt eine weiße Taube herab und legt eine Oblate auf den Gral.[10] Anschließend spendet der Gral jedem Anwesenden die besten Speisen. Ich denke, dass es sich dabei um geistige Speisen handelt im Sinne des Christuswortes: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.



Besonders markante Beispiele für die spirituelle Bedeutung der Zwölfzahl sind auch die gotischen Fensterrosen. Eine der frühesten ist die Rose an der Westfassade der Kathedrale von Chartres, die etwa zur gleichen Zeit konzipiert wie der Radleuchter, aber erst nach dem Brand von 1194 gebaut wurde. Von außen gleicht sie dem Rad der Fortuna, das an anderen Bauten des Mittelalters (zum Beispiel an der Kathedrale Saint Etienne in Beauvais)[11] angedeutet ist. Der Mensch wird ja im Idealfalle durch zwölf Jahrsiebte, also durch alle Tierkreisqualitäten, geführt, bis er mit 84 Jahren sein Leben vollendet hat.[12] 



Der West-Rose von Chartres entspricht in den Ausmaßen das Labyrinth im Inneren des Kirchenschiffes mit seinem Sechspass in der Mitte und seinen 33 Wendungen, die an die dreiunddreißig Jahre des Christuslebens erinnern. 

Wenn man die Rose mit ihren farbigen Gläsern von Innen anschaut, dann erkennt man in der Mitte wieder den Christus als Weltenrichter, in den eher ovalen zwölf Strahlen die zwölf Apostel und Heilige und in den äußeren kleineren Rosen Engel.[13]
Die Rose von Chartres beginnt sich scheinbar zu drehen, wenn man sie über längere Zeit betrachtet. Sie korrespondiert offenbar mit der zwölfblättrigen Herz-Chakra. Diese wird aktiviert durch die Meditation der mittleren der sieben Vater-Unser-Bitten, in der es um das „panem supersubstantialem“ (das geistige Brot, also: das Wort Gottes) geht. Hierin kann man das eigentliche Gralsgeheimnis erkennen.



Es ist vielleicht nicht unbedeutend, dass auf dem barocken Schalldeckel der Kanzel die Zahl sieben in Form der Allegorien der sieben Todsünden als Gegenbild zu den sieben Bitten aus dem Vaterunser erscheinen: Der auferstandene Christus, der auf dem Scheitel des Deckels steht, schleudert wie ein antiker Zeus Blitze auf die zum Teil üppigen und prunkvoll gekleideten Frauenfiguren. Die Trägheit reitet auf einem Esel, die Wollust auf einem Ziegenbock, der Zorn hält einen Dolch, die Habsucht einen Geldbeutel, die Hoffart, in Begleitung eines Pfaus, einen Spiegel. Der Neid wird von einem Hund, die Maßlosigkeit von einem Schwein begleitet.[14]
Zum Abschluss besuchen wir in der Josefskapelle, die an den romanischen Kapitelsaal anschließt, die Grabmäler der Erneuerer der Urbanskirche mit dem wunderbaren spätgotischen Marienaltar, die wir bei der letzten Führung kennen gelernt haben: Schenk Friedrich V. und seine Frau Susanna von Thierstein, die bekannt war für ihre überdurchschnittliche Schönheit.
Ich sehe in den beiden Sakralbauten, in der Urbanskirche und in der Großcomburg, einen inneren Zusammenhang. In der Unterlimpurger Marienkirche wird insbesondere die Verkündigung und die Christgeburt dargestellt. Es handelt sich hier um das Geschehen von Bethlehem. Interessant dabei ist, dass bei der Darstellung der Geburt nach Lukas die Schenkenburg auf dem Berg zu erkennen ist, so als sei Bethlehem nicht im fernen Heiligen Land, sondern hier in Hohenlohe. Urbanskirche: Verkündigung (25. März) und Geburt Christi (25. 12.). Die Erhardskapelle auf der Comburg symbolisiert das Heilige Grab. Die Nikolauskirche symbolisiert den Hügel von Golgatha. Beide Ereignisse beziehen sich auf den Karfreitag. Wir  befinden uns also in Jerusalem. Dargestellt sind außerdem Weltgericht und Himmlisches Jerusalem am Ende der Zeiten.


Das größte Geheimnis, die Auferstehung, findet nur in den Herzen der Gläubigen statt. Nur wenige Künstler haben sich an die Darstellung dieses größten Mysteriums gewagt, so zum Beispiel Mathias Grünewald im Isenheimer Altar in Colmar.
In die Nähe des Geheimnisses kommen die Fresken in der Magdalenenkapelle im zweiten Turmgeschoss der Michaelskirche in Schwäbisch Hall, die wir bei der ersten Führung aufgesucht haben.
Aber dort heißt es bedeutsam: „Noli me tangere!“ (berühre mich nicht).
Unser Bewusstsein ist noch nicht weit genug entwickelt, um dieses Mysterium, das den Verstand übersteigt, zu begreifen. Vielleicht sind die Geschichten vom Gral eine Art Vorbereitung und Einübung auf das Herzdenken, das man dazu braucht.



[1] Adolf Mettler, Die ursprüngliche Bauanlage des Klosters Comburg im Mittelalter: Württemberg. Vierteljahreshefte für Landesgeschichte 20, 1911
[2] Richard Wagner nahm ein spirituelles Erlebnis, das er am Karfreitag, den 20. April 1857 hatte, als Ausgangspunkt für die Bearbeitung des Parzival-Stoffes, aus dem dann seine letzte „Oper“ hervorging, das „Bühnenweihfestspiel Parsifal“ (1882). Am Donnerstag, also einen Tag vor der geplanten Führung, brachte der Kultursender SWR2 in der Reihe „Forum“ ein Expertengespräch über Wagners Parsifal unter dem Titel „Männerfantasie und Mysterium – was tun mit Richard Wagners ‚Parsifal‘?“ siehe: https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/swr2-forum/maennerfantasie-und-mysterium-was-tun-mit-wagners-parsifal/-/id=660214/did=21385478/nid=660214/1emtbq7/index.html
Diese Gesprächsrunde zeigte einmal wieder, wie wenig sich die heutigen Intellektuellen in die Gralsgeschichte hineinfühlen können, was schon der Titel der Sendung andeutet. Dabei muss man nur in Richard Wagners Autobiographie „Mein Leben“ nachlesen, wie dieser Künstler, der ja inkarnatorisch eng mit dem Artuskreis verbunden war (er war in einem früheren Leben der Zauberer Merlin) zu seinen Inspirationen kam: Er schreibt in dem Kapitel über das Jahr 1857: „So kam der 20. April heran, an welchem ich meine bisherige, nun bereits vermietete Wohnung im Zeltwege verlassen musste, ohne das noch nicht ganz fertig eingerichtete Landhaus bereits beziehen zu können. Bei unfreundlicher Witterung hatten sich während der steten Besuche des von Maurern und Schreinern nachlässig okkupierten Häuschens Erkältungen bei uns eingestellt. In übelster Laune verbrachten wir eine Woche im Gasthofe, und ich überlegte mir, ob es denn überhaupt der Mühe verlohne, erst noch dieses Grundstück zu beziehen, indem es mir plötzlich ahnte, dass ich doch auch von dort wieder weiterwandern dürfte. Endlich setzten wir am Ende des April mit Gewalt unsere Einsiedelung durch; es war kalt und feucht, die neuen Heizungen wärmten nicht; wir beide waren krank und vermochten kaum das Bett zu verlassen. Da erschien ein gutes Anzeichen: der erste Brief, der mir hier zukam, war eiin versöhnendes, sehr liebevolles Schreiben der Frau Julie Ritter, wodurch sie mir die Beendigung des Zerwürfnisses wegen des Benehmens ihres Sohnes ankündigte. Nun brach auch schönes Frühlingswetter herein; am Karfreitag erwachte ich zum ersten Mal in diesem Hause bei vollem Sonnenschein: das Gärtchen war ergrünt, die Vögel sangen, und endlich konnte ich mich auf die Zinne des Häuschens setzen, um der langersehnten verheißungsvollen Stille mich zu erfreuen. Hiervon erfüllt, sagte ich mir plötzlich, dass heute ja ‚Karfreitag‘ sei, und entsann mich, wie bedeutungsvoll diese Mahnung mir schon einmal in Wolframs Parzival aufgefallen war. Seit jenem Aufenthalte in Marienbad, wo ich die ‚Meistersinger‘ und ‚Lohengrin‘ konzipierte, hatte ich mich nie wieder mit jenem Gedichte beschäftigt; jetzt trat sein idealer Gehalt in überwältigender Form an mich heran, und von dem Karfreitags-Gedanken aus konzipierte ich schnell ein ganzes Drama, welches ich, in drei Akte geteilt, sofort mit wenigen Zügen flüchtig skizzierte.“ (Richard Wagner, Mein Leben, herausgegeben von Martin Gregor-Dellin, Serie Musik Piper Schott, 2. Auflage 1989, S 561). (Ergänzung vom 31. Juli 2018: Richard Wagner lässt seine am 28. August 1850 in Weimar uraufgeführte romantische Oper "Lohengrin" in Antwerpen spielen, also in jener Stadt, in der das Atelier zu Hause war, das einige spätmittelalterliche Tafeln im Haller Raum geschaffen hat, so zum Beispiel die Geburtsgeschichte in der Urbanskirche oder den Hauptaltar mit der Passionsgeschichte in Sankt Michael.)
[3] Sein Angedenken feiert die Kirche am 17. März, sinnigerweise zusammen mit dem Nationalheiligen der Iren, Sankt Patrick (Patricius).
[4] Rainer Jooß, Kloster Komburg im Mittelalter, Studien zur Verfassungs-, Besitz- und Sozialgeschichte einer fränkischen Benediktinerabtei, Jan Thorbecke-Verlag Sigmaringen, 1987, S 15.
[5] A.a.O. S 16
[6] A.a.O. S 17f
[7]  Siehe meinen „Kommentar zum Zeitgeschehen“ vom 18.03.2018: http://jzeitgeschehenkommentare.blogspot.de/2018/03/helmuth-von-moltke-und-der-osten.html
[8] Parzival, Buch XVI, Vers 19 – 24 (herausgegeben von Albert Leitzmann, 1903, Max Niemeyer Verlag, Tübingen, 1965 (Altdeutsche Textbibliothek, Nr. 14)Übersetzung nach Wilhelm Stapel: „Wenn einer sein Leben so endet, dass Gott nicht der Seele  beraubt wird durch des Menschen eigne Schuld, und wenn er sich dennoch die Huld der Welt bewahren kann mit Ehren, so hat seine Mühe einen guten Ertrag“
[9] Der thronende Weltenrichter in der Mandorla erscheint über den zwölf Aposteln.
[10] An der zur Comburg weisenden Südseite des Chors der Urbanskirche befindet sich eine solche Darstellung: eine nach unten schwebende Taube trägt eine Oblate im Schnabel. Ich kenne keine andere Darstellung dieses Inhalts aus dem Mittelalter. Siehe meine Führung in der Urbanskirche am 8. Dezember 2017: http://jwsreise.blogspot.de/2017/12/wo-ist-bethlehem-eine-fuhrung-durch-die.html
[11]Roland Halfen, Chartres – Schöpfungsbau und Ideenwelt im Herzen Europas, Band 3: Architektur und Glasmalerei, Verlag Johannes M. Mayer & Co, Stuttgart – Berlin 2007, S 633ff)
[12] Siehe Hans Sterneder, Tierkreisgeheimnis und Menschenleben, Drei-Eichen-Verlag, München 1956
[13] „Die Fensterrose über den drei Lanzetten in der Westfassade der Kathedrale ist sowohl ihrer Lage, als auch ihrer Größe, ihrer Form und ihrer Struktur nach eng mit dem Labyrinth verwandt und verbunden. Nicht nur ihr Durchmesser entspricht ziemlich genau dem des Kirchenlabyrinths. Auch ihr Mittelpunkt hat die gleiche Entfernung von der Schwelle der Westfassade, wie der Mittelpunkt des Labyrinths. Würde man eine der beiden Ebenen, auf welcher sich die beiden Gebilde befinden, jeweils über die Schwelle der Westfassade um 90° schwenken, würden beide kongruent aufeinander zu liegen kommen. Schon der Sechspass im Zentrum des Labyrinths vermag an die Struktur der Rosenfenster zu erinnern.“ (Roland Halfen S 680)

[14] Siehe Gabriele Kleiber, Groß- und Kleincomburg, Deutscher Kunstverlag München Berlin, 1999.

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