Schwäbisch Hall, der 15. August 2018 (Mittwoch, 4.03 Uhr)
Es ist einmal wieder Mariä
Himmelfahrt, jener geheimnisvolle Feiertag, der in meinem Leben schon öfters
eine Rolle gespielt hat, obwohl ich überhaupt nicht klar komme damit. Aber es
ist auch dieses Jahr wieder ein besonderer Tag, denn in etwas mehr als zwei
Stunden werden Lena und ich in einem Reisebus der Firma Mack sitzen und nach
Brühl nördlich von Bonn fahren. Für die Studienfahrt des Ellwanger Geschichts-
und Altertumsvereins und des Stiftsbundes hatte ich mich erst vor etwa sechs
Wochen angemeldet und tatsächlich noch zwei Plätze bekommen. Lena wäre zwar
lieber ans Meer gefahren, aber mich hat der Gedanke gefreut, endlich einmal
Bonn, unsere ehemalige Hauptstadt und die Heimatstadt Beethovens etwas genauer kennenzulernen.
Außerdem werden wir den Park von Schloss Augustusburg bei Brühl, mit dem ich
mich schon früher beschäftigt habe, und einige bekannte romanische Kirchen ansehen.
Ich freue mich.
Natürlich bin ich auch auf die
Begegnungen mit alten Bekannten gespannt, die mitreisen. Geleitet wird die
Fahrt von Joachim Renschler, dem Vorsitzenden des Ellwanger Geschichts-
und Altertumsvereins, und von meinem ehemaligen Kollegen Ulrich Engel, der den
Stiftsbund vertritt, dessen Vorsitzender, mein Ex-Kollege Dr. Michael Spang,
nicht mitreisen konnte.
Brühl, der 16. August 2018 (Donnerstag, 5.17 Uhr)
Am Mittwoch, den 15. August 2018, um 6.00 Uhr waren wir in
Neunheim, beim Fuhrpark des Omnibusunternehmens Mack. Die meisten
Reiseteilnehmer stiegen dort ein. Um 6.30 Uhr fuhr der Bus auf den Ellwanger
Schießwasen und sammelte die restlichen Teilnehmer ein. Dann ging es über
Schwäbisch Hall zur Autobahn A6 und dann weiter über Kaiserslautern in Richtung
Trier. Bei Longuich überquerten wir die Mosel und fuhren dann auf der Autobahn
weiter bis Wittlich in der Eifel. Von dort war es nicht mehr weit bis zu
unserem ersten Ziel, der ehemaligen Zisterzienserabtei Himmerod[1], wo wir, wie geplant, kurz
nach 12.30 Uhr eintrafen.
Ich weiß nicht, ob es Absicht
oder Zufall war, aber wir kamen genau am Tag seines Patroziniums in dieses abgelegene Kloster. Die
erste Besonderheit ist, dass der Ort, an dem die Abtei errichtet, jedoch
mehrmals wieder zerstört wurde, im Jahre 1135 von Bernhard von Clairvaux (um
1090 – 1153) selbst ausgewählt worden war. Die zweite Besonderheit ist, dass es
ein Ellwanger Bildhauer war, der die nach der Zerstörung im Ersten Weltkrieg
wieder aufgebaute Abteikirche fast genau 800 Jahre später in den Jahren 1931 –
1936 ausschmücken durfte: Hans Scheble (1904 – 1994). Besonders das Gnadenbild
in der Gnadenkapelle zwischen Kirche und Konvent beeindruckt mich.
In dieser Kapelle, die als
einziges Gebäude unzerstört blieb und zwischen Kirche und Konvent liegt, zünden
Lena und ich zwei Kerzen in Gedanken an ihre Mutter, die seit etwa zwei Wochen
wieder im Krankenhaus liegt, an. Es war Lenas Idee.
In den Fünfzigerjahren wurde auch
der Konvent mit der Klausur wieder aufgebaut. Auch hier wirkte Hans Scheble als
„Heiligenmacher“, wie er von der einheimischen Bevölkerung genannt wurde, mit.
Er schuf im Garten einen Heiligen Josef, den Patron der Zisterzienser, an drei
Ecken des Konventsgebäudes die für den Zisterzienserorden wichtigen Heiligen
Benedikt von Nursia, Robert von Molesme und Stefan Harding.
Herr Bolten, der seit Januar
Rektor der Abtei ist, in der bis zum November 2017 noch fünf Mönche lebten,
führt uns durch den sonst nicht öffentlich zugänglichen Konvent mit dem
wiederhergestellten Kreuzgang, dem Kapitelsaal, dem Refektorium und schließlich
dem Dormitorium im ersten Stock. Im Garten des Kreuzgangs bewundern wir den
Brunnen, den eine Marienstatue von Hans Scheble bekrönt. Schließlich zeigt er
uns noch die Abteikirche mit der Davidskapelle, in der sich ein von Hans
Scheble geschnitztes Tabernakel mit 13 Figuren befindet. Auch das große
Vierungskreuz im Hauptschiff ist von dem Ellwanger Künstler geschnitzt worden. Es
wurde 1978 geschaffen und gilt als das letzte Himmeroder Werk des Künstlers.
Zum Abschluss hören wir ein
Vorspiel auf der Orgel. Sie wurde wie die neue Orgel in der Elbphilharmonie von
der Bonner Orgelbaufirma Klais geschaffen.
Herr Dr. Saller, ein Ellwanger
Kunsthistoriker, hatte uns schon auf der Anreise über das Leben und das
Schaffen des Ellwanger Künstlers informiert, dem erst vor einem Jahr eine
Ausstellung im Palais Adelmann gewidmet worden war. So war das eigentliche Ziel
unseres ersten Halts auf unserer Reise dieser Bezug zu Ellwangen.
Es gibt aber noch eine andere
Geschichte, die mit der Abtei Himmerod verbunden ist, und auf die bei den
Erläuterungen im Bus nur ganz kurz eingegangen wurde: In der Kirche
versammelten sich im Jahre 1950, also nur ein Jahr nach Begründung der
Bundesrepublik, im Auftrag von Konrad Adenauer etwa 30 ehemalige hohe Offiziere
der Wehrmacht und verfassten ein (geheimes) Dekret, das „Himmeroder Dekret“,
das 1955 zur Wiederbewaffnung Deutschlands führte.
So wie Hans Scheble in der Mitte
des 20. Jahrhunderts den Geist der Zisterzienser beschworen hat, der für Aufbau
und Kultur steht, so haben diese Männer den Geist des Militärs beschworen, der
im 20. Jahrhundert in zwei Weltkriegen so viel Unheil angerichtet hat.
Ellwangen war von diesem Geist insofern betroffen, als in dieser Stadt nach der
Wiederbewaffnung die Reinhardskaserne, deren Bau in Form eines Hakenkreuzes auf
das Dritte Reich zurückgeht, mit Panzergrenadieren belegt wurde, bis sie vor
etwa zehn Jahren aufgelöst wurde. Heute befindet sich in den Gebäuden der
ehemaligen Kaserne eine der vier baden-württembergischen Landeserstaufnahmestellen
für Flüchtlinge.
Am 20. August feiert die katholische
Kirche den Tag des Heiligen Bernhard von Clairvaux, wie ich einem Plakat am
Eingang zur Klostergaststätte entnehme, in der wir zum Mittagessen einkehren.
„Man nannte Bernhard den
‚ungekrönten Papst und Kaiser seines Jahrhunderts‘ und den ‚Führer und Richter
seiner Welt‘ (J.Lortz), ‚das religiöse Genie seiner Zeit‘ (A. Harnack). K.
Hampe sagt: Er bleibt ‚mit seiner eifernden Liebe, der von Dante gepriesenen
vivace carita, und der fast übermenschlichen Kraft seiner Hingabe ein
leuchtendes Vorbild‘. Bernhard selbst nennt sich ‚Chimäre seines Jahrhunderts‘,
geteilt zwischen Mönchtum und Rittertum,[2] Mystik und Politik. Die
alte kirchliche Titelvergabe macht ihn zum ‚honigfließenden Lehrer‘. Neuere
Kritik tadelt im Gegensatz dazu, er sei zu fordernd, zu hart, zu unduldsam.
Jedenfalls gehört Bernhard zu den ganz Großen in der Kirche, und zwar seiner
Inwendigkeit und seiner Öffentlichkeitsentfaltung nach.
Bernhard, geboren in Fontaines
etwa 1090, stammt aus burgundischem Adel. Vier seiner Brüder und dreißig junge
Leute zog er mit sich in den neuen, noch nicht lebensfähigen
Zisterzienserorden. Nach drei Jahren schon wird er Gründerabt von Clairvaux. Es
folgen 69 Klosterneugründungen zu seinen Lebzeiten. Bernhards geistige Quellen
sind die cluniazensische Ideenwelt und die Theologie eines Hugo von St. Victor.
Er lebt in Schrift, Liturgie und Vätern und wird selber ‚der letzte der Kirchenväter‘
(Mabillon). Aber sein Bereich ist die mystische Theologie, die charismatische
Schau, die Christusinnigkeit. Davon künden seine 500 Briefe, seine Predigten,
Opuscula. Für seinen Schüler Papst Eugen III. schreibt er sein schönstes Werk:
‚De Consideratione‘. Seine Gedanken beeinflussen Jahrhunderte, von Thomas von
Aquin und Meister Eckhart bis Ignatius, Theresia, Franz von Sales, Fenelon,
nicht zuletzt Luther. Aus der Kreuzesmystik wächst seine Kreuzzugspredigt. 1146
gewinnt er zu Vezelay Ludwig VII. von Frankreich, zu Speyer Konrad III. von
Deutschland für den zweiten Kreuzzug. Man will Bernhard zum Bischof von Genua
oder von Mailand machen. Er bleibt Mönch. Sein ganzes Denken ist monastisch.
In seiner Gründung Clairvaux
stirbt er am 20. August 1153, etwa dreiundsechzig Jahre alt, aufgezehrt von
seinem Eifer, aufgerieben von seinen Leiden, und geht in die Welt, in der er
schon auf Erden gelebt hatte, und bleibt in der Kirche, für die er sich
hingegeben, als Ideal des Kirchenmannes, der ‚in contemplatione activus‘ ist.“[3]
Brühl, der 17. August 2018 (Freitag, 2.46 Uhr)
Ich bin so voll von Eindrücken
des gestrigen Tages, dass ich nicht mehr schlafen kann.
Am Donnerstag, den 16. August
2018 sind wir nach dem Frühstück nach Mönchengladbach gefahren. Mönchengladbach
ist heute eigentlich hauptsächlich bekannt durch einen Fußballclub, der einen
ansehnlichen Platz in der Bundesliga erreicht hat. Touristen wie wir verirren
sich eher selten in die im zweiten Weltkrieg zu 80 Prozent zerstörte Stadt
westlich von Düsseldorf. Auffallend ist, dass die Stadt mitten im Grünen liegt.
Hier wurde noch bis in die sechziger Jahre weitflächig Flachs angebaut, der
pflanzliche Rohstoff für die sich hier entwickelnde Textilindustrie. 60 Prozent der Gemeindemarkung sind auch
heute noch Grünland und werden landwirtschaftlich genutzt. Das ist erstaunlich,
wenn man bedenkt, dass nur 30 Kilometer östlich die größte Agglomeration
Deutschlands liegt, der Rhein-Ruhr-Verdichtungsraum.
Im Jahr 974 stand hier kein Haus.
Der Erzbischof von Köln hatte, so erzählt die Legende, einen Traum, in dem er
von Christus den Auftrag erhielt, ein Kloster zu gründen. Zusammen mit seinem
Freund Sandrad, einem Benediktinerabt aus Sankt Maximin in Trier, machte er
sich auf den Weg, um den geeigneten Platz zu finden. Zuerst wählten sie einen
Ort im Bergischen Land. Der war allerdings der falsche, wie sie nach einem
Festmahl feststellten, bei dem ein Gast verwundet wurde und starb. Wo einmal
Blut geflossen war, konnte man kein Heiligtum errichten.
So zogen die beiden Freunde
weiter und kamen schließlich zu einer leichten Erhebung in der Landschaft. Als
sie ihr Lager auf dem Hügel aufschlugen, hörten sie in der Nacht Glockengeläut
und Chorgesänge. Nun wussten sie, dass ihnen Gott den richtigen Ort angezeigt
hatte. Als sie dann auch noch auf einen hohlen Stein mit Reliquien stießen, den
die letzten Bewohner der Gegend 954 vor einem Ungarneinfall vergraben hatten,
war der Gründungsplan besiegelt. Der einflussreche Erzbischof von Köln erwarb
weitere Reliquien, darunter Knochen aus den Schädeln der Heiligen Laurentius
und Vitus. Damit begann die Veitsverehrung in Mönchengladbach.
Durch Sandrad, der von 974 – 979
auch Abt von Ellwangen war, kamen schließlich auch leibliche Überreste des
Heiligen Vitus nach Ellwangen, wo seit 764 eine Benediktinerabtei bestand.
Damals wechselte diese Reichsabtei auch das Patrozinium. Feierten die Mönche
von Ellwangen bis dahin den 20. April als Gedenktag der beiden römischen
Offiziere Sulpitius und Servilianus, so wurde nun der 15. Juni, der Tag des
Heiligen Vitus, neuer Feiertag.
Zur Tausendjahrfeier der Gründung
des Klosters im Jahr 1974 erhob Papst Paul VI. die Sankt-Vitus-Kirche von
Mönchen-Gladbach zur Basilika Minor, unterstellte sie also gleichsam direkt der
Basilika Major, dem Petersdom.
Auch die Sankt-Vitus-Basilika von
Ellwangen hatte diesen Ehrentitel erhalten, und zwar bereits zehn Jahre zuvor
zur Zwölfhundertjahrfeier im Jahr 1964. Im Schatten der Festlichkeiten des
Jubiläumsjahres wurde in dem Ellwanger Filialort Jagstzell mit dem Bau der
kleinen evangelischen Christuskirche begonnen, zu deren 40jährigen Jubiläum ich
im Jahr 2004 einen Kirchenführer verfasste.
1964 war auch ein entscheidendes
Jahr für die Reform der katholischen Liturgie. Damals hatte das Zweite
Vatikanische Konzil in Rom beschlossen, dass der Priester von nun an die
Heilige Messe nicht mehr mit dem Rücken zur Gemeinde und mit dem Blick nach
Osten zelebrieren sollte, sondern am Hauptaltar der Gemeinde zugewandt.
Nur im Kultus der
Christengemeinschaft steht der Priester oder die Priesterin noch in der
ursprünglichen Weise mit dem Rücken zur Gemeinde.
Wir versammelten uns zu einer
zweistündigen Führung auf dem Platz vor dem Westportal. Die Abteikirche ist
durch einen Bombenangriff am Ende des Zweiten Weltkrieges komplett zerstört und
in mühevoller Arbeit vom Münsterbauverein, einer Initiative aus der
Mönchengladbacher Bürgerschaft, innerhalb weniger Jahre zwischen 1947 und 1955
wieder aufgebaut worden.
Die ursprüngliche Bauzeit hatte
300 Jahre umfasst. Erst im Jahr 1275 konnte der vom Kölner Dombaumeister
Gerhard fertiggestellte gotische Chor von Albertus Magnus (1200 – 1280) geweiht
werden.
Albertus Magnus ist die zweite
bedeutende mittelalterliche Individualität,
der wir auf dieser Reise „begegnen“. Er stammt aus Lauingen an der Donau
und wanderte später an den Rhein, wo er in Köln eine berühmte Domschule
begründete, die Studierende aus ganz Europa anzog, später nach Paris an die
Seine, wo er der Lehrer des jungen Thomas von Aquin wurde, und dann wieder an
die Donau, wo er durch einen Spruch des
Papstes zum Bischof von Regensburg ernannt wurde. Orvieto, Würzburg, Esslingen
und schließlich wieder Köln sind weitere Stationen seines mit 80 Jahren
außerordentlich langen Lebens.
Zuerst ist es mir gar nicht
aufgefallen, aber unsere Führerin weist uns auf einen eingeritzten Schriftzug
auf der Portaltür hin. Dort steht in Großbuchstaben das lateinische Wort
„EXIT“. Das Wort bedeutet eigentlich „Ausgang“. In Wirklichkeit ist aber hier
der Eingang in die Kirche. Wir erfahren, dass dieses Wort von Joseph Beuys
einst mit Kreide auf die Tür geschrieben worden war und später eingeritzt wurde.
Im Kirchenführer finde ich folgende Erläuterung durch den ehemaligen Münster-Propst
Edmund Erlemann:
„Es war im Jahr 1972, am
Karfreitag. Um 15.00 Uhr sollte wie an jedem Karfreitag die Liturgie des
Karfreitags beginnen. Vor dem Gottesdienst kam ich auf den Münsterplatz und
sah, dass viele Menschen sich hier versammelt hatten. Mit Jonas Hafner und
Joseph Beuys saß eine Gruppe dort im Kreis, mitten auf dem Platz am Boden. Die
Leute klopften mit Steinen auf das Kopfsteinpflaster. Es wurde ‚Der Staat‘ von
Montesquieu gelesen. Auf einmal – ich war gerade in das Münster gegangen –
stand Joseph Beuys auf, nahm ein Stück Kreide, ging an das Portal und schrieb
an die Holzpforte das Wort ‚EXIT‘. Diese Karfreitagsaktion von Joseph Beuys ist
berühmt geworden. Sie ist dokumentiert: ein Foto hält fest, wie Joseph Beuys am
Münsterportal steht.“[4]
Brühl, der 18. August 2018 (Samstag, 6.31 Uhr)
Heute ist der Todestag meines
Vaters.
Die Fülle der Eindrücke auf
dieser Reise in die Rheinlande kann ich kaum alle wiedergeben. Gestern habe ich
bis um 7.00 Uhr geschlafen, heute bis 6.15 Uhr. Und heute fahren wir schon
wieder nach Hause.
Diese Fahrt hat nicht nur eine
geschichtliche Bedeutung für mich, sondern auch eine persönliche. Jeden Tag
gibt es neue, außergewöhnliche Begegnungen mit mitreisenden Ellwangern, die in
der einen oder anderen Weise mit meinen Eltern oder dem Orrotsee verbunden
waren. Die Vergangenheit wird auf diese Weise für mich wieder ganz lebendig.
Die Abteikirche von
Mönchengladbach besitzt ein massives Westwerk. Ursprünglich waren zwei Türme
geplant gewesen, wie man am Unterbau sehen kann. Verwirklicht wurde jedoch ein
relativ niedriger Westturm, der eine Michaelskapelle überragt. Das Langhaus ist
gegliedert durch Pfeiler, an denen abwechselnd Halbsäulen vorgelagert sind,
welche die Gewölberippen aufnehmen. Die Formen der Arkadenbögen und der Fenster
sind romanisch. Der sieben Stufen höhere Chor ist gotisch und wurde wie die
anschließende Sakristei vom Kölner Dombaumeister Gerhard geschaffen. Elf
Fenster schmücken ihn, darunter in der zentralen Achse das einzige mittelalterliche
Glasfenster, das die Zerstörung des Krieges überlebt hat, das sogenannte
Bibelfenster. Die anderen zehn Fenster wurden 1958 von dem Glaskünstler Wilhelm
Geyer, der auch die Fenster in der Liebfrauenkapelle im Kreuzgang der Ellwanger
Vitusbasilika geschaffen hat, gestaltet. Unter dem Chor befindet sich eine
schöne romanische Krypta, die wir besichtigen.
In der Sakristei entdecke ich als
nahezu ältestes Werk der Schatzkammer einen wunderschönen Tragaltar, der um das
Jahr 1160 gefertigt wurde. Er zeigt an den zwei Längsseiten Christus mit den
zwölf Aposteln, an den beiden Breitseiten den Engel auf dem leeren Grab mit den
Frauen am Ostermorgen auf der einen, eine Majestas
Domini mit Johannes dem Täufer und Maria links von Christus, dem Erzengel
Michael und Johannes dem Evangelisten rechts von ihm auf der anderen. Auf der Deckplatte sind
Szenen aus dem Alten Testament zu sehen wie die Opferung Isaaks oder auch
Melchisedeck mit dem Kelch, typologische Vorausdeutungen auf die christliche Eucharistie. Auf dem Tragaltar,
den der Abt mit sich führte, wenn er außerhalb des Klosters unterwegs war,
hatten Kelch und Hostienschale Platz
Es ist ein wunderschönes Werk mit
blauen Emailplatten als farbigen Hintergrund für die in Gold gestalteten
Figuren. Der Tragaltar ist das kostbarste Stück aus dem Klosterschatz des
Mönchen-Gladbacher Münsters, der nach den Plünderungen durch die Franzosen im
Jahr 1802 nur noch einen Bruchteil der ehemaligen Fülle umfasst. Die beiden
Kopfreliquiare der Kirchenheiligen Laurentius und Vitus in der Schatzkammer
nördlich des Chores wurden viel später angefertigt, erst im 19. Jahrhundert.
Schwäbisch Hall, der 19. August 2018 (Sonntag, 6.05 Uhr)
Wir sind wieder zurück.
Die Reise ist zu Ende, aber nicht
der schreckliche Sommer: seit Wochen scheint die Sonne, aber es regnet nicht.
Wir sind durch Landschaften gefahren, in denen rechts und links der Straße wegen
der anhaltenden Trockenheit nicht nur junge Fichten, sondern sogar schon
zahlreiche Laubbäume braun geworden waren, ganz zu schweigen von den
„verbrannten“ Wiesen. Der Wasserspiegel des Rheins, an dem wir gestern von
Rhens bis Bingen entlang fuhren, ist auf einem rekordverdächtig niedrigen
Niveau. Und die Meteorologen kündigen für die kommende vorletzte Augustwoche
wieder Temperaturen von 30 Grad an. Regen ist nicht in Sicht.
Ich war in zweifacher Hinsicht
begeistert von der Reise: Zum ersten habe ich viele neue Orte und Bauwerke kennen gelernt, zum anderen hatte
ich eben all die schönen menschlichen Begegnungen.
Nur Lena war etwas enttäuscht.
Sie hatte das Programm nicht gelesen und etwas anderes erwartet. Für sie war
die Reise anstrengend: all die Kirchen, die vielen Leute, das dichte Programm,
keine Entspannung. Als wir gestern gegen 21. 00 Uhr von Neunheim, wo wir unser
Auto beim Busunternehmen Mack geparkt hatten, zurück nach Schwäbisch Hall
fuhren, habe ich begriffen, dass es meine
und nicht ihre Reise war. Sie wäre
lieber mit mir allein ans Meer gefahren und hätte sich eine Woche lang
ausgeruht. Das lange Sitzen im Bus, die vielen neuen Eindrücke von Städten und
Orten, mit denen sie geschichtlich nichts verbinden kann, die vielen für sie
fremden, wenn auch zu ihr sehr freundlichen Leute, das alles war „Stress“ für
sie.
In der Schatzkammer auf der
Nordseite des Chores, also genau symmetrisch zur Sakristei auf der Südseite,
befindet sich auch ein Schrein, in dem das Tuch des Heiligen Abendmahls
aufbewahrt wird, das alle sieben Jahre in einer Prozession, der sogenannten
Heiligtumsfahrt, umhergetragen und gezeigt wird, das letzte Mal im Jahr 2014.
Probst Erlemann erklärt sehr schön einen wichtigen Aspekt der für uns Heutigen
kaum noch nachvollziehbaren Reliquienverehrung der mittelalterlichen Christen:
„Die Verehrung der Reliquien aus
dem Leben des Erlösers geht auf Kaiserin Helena zurück. Sie war die Mutter
Konstantin des Großen, dem Begründer des Staatskirchentums. Die Heilige Helena
lebte als Kaiserinmutter mit ihrem Sohn Konstantin, der in Trier geboren wurde,
in Konstantinopel. Kaiserin Helena hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Kreuz
des Erlösers zu finden. (…) Helena ließ auf dem Berg Golgata Ausgrabungen
anstellen. Wie zu erwarten, wurden auch Balken ausgehoben, worauf Helena mit
Weitsicht[5] und kluger Einsicht sagte:
„Das ist es!“ Damals war Jerusalem ein kleines Städtchen mit einer kleinen
christlichen Gemeinde unter Bischof Macarius. Es heißt in der Legenda aurea des
Jacobus a Voragine (1264), dass Helena dem Bischof befahl, das Kreuz des
Erlösers hinab in die Stadt zu tragen. Macarius aber, ein kräftiger Mann,
vermochte sich mit dem geschulterten Kreuz nicht von der Stelle zu rühren.
Jesus hatte die schwere Last zu tragen gewusst, aber der Bischof vermochte es
nicht. Ein Mönch aus der begleitenden Menge riet, sich der bischöflichen
Gewänder zu entledigen, denn auch der Erlöser habe es nackt tragen müssen. Daraufhin
habe Macarius seine Gewänder abgelegt und tatsächlich. Er schulterte das Kreuz
erneut und zog nunmehr ohne Mühe in die Stadt. Damit schien der Beweis
erbracht: es ist das Kreuz des Erlösers.“ (a.a.O. S 51f)
Nach der Besichtigung der
Abteikirche machen wir noch einen Rundgang durch die Stadt, in der kaum noch
ein altes Haus steht. Dafür werfen wir einen Blick in das nahe gelegene Museum
„Abteiberg“, das 1982 als erstes Museum der Postmoderne, noch vor der neuen
Stuttgarter Staatsgalerie, eröffnet worden war. Die Architektur entwarf der
Wiener Architekt Hans Hollein in enger Zusammenarbeit mit dem Museumsdirektor
Johannes Cladders in den 1960er Jahren.
Zuvor hatte im alten Städtischen Museum Mönchengladbach 1967 die erste große
Museumsausstellung von Joseph Beuys stattgefunden. So erblicken wir von der
Empfangshalle aus auch ein Beuys-Werk, das sogenannte „Revolutionsklavier“ aus
dem Jahre 1969. Das alte Klavier ist über und über bedeckt mit vertrockneten
Blättern, wie wir sie derzeit wegen der Hitze rechts und links der Autobahn an
zahlreichen Laubbäumen erblicken können.
Auch in die ehemalige
Stadtpfarrkirche, einen gotischen Bau, werfen wir einen Blick. Das Patrozinium
dieser Marienkirche fiel ebenfalls auf den 15. August. Wir erblicken jedoch
nicht die geringste Spur eines Heiligen Offiziums, sondern nur allerlei
nachgebaute Litfassäulen und andere kirchenfremde Einrichtungen. Aus der Tafel
am Eingang der zwischen 1469 und 1533 erbauten Kirche entnehme ich, dass der
Bau heute als „Citykirche“ genutzt wird, was auch immer damit gemeint ist.
Schließlich kehren wir ins
älteste Gasthaus von Mönchengladbach ein, das seinen Namen dem Stadtpatron
verdankt: St. Vith. An einer Ecke steht der jugendliche Heilige mit der
Märtyrerpalme in der Rechten und dem Kirchenmodell in der linken. Zu seinen
Füßen kauert ein Löwe. Der Heilige Vitus wurde in Sizilien zur Zeit des Kaisers
Diokletian geboren und wegen seines christlichen Glaubens verfolgt. Man
versuchte ihn mit kochendem Öl in einem Kessel („Hafen“) zu töten oder hetzte
einen wilden Löwen auf ihn. Vitus machte das Kreuzeszeichen über dem Tier und
es legte sich zahm zu seinen Füßen und leckte sie. Er heilte den besessenen
Sohn des Kaisers und wird deswegen bei Anfällen von Epilepsie („Fallsucht“)angerufen.
Er wird seit dem 15. Jahrhundert als einer der 14 Nothelfer verehrt, hilft
bettnässenden Kindern und Sterbenden, und ist der Patron der Kupferschmiede.
Laurentius, der zweite
Kirchenheilige, ist der Patron der Köche. Er erlitt sein Martyrium auf einem
Bratrost.
Wegen der Laurentiusreliquie, die
in Mönchengladbach aufbewahrt wird, ist die Stadt einst ins Kreuzfeuer
internationaler Politik geraten. Edmund Erlemann erzählt:
„Während der Regentschaft von
Kaiser Karl V. – dem Kaiser der Reformation, ‚in dessen Reich die Sonne nicht
untergeht‘ – geschah es, dass dessen Sohn Philipp bei Ypern in den Spanischen
Niederlanden während einer Schlacht am 10. August 1557, dem Fest des Heiligen
Laurentius, ein Dominikanerkloster, das dem Heiligen Laurentius geweiht war und
in dem sich die Feinde, die Franzosen, verschanzt hatten, mit Kanonen beschoss
und zerstörte.
Nun fühlten sich die Herrschenden
auch damals nicht sonderlich von ihrem Gewissen geplagt. Aber die Zerstörung
jenes Klosters quälte Philipp. Deshalb legte er, nachdem ihm sein Vater nach
der Schlacht die spanische Königskrone verlieh (Philipp II., Vater von Don
Carlos), das Gelübde ab, dem Heiligen Laurentius ein neues Kloster zu bauen.
Das tat er, als er das Escorial erbaute, das spanische Königsschloss, das auch
ein Kloster beherbergte, das dem Heiligen Laurentius geweiht wurde.
Der Escorial ist in der Form
eines Rostes gebaut, zu Ehren des Laurentius. Nun fehlte Philipp noch die
Krönung seines Werks: die Laurentius-Reliquie. Er wusste von seinen Gesandten
in den Spanischen Niederlanden, dass das Laurentiushaupt in Besitz der Abtei
Gladbach war. – Die Region der Spanischen Niederlande reichte bis nach
Niederkrüchten, weshalb die Leute, die dort wohnen, bis heute ‚de spanische
Böck‘ heißen. – So forderte Philipp von den Gladbacher Mönchen die Herausgabe
der Reliquie. Die Spaltung der Kommunität war die Folge. Die einen meinten, man
könne der katholischen Majestät diese Reliquien nicht verweigern; die anderen
waren gegen deren Herausgabe. Der König bemühte sich weiter, um das
Laurentiushaupt doch noch zu erhalten: er wandte sich an den Erzbischof von
Köln, der daraufhin Druck auf die Gladbacher Mönche ausübte.
Der Herzog von Kleve-Jülich-Berg,
der Gladbacher Landesherr, unterstützte aber die Mönche. Philipp schaltete
jetzt seinen Onkel ein, Ferdinand, den Kaiser, Bruder des abgedankten Karl V.
Der forderte nun ebenfalls die Mönche in Gladbach auf, die Reliquie dem König
von Spanien zu übergeben. Schließlich drohte der Papst den ungehorsamen Mönchen
von Gladbach das Interdikt an; das heißt, es sollte kein Gottesdienst mehr
gefeiert werden, falls nicht die Reliquie dem König von Spanien übergeben
würde. – Es heißt, dass der Konflikt derart eskalierte, dass der Gladbacher Abt
Hülsen aus Kummer über den Streit im Alter von 39 Jahren starb. Seine
Grabplatte unter dem Laurentiusbild weist ihn aus als ‚defensor intrepidus
capitis sancti Laurentii‘ – den unerschrockenen Verteidiger des Hauptes des
Heiligen Laurentius. – Die Mönche aber blieben standhaft. 40 Jahre dauerte der
Konflikt, der dann allmählich in Vergessenheit geriet. Alte Gladbacher kennen
noch die Redensart, die bei aussichtslosen Unternehmungen gebraucht wurde: ‚Die
Saak jeht uut wie die Saak möt et Laurentiushaupt‘ (Die Sache geht aus, wie die
Sache mit dem Laurentiushaupt). Hier sei auch an die Laurentius-Legenden
erinnert: Jeden Freitag steigt Laurentius ins Fegefeuer, um eine Seele zu
retten. Die Sternschnuppen im August heißen Laurentiustränen.“ (a.a.O. S 37f)
So wie die Reliquien des heiligen
Vitus, die 775 nach Saint Denis und von dort 887 ins Kloster Corvey kamen, von
wo aus ein Schädelknochen nach Gladbach und ein weiterer nach Ellwangen gelangte,
durch ein Geschenk, das Kaiser Heinrich II. am Anfang des 11. Jahrhunderts dem
Herzog Wenzel machte, nach Prag, in die Hauptstadt Böhmens wanderte, wo sich
seit dem 14. Jahrhunderts der heute noch bewunderte Veitsdom erhebt, so sollten
die Reliquien des Heiligen Laurentius nach Spanien in den Königspalast in der
Nähe von Madrid gelangen. Spanien hat eine besondere Beziehung zu Laurentius,
denn in der Kathedrale von Valencia wird ein Kelch aufbewahrt, der unter dem
besonderen Schutz des Laurentius steht.
Laurentius war einer von sieben
Diakonen des Papstes Sixtus II. Es oblag ihm, einerseits das Kirchengut zu
verwalten, andererseits die Armen zu pflegen. Als Laurentius von den Soldaten
des Kaisers Valerian verfolgt wurde, verlangten sie von ihm die Herausgabe des
Kirchengutes. Er aber verkaufte es heimlich und gab das Geld den Armen, indem
er dem Kaiser verkündete, dass diese der wahre Schatz der Kirche seien.
Eine Legende erzählt, dass sich
unter dem Kirchengut auch der Kelch befunden hätte, aus dem Christus und seine
Apostel beim letzten Abendmahl getrunken hatten. Dieser soll nach Spanien ins
Kloster San Juan de la Pena gebracht worden sein. Von dort kam er später nach
Valencia, wo er noch heute bewundert werden kann.[6]
Unsere nächste Station an diesem
16. August 2018 ist das Schloss Augustusburg in Brühl. Der Bau wurde im 18.
Jahrhundert als Sommerresidenz des Kölner
Kurfürsten und Erzbischofs Clemens August von Bayern (1700 – 1761) konzipiert,
der als weltlicher und geistlicher Fürst mit den meisten Ämtern seiner Zeit zu
den mächtigsten Reichsfürsten gehörte.
Sein Vater Maximilian II. Emanuel
war zur Zeit der Geburt des berühmten Sohnes Generalstatthalter der spanischen
Niederlande, deren Gebiet etwa dem heutigen Belgien entspricht. So kam Clemens
August am 16. August 1700 in Brüssel zur Welt. Er erhält mit 15 Jahren die
Tonsur und wird somit als zweitältester Sohn dem geistlichen Beruf
verschrieben, während sein älterer Bruder Karl Albrecht Kaiser wird. Am 12.
Februar 1742 wird er in der Bartholomäuskirche in Frankfurt von Clemens August
selbst zum einzigen bayrischen Kaiser gesalbt. Allerdings stirbt Kaiser Karl
Albrecht schon drei Jahre später im Jahre 1745. Im März 1716 übernimmt Clemens
August den ersten Bischofsstuhl und wird Bischof von Regensburg.
Vier weitere Bistümer werden ihm
zuerkannt, so dass er von den Franzosen spöttisch „Monsieur de cinq eglises“[7] genannt wird, da
Ämterhäufung vom Kirchenrecht offiziell verboten war, und nur durch einen
päpstlichen Dispens möglich wurde. Diesen hatte Clemens August, der 1716 und
1717 unter Aufsicht des Papstes in Rom Studien in Theologie, Logik, Physik und
Philosophie betrieben hatte, erlangt, nachdem er am 4. März 1725 auf Schloss
Schwaben bei München zum Priester geweiht wurde. Im Sommer 1725 reiste Clemens
August an den französischen Königshof und besuchte die Schlösser von
Versailles, Marly und Chantilly. Im Jahr 1732 krönte Clemens August seine
Ämterlaufbahn mit dem prestigeträchtigen Amt des Hochmeisters des Deutschen
Ordens.
Der Fürstbischof liebte
einerseits die Jagd, wollte sich aber auch immer wieder vom weltlichen Getriebe
zurückziehen und seinen religiösen Neigungen Raum geben. So suchte er Kontakt
zu der 2001 heiliggesprochenen Mystikerin Crescentia Höß aus Kaufbeuren, die
seine Ratgeberin und Seelenführerin wurde.
Aus einer Liaison mit der Bonner
Harfinistin Mechthild Brion ging eine Tochter, die spätere Reichsgräfin von
Löwenfeld, hervor, die später mit Franz Ludwig von Holnstein, einem illegitimen
Sohn seines Bruders, des Kaisers, verheiratet wurde.
Der bereits im 13. Jahrhundert
eskalierende Konflikt zwischen den Erzbischöfen als Stadtherren und den reichen
und selbstbewussten Bürgern von Köln, führte dazu, dass das Waldgebiet von
Brühl zu einem Ausweichquartier ausgebaut wurde. So entstand hier die erste
mittelalterliche Wasserburg nahe am Wildpark und der 1285 zur Stadt erhobenen
Siedlung Brühl.
Dieses Schloss wurde 1689 von den
Truppen Ludwigs XIV. zerstört. Am 8. Juli 1725 legte Clemens August, der am 12.
November 1723 nach dem Tod seines Onkels zum neuen Erzbischof von Köln gewählt
worden war, den Grundstein für eine nach Osten offene Dreiflügelanlage. 1728
änderte der bayerische Hofbaumeister, der in Frankreich geschulte Francois de
Cuvillies der Ältere (1695 – 1768), die ursprünglichen Pläne. Der ebenfalls in
bayerischen Diensten stehende französische Gartenkünstler Dominique Gerard
legte eine mit den Innenräumen des Südflügels korrespondierende Gartenanlage
an. Die Pläne der Haupttreppe des Schlosses stammen von Balthasar Neumann (1687
– 1753). Der Bauherr erlebte die Fertigstellung 1768 nicht mehr, da er sieben
Jahre zuvor während eines Reiseaufenthaltes in Koblenz-Ehrenbreitstein überraschend
verstorben war.
Eine junge Historikerin führt uns
durch die Räume des Schlosses.
Der Höhepunkt der Führung ist das
prunkvolle Treppenhaus. Es erinnert mich stark an die „Ehrentreppe“ im
Winterpalast der Zaren in Sankt Petersburg, die wir im letzten Sommer etwa um
die gleiche Zeit besichtigt haben. Diese in den Jahren 1754 bis 1762 von
Francesco Bartolomeo Rastrelli geschaffene Prunktreppe heißt auch „Jordantreppe“,
weil über sie die kirchliche Zeremonie der Wasserweihe vollzogen wurde, bei der
eine Kreuzprozession zu einem Pavillon über der Neva führte.
Das Augustusburger Treppenhaus,
das zu den „triumphalsten Raumkunstwerken seiner Art im 18. Jahrhundert“[8] gehört, entstand in seiner
heutigen Form in den Jahren 1740 bis 1750, also vor der „Jordantreppe“ in Sankt
Petersburg.
Marc Jumpers beschreibt das barocke
Gesamtkunstwerk im Schlossführer sehr treffend:
„Die mehrschichtige Inszenierung
erschließt sich nicht mit einem Male, sondern im Nacheinander während des
Aufstiegs.
Der erste Blick des Betrachters,
der aus dem Vestibül kommt, fällt auf eine Triumpharchitektur mit der
vergoldeten Büste des Kurfürsten Clemens August auf einer Pyramide, dem Symbol
des hohen und großen Ruhms des Fürsten. Flankiert wird diese von den Allegorien
‚Modestia‘ (Bescheidenheit) und ‚Nobilitas‘ (Adel); als oberer Abschluss der
Triumpharchitektur erscheint das Wappen des Kurfürsten mit Fama und die
Allegorien ‚Fides‘ (Glaubenstreue) und ‚Justitia‘ (Gerechtigkeit) als
Sinnbilder der geistlichen und weltlichen Macht.
Die Büste des Kurfürsten steht
somit im Zentrum eines allegorischen Programms und wird schon durch die
Erscheinungsform als die Sinnmitte des Treppenhauses begreiflich.
Noch bevor man die ersten
Treppenstufen des Unterlaufs betritt, ist der Punkt erreicht, von dem aus man
die Hauptszene des Deckenfreskos überschauen kann. Wiederum erblickt man eine
Pyramide; diesmal mit den Initialen ‚CA‘. So sind zwei Bezugsmomente zwischen
Architektur und Fresko auf die ruhmreiche Person des Fürsten gegeben, noch
bevor das Gesamtprogramm des Raumes überschaubar ist.
Zu Füßen der Pyramide im
Deckengemälde[9]
thront ‚Magnanimitas‘, die Großherzigkeit, eine der Tugenden aus dem Wahlspruch
des Bauherrn: ‚Pietate et Magnanimitate‘. Sie wendet sich zur ‚Magnifizenz‘,
deren Attribut – ein Schild mit Grundriss – besagt, dass sie den Nachruhm des
Fürsten durch Werke der Baukunst sichert. Die Hauptallegorien senden die
Freigiebigkeit zu den Künsten, die von ihrer Schutzgöttin Minerva auf die
Wohltäterinnen aufmerksam gemacht werden. Am nördlichen Bildrand stürzen ‚Intellectus‘
(der Verstand) und ‚Virtus‘ (die Tugend) Lasterallegorien wie Neid und
Trunksucht in die Tiefe.
Die Nebenszene des Freskos, erst
erkennbar nach der Drehung auf dem Umkehrpodest vor den oberen Treppenläufen,
stellt Venus dar, wie sie den schlafenden Mars entwaffnet, während Putten mit
den Waffen des Kriegsgottes spielen und Waffentrophäen verbrennen. Hierin wird
auf den Friedenswillen des Hausherrn verwiesen.
Ins Blickfeld kommt ferner eine
zweite Triumpharchitektur um die Mitteltür zum Gardesaal mit der Initialkartusche
des Kurfürsten und den Allegorien ‚Generositas‘ (Großzügigkeit) und
‚Auctoritas‘ (Autorität). Die Aussage über den Kurfürsten im Treppensaal ist
dreifach gestaffelt und in den jeweiligen Symbolen dargestellt: der geistliche
Rang Clemens Augusts als fünffacher Bischof und Legatus natus des Papstes im Reich, die weltliche Würde eines
Reichs- und Kurfürsten und der einzigartige Rang eines Hochmeisters des
Deutschen Ordens.
Diese große Zahl von Ämtern und
Würden, die kein anderer Fürst des Reiches auf sich vereinen konnte, deuten die
Würdezeichen in den Supraporten der Nord- und Südwand sowie um die Pyramide mit
der vergoldeten Büste an. In einer zweiten Ebene über den Supraporten sind die
vier Vorgänger aus dem Hause Wittelsbach als Kurfürsten von Köln dargestellt
(an der Nordwand links beginnend): Ernst (1554 – 1612), Ferdinand (1577 –
1650), Max Heinrich (1621 – 1688) und Joseph Clemens. Nach zeitgenössischer
Auffassung mehrte der Verweis auf die ruhmreichen Vorfahren den Ruhm des regierenden
Kurfürsten. Schließlich verkörpern die Hermenpaare, die die oval geöffnete
Decke tragen, wesentliche Begriffe, die mit dem Lebens-und Herrschaftskreis
eines Fürsten verbunden sind (an der Nordwand links beginnend): Jupiter
(Sinnbild höchster Würde und Majestät) und Minerva (kriegerischer Mut und
Weisheit), Herkules (Stärke und heroischer Mut) und Venus (Schönheit und
Liebe), Pan (arkadisches Dasein) und eine Nymphe (Tanz), Mars (Krieg) und
Victoria (Sieg), Dichtkunst und Ruhm, Herrschaft und Fortuna, Platon
(Philosophie) und Neid, Samson (Seelenstärke) und bildende Kunst, Apoll (Musik)
und Diana (Jagd), Vulkan (Handwerk) und Ceres (Ackerbau).
In der Ikonologie des Raumes
stellt das Fresko gleichsam die Schlusserklärung dar: Im Reich dieses ruhmvollen
Kurfürsten, dessen Haupttugend Magnanimitas ist, sollen die Künste blühen,
sollen das Angenehme und Erhabene herrschen; hier aber soll kein Platz sein für
Krieg und böse Mächte.“[10]
Im Rokokozeitalter liebten die
Fürsten allegorische Darstellungen, mit denen Tugenden und Laster, gute und
schlechte Eigenschaften gleichsam personifiziert wurden. Auch die antike
Götterwelt diente ihnen als sagenhafte Quelle der Inspiration.
Weil der Zugang zur realen
Götterwelt, der im Mittelalter manchen Menschen noch möglich war, verdämmerte,
wurden die Decken in der Barock-und Rokokozeit mit einer Unmenge von Gestalten und
Wesen bevölkert: in sakralen Bauwerken ist es meistens Maria, umgeben von
Heiligen und Engeln, in profanen Gebäuden ist es der Bauherr selbst, der sich von
seinen Tugenden und den Künsten feiern lässt, wie hier in Schloss Augustusburg.
Was einst reales innerliches
Erlebnis war, wird nun immer mehr äußerer Blickfang.
Bernhardus Silvestris[11] oder Alanus ab Insulis[12], die großen Lehrer der
Schule von Chartres, konnten – ähnlich wie Boethius in seinem „Trost der
Philosophie“ – reale geistige Wesen noch erleben und sich von ihnen inspirieren
lassen wie einst Homer, der sich seine großartigen Dichtungen, die sowohl im
Himmel als auch auf der Erde spielen, von „der Muse“ einsagen ließ: „Sage mir
Muse die Taten…“
Solche Darstellungen zeigen nicht
nur die finanzielle Potenz der Mächtigen, sondern sie sollen auch ihre
gleichsam von höherer Stelle verliehene Herrschaft legitimieren. In der Formel
„von Gottes Gnaden“ wird die Legitimation durch eine höhere, nicht irdische
Macht direkt angesprochen.
Jede politische Handlung wurde im
christlichen Mittelalter mit einer Messe begonnen, so auch die Wahl- und Krönungsfeierlichkeiten
eines Königs oder die Reichstage, wie es die Goldene Bulle vorschreibt. In der
Regel war die Eröffnungsmesse an den Heiligen Geist gerichtet.
„Die Anrufung des Heiligen
Geistes diente zu seligem anfange
einer Reichsversammlung, sie galt als fundamentum
necessarium totius actus, als notwendige Grundlage des ganzen Aktes,
verankerte ihn in der göttlichen Ordnung und verlieh ihm sakrale Autorität.“[13]
Schwäbisch Hall, der 20. August 2018 (Montag, 5.58 Uhr)
Heute, am Todestag von Bernhard
von Clairvaux, will ich meinen Bericht von unserer Reise zügig fortsetzen.
Nach der Führung möchte ich noch
die Gartenanlage anschauen. Seit ich vor ein paar Jahren in einer Ellwanger
Villa, die einmal einem der Stiftsherren gehörte, die Deckenfresken mit
Jahreszeitendarstellungen des Rokoko-Malers Johannes Nieberlein erläutern
durfte, wusste ich, dass im Brühler Schlossgarten Statuen stehen, die die vier
Jahreszeiten verkörpern. Diese wollte ich nun im Original betrachten. Dazu
musste ich die ganze wunderschön gestaltete französische Gartenanlage
durchlaufen, an deren Ende sie standen. Davor gibt es einen Teich, in dem sich die
blendend weißen Statuen spiegeln. Im Schlossführer heißt es:
„Der Garten von Schloss
Augustusburg zählt zu den bedeutendsten Anlagen französischer Gartenkunst des
18. Jahrhunderts in Deutschland. Den einzig bekannten, heute in Schloss
Augustusburg aufbewahrten Entwurfsplan lieferte der in Versailles ausgebildete
und seit 1715 für den kurbayerischen Hof tätige Gartenkünstler Dominique
Girard.
Zentrum der Brühler Gartenanlage
ist das große, zweiteilige Broderieparterre. Es wird durch Fontänenbecken und
anschließendem Spiegelweiher gegliedert, der über eine flache Kaskade aus dem
Rundbecken der großen Abschlussfontäne gespeist wird. Es handelt sich um die
Art eines parterre de broderie melee de massifs de gazon, die wohl aufwendigste
Form französischer Broderien: Die wie Stickerei wirkenden filigranen
Buchsornamente der beiden Zierbeete sind mit Rasenstreifen und farbigen
Streumaterialien ausgefüllt und von rhythmisch bepflanzten Blumenrabatten
eingefasst. Die Rahmenrabatten sind zur Mitte hin in Form eines Eselsrückens
aufgewölbt, was optisch durch die Pflanzfolge der Sommerblumen unterstützt
wird, die in der Beetmitte eine hochwachsende und zum Rand hin zwei paarweise
angeordnete, niedrigere Sorten vorsieht. Diese Pflanzfolge von Sommerblumen
entspricht einem in der Bibliotheque Nationale in Paris aufbewahrten Pflanzplan
für das Grand Trianon in Versailles aus dem Jahre 1693.
Von einem umfangreichen
Skulpturenprogramm zeugt heute nur noch eine Auflistung im Inventar von 1761.
Erhalten geblieben und 2005 restauriert sind die vier steinernen Postamente der
im Inventar erwähnten Personifikationen der Jahreszeiten. Von den hier 2009
aufgestellten Figuren aus Bamberger Sandstein stammen drei wohl aus dem 18.
Jahrhundert. Die vierte Figur, der Winter, wurde als Neuinterpretation einer
Skulptur aus dem Schloss Rheinsberg in Brandenburg von dem Bildhauer Guntram
Kretschmar neu geschlagen.“[14]
Ich betrachte und fotografiere
die vier Skulpturen: im Osten steht als erste eine weibliche Personifikation
des Frühlings mit Blumengirlanden in beiden Händen und einem Putto zu Füßen. Es
ist Flora. Es folgt Ceres, die den Sommer verkörpert, mit Ährenbündeln. Den
Herbst zeigt ein jugendlicher Dionysus mit Trauben und einem erhobenen
Weinbecher in den Händen an. Schließlich schließt der Winter als alter Mann,
vermutlich Chronos, die Gruppe ab. Ihm zu Füßen züngeln Flammen aus einer Vase.
Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein Putto mit einem Beil, um Holz zu
schlagen. Der Alte hüllt sich in einen Fellmantel.
Solche Statuen stehen auch im
Schlossgarten von Weikersheim oder im Park von Veitshöchheim. Selbst die
Jahreszeiten erlebten die Menschen damals als Wesen, während wir sie seit der
Aufklärung lediglich als abstrakte Begriffe von ihrem
astronomisch-meteorologischen Hintergrund herleiten.
In der Ellwanger Villa Maier und im
Gartensaal im Heckengarten des Schlosses Hohenstadt hat der Maler Johannes
Nieberlein die vier Jahreszeiten mit dem Tierkreis verbunden.
Vierergruppen stehen in der alten
Wissenschaft für die Welt, während Dreiergruppen für die göttliche Trinität
oder die geistlichen Tugenden stehen. So zeigen zahlreiche Deckenfresken des
Rokoko die vier damals bekannten Kontinente Europa, Afrika, Asien und Amerika
als Personifikationen, wie zum Beispiel in der berühmten Decke im Treppenhaus
der Würzburger Residenz von Giovanni Tiepolo. Aber auch der Ellwanger Hofmaler
Johannes Nieberlein hat Allegorien der vier Erdteile geschaffen, zum Beispiel
an der Decke der Schlosskirche von Rechenberg.
Seit dem Mittelalter werden die
vier antiken Kardinaltugenden Fortitudo (Kraft und Mut), Prudentia (Klugheit
oder Weisheit), Temperantia (Mäßigung) und Justitia (Gerechtigkeit) und die
drei theologischen Tugenden Fides (Glaube), Spes (Hoffnung) und Caritas (Liebe)
als Personifikationen dargestellt. Man erkennt sie jeweils an ihren Attributen.
Das symbolische und später
allegorische Denken unterscheidet sich grundlegend von unserem heutigen
abstrakten Denken. Während letzteres in seiner Fülle an differenzierten
Informationen für den einzelnen Menschen kaum noch überschaubar ist und im Kopf
oftmals ein Chaos erzeugt, war jenes klar geordnet und überschaubar.
Der alte Kosmos steht einem neuen
Chaos gegenüber.
Das Tohuwabohu, das die Genesis
im ersten Vers des Alten Testamentes als Ausgangszustand vor der
Welterschaffung durch die Elohim schildert, ist heute in den Menschenseelen,
über die nicht mehr der Geist Gottes schwebt, wieder da. Es hat sich nur von
außen nach innen verlagert. In den Kunstwerken aus den Zeitaltern vor der
Aufklärung können wir die alte Ordnung noch erleben. Deshalb reisen wir
dorthin, wo sie noch erhalten sind und nicht durch Revolutionen, Kriege oder
durch den veränderten Zeitgeschmack der Menschen zerstört wurden. Es sind immer
nur kleine Reste.
Durch die Entwicklung sind
natürlich auch die alten Hierarchien verschwunden: heute gibt es keine Könige
und Kurfürsten mehr, die ihr Geld für die Kunst ausgeben und solche Schlösser
und Gärten bauen lassen wie Schloss und Park Augustusburg, sondern Millionäre, die es in eine Privatvilla oder
eine Hochseeyacht investieren.
Es gibt für die Seele nichts
Wohltuenderes als zum Beispiel eine Gartenanlage im französischen Stil, in der
sich alles aufeinander bezieht, wo klare Symmetrien herrschen und wo das Auge
in harmonisch ausgeglichenen Schönheiten schwelgen kann.
Zwischen Herkules und Athene
hindurch, die am Eingangstor als monumentale Wächter in Stein gehauen sind,
verlassen wir Schloss und Garten Augustusburg und kehren in unser Hotel zurück.
Bei der Durchsicht des
Schlossführers entdecke ich, dass wir das Schloss des ehemaligen Erzbischofs
von Köln und Kurfürsten Clemens August genau an seinem 318. Geburtstag besucht
haben. War das Planung oder Zufall?
Am nächsten Tag, am Freitag, dem 17. August, steht Bonn auf
dem Programm. Zuerst besuchen wir das Haus der Geschichte und am Nachmittag das
Münster von Schwarzrheindorf.
Die Stadt Bonn war eine
fränkische Siedlung am Rhein, die aus einem römischen Legionslager
hervorgegangen ist. Im 12. Jahrhundert kam sie an das Erzstift Köln und diente
ab dem 16. Jahrhundert als Haupt- und Residenzstadt der Erzbischöfe. Von 1815
bis 1945 war Bonn preußisch und gehörte zur Rheinprovinz, die nach dem Sieg
über Napoleon im Wiener Kongress dem Staat Preußen zugeschlagen wurde. Zunächst
waren es zwei westliche Provinzen, die Provinz Jülich-Kleve-Berg mit dem Sitz
Köln und das Großherzogtum Niederrhein mit Sitz in Koblenz. Durch preußische
Kabinettsorder wurden sie am 22. Juni 1822 vereint und ab 1830 „Rheinprovinz“
genannt. Die Provinzialregierung hatte ihren Sitz in Koblenz.
Der Historiker Thomas Nipperdey
erläutert die Bedeutung der Rheinprovinz für das Deutsche Reich:
„Die Versetzung Preußens an den
Rhein ist eine der fundamentalen Tatsachen der deutschen Geschichte, eine der
Grundlagen der Reichsgründung von 1866/1871. Mit der Rheinprovinz war die
künstliche Existenz Preußens, die Spaltung in eine Ost- und Westhälfte, neu
befestigt und schärfer als je zuvor ausgeprägt. Das wurde zur stärksten
Antriebskraft preußischer Machtpolitik; letzten Endes ging es darum, diese
Spaltung zu überwinden. Preußens Rolle als Schutzmacht Deutschlands an der
Westgrenze – in Verbindung mit der Zweiteilung – führte dazu, dass seine eigene
Sicherheit unzertrennlich mit seiner Stellung in Deutschland verbunden war;
sein Streben nach einer hegemonialen Stellung im Norden war von daher fast eine
Notwendigkeit. Wenn die Kleindeutschen später von einer ‚Mission Preußens‘ zum
Schutz und darum zur Einigung Deutschlands gesprochen haben, so muss man sagen,
dass Preußen strategisch und geopolitisch in diese ‚Mission‘ hineingedrängt
worden ist. Schließlich – die Verteidigungsaufgabe hat den preußischen
Militarismus neu stabilisiert und legitimiert; zugleich hat gerade die
Rheinprovinz Preußen zur stärksten deutschen Wirtschaftsmacht gemacht und seine
eigentümliche Modernität weiter ausgeprägt.“[15]
Es ist interessant zu erfahren,
dass es schon im 19. Jahrhundert eine Zweiteilung Deutschlands gab. Es ist wie
eine Vorankündigung des geteilten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, als
es mit dem rheinischen Bonn eine westliche und mit (Ost-) Berlin eine östliche
Hauptstadt gab.
Urbildhaft war (Groß-)
Deutschland jedoch bis zum Ersten Weltkrieg dreigeteilt: Preußen als werdende
Industriemacht im Norden mit einer überwiegend protestantischen Bevölkerung auf
der einen, der Agrarstaat Österreich-Ungarn mit einer überwiegend katholischen
Bevölkerung im Süden auf der anderen Seite. Dazwischen befanden sich die
Mittelstaaten mit dem Königreich Bayern, das mehr mit dem katholischen
Österreich verbunden war, mit dem weitgehend reformierten Königreich
Württemberg und dem teils katholischen (Südhälfte), teils protestantischen
(Nordhälfte) Großherzogtum Baden, um nur die drei im 19. Jahrhundert geschichtlich
bedeutendsten zu nennen.[16]
In Bonn begegnen wir wieder dem
Kurfürsten Clemens August. Er ließ das Rathaus mit seiner bekannten
repräsentativen Freitreppe und das Poppelsdorfer Schloss mit seinem
zoologischen Garten als weitere Sommerresidenz erbauen. Ursprünglich war
geplant, von diesem Schloss aus eine schnurgerade Straße bis zum etwa 30
Kilometer entfernten Schloss Augustusburg in Brühl zu bauen, wie sie auch
zwischen dem Residenzschloss Ludwigsburg und dem Schlösschen Solitude bei
Stuttgart bis heute existiert.
Von 1949 bis 1990 war Bonn die
vorläufige Bundeshauptstadt, und bis 1999 Regierungssitz der Bundesrepublik
Deutschland. Die Lage der alten Hauptstadt am Rhein veranschaulicht die
Westorientierung des neuen deutschen Staates nach dem „Untergang“ des Deutschen
Reiches und der „Auflösung“ Preußens. Im Jahre 1984 wurde an der Willy-Brandt-Allee
das Haus der Geschichte in der Bonner Museumsmeile eröffnet. Hier haben
fleißige Sammler über eine Million Objekte zusammengetragen, die man heute in Themenräumen
auf mehreren Stockwerken kostenlos besichtigen kann. In diesem
zeitgeschichtlichen Museum kann man der deutschen Vergangenheit, wie man sie
zum Teil in den Zeitungen oder im Fernsehen „miterlebt“ hat, begegnen. Bei der
Fülle der Objekte kann man leicht den Überblick verlieren. Dennoch finde ich
die Ausstellung pädagogisch sehr gelungen.
Erwähnen möchte ich hier eine
Karikatur, die mir in dem ersten Raum aufgefallen ist, wo es um die Begründung
der Bundesrepublik durch den parlamentarischen Rat im Jahr 1949 geht und die
mir als symptomatisch erscheinen will. Ich habe sie fotografiert: Sie zeigt den
ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, dem eine ganze Vitrine gewidmet ist,
vor dem Orakel von Delphi. Die Pythia ist in heller Aufregung und spricht wie
immer unverständliche Worte. Ein Berater, den ich nicht identifizieren kann,
flüstert dem zukünftigen Präsidenten die „Übersetzung“ ins Ohr.
Hier wird wie am Rande
angedeutet, dass auch ein Politiker nur dann seiner Mission gerecht wird, wenn
er auf die Stimme des Geistes hört. Aber Theodor Heuss, der mehrere Bücher
verfasst hat, darunter auch eine Biographie über den Unternehmer Robert Bosch,
die dieser selbst kurz vor seinem Tode von ihm erbeten hatte, wurde später
etwas abwertend von den sogenannten „Realpolitikern“ als „Schöngeist“
bezeichnet. Am 12. September 1949 hat die Bundesversammlung den Brackenheimer
zum ersten Bundespräsidenten der aus Trümmern wiedererstandenen Republik
gewählt. Weil er 1954 für eine zweite Amtsperiode wiedergewählt wurde, blieb
„Papa Heuss“, wie ihn die Bevölkerung liebevoll nannte, bis zum 12. September
1959 im Amt. Nach dem Tod seines Nachfolgers Heinrich Lübke schrieb die
Londoner Times eine Würdigung des liberalen Politikers, die – wie ich finde –
recht gut sein Wesen trifft:
„Professor Heuss war
außergewöhnlich erfolgreich als Bundespräsident und verkörperte bis zur Perfektion
das Konzept des gebildeten Ehrenmanns (‚Scholar and Gentleman‘) unter den
extrem schwierigen Umständen, in denen sich Deutschland selbst fand, nachdem
Hitlers Aggressionskrieg verloren war. Er tat als formelles Staatsoberhaupt,
was er konnte, um das Image des Landes als eins der Dichter, Philosophen und
Musiker wiederherzustellen.“ (The Times, 7. April 1972, S 16, aus dem
Englischen übersetzt)[17]
Der Bundespräsident hat bis
heute in unserer Republik nur eine
repräsentative Rolle. Viel mehr Macht hat dagegen der Bundeskanzler.
Drei Tage nachdem die
Bundesversammlung Theodor Heuss zum Bundespräsidenten gewählt hatte, wurde am
15. September 1949 der „Alte von Rhöndorf“, der 73jährige Konrad Adenauer, mit
einer Stimme Mehrheit – es war seine eigene – von der Regierung zum
Bundeskanzler gewählt. Am 20. September wurde er als erster Bundeskanzler
vereidigt und blieb 14 Jahre lang im Amt. Rhöndorf ist ein Dorf südlich von
Bonn auf der rechten Rheinseite.[18]
Am 1. und 2. März 1947 traf im
Exerzitienhaus auf dem Schönenberg ein Kreis aus Politikern zu einer „Diskussionsrunde“
zusammen, die über die zukünftige Staatsform nachdachte. Zu den Initiatoren des
„Ellwanger Kreises“ gehörte neben dem zukünftigen Bundeskanzler unter anderen
auch der zukünftige Außenminister der Bundesrepublik, Franz von Brentano.
„1948/49 standen Fragen der
Verfassung im Vordergrund. Der von den Ellwangern erarbeitete
Verfassungsentwurf, der dem Parlamentarischen Rat als Drucksache vorlag und
nachhaltigen Einfluss auf die Beratungen zum Grundgesetz erlangte, begründete
den Ruf des Kreises. Mit der Festlegung der großen Linien einer
Bundesverfassung stellte er einen Kompromiss zwischen den zentralistischen
Tendenzen der Union im Norden und den stark föderalistischen Positionen der süddeutschen
Vertreter dar.“[19]
So gibt es erstaunlicherweise
wieder eine Verbindung zu unserem Heimatstädtchen.
Leider gibt es in der
Dauerausstellung im Haus der Geschichte keinen Hinweis auf den „Ellwanger
Kreis“, genauso wenig wie auf die Politik der Heimatvertriebenenverbände.
Mein Großvater
(mütterlicherseits) Dr. Waldemar Rumbaur war als stellvertretender Bundesvorsitzender
der Landsmannschaft Schlesien in den 60er Jahren oftmals in Bonn oder Berlin
und hat an den Veranstaltungen teilgenommen. Sogar der „Stern“ zeigte ihn einmal
in einer Ausgabe bei einer Vertriebenenveranstaltung mit Willy Brandt und Erich Mende in seiner Reihe „Bon(n)bons – Prominenten in
den Mund gelegt“ in einem witzigen Zusammenhang.
Mit der neuen Ostpolitik Willy
Brandts und seinem Kniefall in Warschau hat sich die Bundesrepublik – zum Ärger
meines Großvaters – immer mehr von den ehemals deutschen Ostgebieten
abgewendet. So werden in einer Vitrine lediglich die beiden Denkschriften der
großen Kirchen zu dem Streitthema ausgestellt. Gegen die Denkschrift der EKD
hat mein Großvater in zahlreichen Zeitungen wie zum Beispiel im Hausblatt „Der Schlesier“ Einspruch erhoben, allerdings
ohne Erfolg.[20]
Im Jahr 1948 gründete mein
Großvater zusammen mit August Haussleiter und anderen die Partei „Deutsche
Gemeinschaft“ (DG), die heute in einem Wikipedia-Eintrag unsachgemäß als
„rechtsextrem“ eingestuft wird[21], weil sie für die
Entschädigung deutscher Kriegsopfer eintrat und den Verlust der deutschen
Ostgebiete nicht hinnehmen wollte. August Haussleiter gründete 1965 die AUD
(Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher), die sich für Umweltschutz
einsetzte und eine Vorläuferpartei der „Grünen“ war. Dieser Partei, die sich
1980 in Karlsruhe gründete, wird im Haus der Geschichte ebenfalls ein Kapitel
gewidmet.
Auch dem Künstler Joseph Beuys,
der den „Grünen“ nahestand, begegnen wir in einem 1971 im Lichtdruckverfahren
hergestellten Großfoto wieder, das er auf Italienisch untertitelte: „La
Rivoluzione siamo Noi“ – Wir sind die Revolution. Das klingt ähnlich wie der
andere berühmte Ausspruch, den er einmal machte: „Jeder Mensch ist ein
Künstler“.
Natürlich wird auch die 68er „Revolution“
thematisiert, die ja in Wirklichkeit keine richtige Revolution war. Immerhin
wirkt der damalige Aufstand der Jugend gegen die verstaubten Strukturen der
knapp 20jährigen Bundesrepublik bis heute nach, allerdings nicht nur in
positiver Weise, wie ich finde. Das Wort „Unter den Talaren der Muff von
tausend Jahren“ wendet sich plakativ gegen das historische Bewusstsein, das der
heutigen gymnasialen Jugend in ihrer Mehrheit vollkommen abhanden gekommen ist.
Das ist leider auch ein „Erfolg“, den sich die Lehrer aus der 68er Generation
auf die Fahnen schreiben dürfen und es ist mit Sicherheit der Grund dafür, dass
Lena und ich die jüngsten Teilnehmer der Exkursion an die Orte deutscher
Geschichte waren.
Wir bleiben nach dem Besuch der
Dauerausstellung in Bonn, während die Gruppe zum Mittagessen nach
Schwarzrheindorf, unserer nächsten Station, fährt.
Lena will die Stadt sehen und ein
bisschen einkaufen.
So gehen wir zu Fuß die
Konrad-Adenauer-Alle an den verschiedenen Bauten der alten Bundesrepublik wie
dem dunklen Bundeskanzleramt, dem hellen Palais Schaumburg und der ebenfalls
hellen Villa Hammerschmidt vorbei bis zum Koblenzer Tor, an das sich nach
Westen die Universität anschließt. Wir folgen einer hässlichen Bauwand und
gelangen schließlich auf den Münsterplatz mit seinem Beethovendenkmal.
Bei der Tourist-Information
besorge ich mir einen Stadtplan und erkundige mich nach einem Bus in den
Stadtteil Schwarzrheindorf, wo ich um 15.00 Uhr rechtzeitig zur angesetzten
Führung wieder zu unserer Gruppe stoßen will.
In der Konditorei Fassbender
kaufen wir Nougat und Kekse. Wir bewundern das alte Sterntor, ein Überbleibsel
der ehemaligen Stadtbefestigung, werfen einen Blick in die Jesuitenkirche und
setzen uns auf dem Marktplatz beim Cafe Müller-Langhardt an einen Tisch mit
Blick auf einen Marktstand mit schlesischen Wurstspezialitäten, trinken einen
Kaffee und essen Baiser-Torte. Lena, die immer auf der Suche nach örtlichen
Mitbringseln ist, kauft einen „Baumkuchen“.
Am Rathaus begegnen wir einem
jungen Pärchen, dem ich anbiete, es auf der Freitreppe zu fotografieren. So
kommen wir ins Gespräch und ich erfahre, dass der junge Mann wie ich eine
russische Freundin hat. Das Mädchen kommt aus Moskau. Da meine Zeit knapp ist,
lasse ich Lena bei den beiden und fahre mit dem Bus nach Schwarzrheindorf, wo
ich beinahe pünktlich zur Führung bei der Doppelkirche eintreffe.
Auch Schwarzrheindorf, ein
heutiger Teilort Bonns auf der rechten Rheinseite nicht weit von der Mündung
der Sieg in den Strom, war ursprünglich eine römische Siedlung. Hier habe im
Jahre 11 vor Christus Drusus, der Stiefsohn des Kaisers Augustus, eine
mehrgliedrige Brücke über den Rhein bauen lassen, die Bonna und Gesonia
verbanden. Als rechtsrheinischer Brückenkopf des römischen Bonn hatte Gesonia
große strategische Bedeutung. Die Ortsnamen Ober- und Niederkassel weisen auf
zwei Kastelle hin, die der Siedlung „Flankenschutz“ gewährten.
Der romanische Kirchenbau, der
wie die Aachener Pfalzkapelle auf dem Grundriss eines griechisch-byzantinischen
Kreuzes erbaut wurde und neben der Unter- auch eine Oberkirche hat, war
vermutlich zunächst die Pfalzkapelle der Burg, die auf der natürlichen Erhebung
über der Rheinniederung stand. Es waren die Grafen von Wied, die hier neben
Koblenz und Köln einen ihrer Sitze hatten.
Die zerstückelte Grafschaft war
einst Teil der großen salischen und staufischen Pfalzgrafschaft (palatia
major), die ihrerseits aus dem fränkischen Lotharingien hervorgegangen war.
Die Kirche ist eine Stiftung
Arnolds von Wied (um 1098 – 1156), der sich für den geistlichen Beruf entschieden
hatte. Er wurde bereits 1122 Probst am Limburger Dom und ist 1127 als Domprobst
von Köln bezeugt. 1138 wurde er von König Konrad III. zum Reichskanzler
berufen. Er begleitete seinen König auf dem zweiten Kreuzzug (1147 – 1149), für
den Bernhard von Clairvaux nach der blutigen Eroberung von Edessa durch Zengi
von Mossul auf Anregung von Papst Eugen III. gepredigt hatte, der jedoch nach
der vergeblichen Belagerung von Damaskus mit einer Niederlage der Kreuzfahrer
endete.
Zurückgekehrt übernahm Arnold das
Amt des Kölner Erzbischofes von seinem von Papst Eugen III. abgesetzten
Vorgänger. Am 9. März 1152 krönte Arnold in Aachen Friedrich I. Barbarossa zum
König. Am 14. Mai 1156 starb der Erzbischof und Reichskanzler an den Folgen
eines Sturzes, der ihm bei einem Osterwettlauf in Xanten widerfuhr.
Otto von Freising, der
Hofhistoriker der Staufer, der am 24. April 1151 den Altar der oberen Kirche
von Schwarzrheindorf geweiht hat, rühmt Arnold von Wied in seiner Chronik
„Gesta Frederici“ als „ehrenwerten Mann“ und „Wiederhersteller seiner Kirche“
(„vir honestus ecclesiae suae reparator“), wie auch auf seiner 1997 erneuerten Grabplatte in der Vierung der
Kirche zu lesen ist.
Die Weihe der neuen, von Arnold
gestifteten Kirche, bei der auch König Konrad III. und andere hohe Würdenträger
anwesend waren, war ein „Staatsakt allerersten Ranges“.[22] Der obere Altar wurde
„der allerseligsten Gottesmutter und
Jungfrau Maria sowie dem Evangelisten Johannes“ geweiht. Später kam als
Kirchenpatron noch der Heilige Clemens dazu, dessen Namen wohl auch der spätere
Erzbischof Clemens August übernahm.
Der Heilige Clemens, einer der
ersten Bischöfe von Rom (um 50 – 101), der mir 2015 in der römischen Kirche San
Clemente schon einmal begegnet war[23], ist wie Nikolaus ein
beliebter Brückenheiliger, dessen Kirchen man gerne an Flüssen baute. Das mag
daran liegen, dass er der Legende nach
auf der Halbinsel Krim an einem Anker im Schwarzen Meer ertränkt wurde. Die
Slawenapostel Kyrill und Method sollen später seine Gebeine gefunden und nach
Rom gebracht haben.
Schwäbisch Hall, der 21. August 2018 (Dienstag, 6.08 Uhr)
Nun ist es doch gut, dass ich
diese Woche frei habe. So kann ich mich ganz auf meinen Reisebericht
konzentrieren. Heute Nacht träumte ich von unserer Fahrt. Lena und ich hatten
ja ziemlich weit hinten auf der Beifahrerseite gesessen. Im Traum saß ich
ebenfalls dort, aber ich steuerte von meinem Platz aus auch noch den Bus. Das
war ziemlich schwierig und so streifte ich mit dem Bus hin und wieder die Bäume
am Straßenrand.
Die Kirche von Schwarzrheindorf
mit ihrem außergewöhnlichen Bilderzyklus führt uns zurück ins 12. Jahrhundert, in
das „Jahrhundert des Heiligen Bernhard“, wie Karl Königs betont:
„Kein anderer hat dieses 12.
Jahrhundert so geprägt wie der heilige Bernhard von Clairvaux (1090 – 1153),
weshalb man es schon ‚das Jahrhundert des heiligen Bernhard‘ genannt hat. Bei
seinem Tod zählte der Zisterzienserorden, der ihm sein ungeheures Wachstum
verdankte, 843 Abteien. Im Auftrag des Papstes hatte er den zweiten Kreuzzug
gepredigt, dessen Scheitern man ihm anlastete. Das ‚Gott will es‘, das Motto
des Kreuzzuges war fragwürdig geworden. Bernhard ist sich selber als Chimäre
vorgekommen, da er aus dem Kloster, wo er seine Mönche mit Predigten zum Hohen Lied
begeistern konnte, immer wieder in die Welt hinausgerufen wurde. Dieser
Mystiker und große Marienverehrer war ein wacher Kämpfer gegen eine den Glauben
gefährdende Theologie (Abälard), wie er andererseits ein Verfechter der
Meinungsfreiheit war, wahrlich eine Chimäre, aber auch ein Mensch jenes 12.
Jahrhunderts, jener fernen Zeit, in der wir uns auch als Christen nur bedingt
wiedererkennen können.“[24]
Auch an die „deutsche Prophetin“
Hildegard von Bingen (1098 – 1179), eine Zeitgenossin Bernards, erinnert Karl
Königs:
„Sie konnte es wagen, Kaiser und
Bischöfe mit zum Teil sehr drastischen Worten zur Umkehr zu mahnen. Erstaunlich
ist ihre geistige Freiheit, da sie offenbar den Kreuzzügen kritisch
gegenüberstand. ‚Baut daheim an Jerusalem‘, womit sie vor allem Reform der
Kirche meinte.“ (ebenda)
Es wird vermutet, dass Arnold von
Wied in seiner Schwarzrheindorfer Kirche eine Kopie der Grabeskirche von
Jerusalem schaffen wollte, die er ja mit eigenen Augen gesehen hatte:
„Arnold hat nun seine Kapelle
nicht zuletzt als seine Grabeskirche bauen lassen. Die Form des Zentralbaus (=
Mausoleum) erinnert an die Grabeskirche in Jerusalem wie auch die
Jerusalemthematik des Bilderzyklus.“ (ebenda, S 31)
Zunächst betrachten wir den
romanischen Kirchenbau von außen. Was zuerst ins Auge fällt, ist die
restaurierte Farbigkeit des Baus. So ähnlich muss man sich die
mittelalterlichen Kirchen vorstellen, die weder innen noch außen den nackten
Stein zeigten. Bei genauerer Betrachtung fällt die um den ganzen Bau herumführende
Zwerggalerie[25]
in mittlerer Höhe auf. Sie ist nicht nur Bauzier wie an vielen anderen
romanischen Kirchen, sondern mit einem Gang und einer Brüstung versehen, so
dass man sich auf ihr gefahrlos bewegen kann.
„Wie sie als imperiales Baumotiv
den Rang des Stifters kundtut, so hat sie auch ihre Funktion: sie schafft auf
geniale Weise den Übergang von unten
nach oben“, erläutert Königs (S 49).
Sie ist also das mittlere Motiv
in der dreigliedrigen Wandgestaltung des Außenbaus: oben ist der Dachbereich, also
gleichsam das Haupt der Kirche mit den Fenstern, die wie die Augen beim
Menschen das Licht von außen nach innen lassen. Unten ist der Bauch, der die
Gläubigen aufnimmt. In der Mitte ist entsprechend dem dreigliedrigen Aufbau des
Menschenleibes der Brustbereich mit den rhythmisch gegliederten Rippen und den
lebenswichtigen Rhythmen von Atem und Herzschlag.
Seelisch gesprochen ist dieser
mittlere Bereich auch der Ort des Fühlens, so wie der Kopf das Denken
beherbergt und die Glieder des Leibes dem Wollen dienen. Folgerichtig sind an
den Kapitellen pflanzliche und tierische Motive zu erkennen.
Königs erläutert:
„Von unten ist schon die Vielfalt
der Kapitelle der ‚berühmten Galeriesäulchen‘ (Jakob Burckhard, der 1843 die
Kirche besuchte) erkennbar. (…) Wenn auch an der Nordseite, der Seite der
Nacht, sich figürliche Kapitelle, die dem Bösen wehren, befinden, so fällt doch
auf, dass selbst hier fast gar keine monströsen Darstellungen zu sehen sind,
wie sie den Hl. Bernhard in Harnisch brachten. Ein Adlerkapitell findet sich
(…) in der Wartburg, so dass man annehmen kann, dass dieselben Steinmetze von
hier nach Eisenach wanderten.“ (ebenda, S 50)[26]
Das Adlermotiv ist mir auch in
der Oberkapelle von Burg Neuenburg oberhalb von Freyburg an der Unstrut
begegnet, der östlichen Grenzburg der Landgrafen von Thüringen. Offenbar sind
bereits 100 Jahre vor dem Meister von Naumburg hervorragende Steinbildhauer bis
an die Saale gelangt und haben dort einen ähnlich schönen Sakralraum für den
Burgherrn geschaffen wie hier am Rhein.
Königs fährt fort:
„Ein Engelskapitell krönt eine
Säule der Apsis. Sollte es bewusst auf den rheinischen Engelfelsen, den Siegburger
Michelsberg, gesetzt worden sein? Schön ist die rhythmische Gliederung der
Galerie, wo Pfeiler, Säulen und Doppelsäulen wechseln und vor allem die
Vielfalt der Kapitellgestaltung, ein wahres Musterbuch der Steinmetzkunst.“
(ebenda S 50)
Wieder begegnet uns wie schon in
Mönchengladbach der Erzengel Michael. Seine Heiligtümer sind meist auf
hervorgehobenen Bergkuppen zu finden und datieren wie die Martins- und
Peterskirchen weit zurück in die frühesten Zeiten der Christianisierung
Europas. Oft finden sich Michaelskapellen wie in Mönchengladbach (Sankt Vitus),
aber auch in Ellwangen (Sankt Vitus) oder in Schwäbisch Hall (Sankt Michael) an
der Westseite der Kirchen, oft verbunden mit dem oder den Türmen. Vom Westen,
dem Bereich des „Jüngsten Gerichts“, versucht das Böse die Christen zu
bedrängen, während das Gute von Osten kommt. Michael wehrt die Dämonen (den
Drachen) ab und versperrt ihnen den Weg ins Innere.
Vielleicht ist es kein Zufall,
dass es auf der östlichen Seite des Rheins einen Michaelsberg gibt, der nach
Westen auf die Ebene des Niederrheins schaut und somit die ganze Region vor dem
Bösen behütet. Im Süden schließt unmittelbar das sogenannte Siebengebirge an, welches
vulkanischen Ursprungs ist. Einer der Berge heißt „Drachenfels“. Ein Stich aus
dem 19. Jahrhundert rückt das Siebengebirge mit seinen Vulkankegeln im
romantischen Überschwang unverhältnismäßig nah an die Kirche heran.
Wir betreten nun die Kirche durch
den Südeingang und gelangen damit in das Langhaus, einen späteren Anbau an den
als Zentralbau konzipierten Raum um die Vierung. Unser Blick fällt auf die
ursprüngliche farbige Ausschmückung der drei Chorapsiden und der Westkonche,
wie sie durch eine behutsame Freilegung aus dem Putz späterer Zeiten in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zum Vorschein kam.
Karl Königs zitiert einen
längeren Abschnitt aus dem Standartwerk über den Kirchenbau der Gotik von Otto
von Simson (1912 – 1993), das mir vorliegt. Der bekannte Kunsthistoriker, der
von 1959 – 1965 auch eine Gastprofessur in Bonn inne hatte[27], schreibt:
„Der Kirchenbau ist sinnbildlich
und liturgisch ein Abbild des Himmels.[28] Mittelalterliche
Theologen haben diesen Bezug unzählige Male betont. Die maßgeblichen Formeln
des Weiherituals einer Kirche weisen ausdrücklich auf die Verwandtschaft
zwischen der Vision der Himmelsstadt, wie sie in der Apokalypse geschildert
wird, und dem Gebäude hin, das errichtet werden soll. Um diese symbolische
Bedeutung des kirchlichen Gebäudes zu betonen, sind die Wohnstätten der Himmlischen
in Darstellungen des Jüngsten Gerichtes an romanischen Portalen gelegentlich
als Basiliken gebildet (Conques); und der Mönch, der seine Handschrift mit
einem Bild des Himmels schmückte, ‚konnte keine passendere Formel hierfür
finden als die Darstellung einer Kirchenapsis‘. Im romanischen Sakralbau wird
diese symbolische Bedeutung gewöhnlich in der Apsis durch die monumentale Darstellung
des thronenden Christus veranschaulicht, der von dem himmlischen Hofstaat
umgeben ist, gelegentlich sogar durch Bilder der Himmelsstadt. (…) Solche
Bilder deuten auf den geistigen Untergrund des ‚Antifunktionalismus‘ der
romanischen und byzantinischen Kunst hin; das mystische Erlebnis, das solche
Wandgemälde oder Mosaiken im Gläubigen wecken sollen, ist ganz und gar nicht
von dieser Welt; die dargestellte himmlische Vision soll uns vergessen lassen,
dass wir uns in einem Gebäude aus Stein und Mörtel befinden, da wir ja
innerlich bereits das himmlische Heiligtum betreten haben.
Ein besonders eindrucksvolles
Beispiel für diese Absicht findet sich in der Doppelkapelle von
Schwarzrheindorf, der prachtvollen Grablege ihres Erbauers, des Kölner
Erzbischofs Arnold von Wied (+ 1156). Während die Wandgemälde der Oberkirche
vor allem Szenen aus der Apokalypse darstellen, finden sich in der Unterkirche
solche aus der Vision des Ezechiel – in mancher Hinsicht das
alttestamentarische Gegenstück zur Offenbarung Johannis – mit einem Abbild des
Himmels in Gestalt eines Gebäudes, d.h. eines Tempels. Der Zyklus von
Wandgemälden in der Unterkirche von Schwarzrheindorf ist einer der
eindrucksvollsten des ganzen Mittelalters. Hier wird die gesamte Kirche zum
Schauplatz der endzeitlichen Vision des Ezechiel. Die vier zentralen
Wölbungsabschnitte um die achteckige Öffnung, die Unterkirche und Oberkirche
verbindet, bringen in vier Szenen die Vision des neuen Tempels. Der östliche
Gewölbeabschnitt zeigt ein kirchenähnliches Gebilde mit geöffneten Türen, durch
die man Christus mit der im Segensgestus erhobenen Rechten erblickt. Dieses
Bild stellt das Tor gegen Morgen dar, durch das der Herr sein Heiligtum
betreten hat (Ezechiel 43f). Eine Inschrift, ‚porta Sanctuarii‘ oder
‚Sanctuarium‘ scheint die Darstellung erklärt zu haben. Nicht zufällig
erscheint diese zwischen Vierung und Chor. Die Szene bezeichnete diesen Teil
des Baus als mystisches Abbild des ewigen Tempels im himmlischen Jerusalem.“[29]
Die Frage, was eine Kirche in
Wirklichkeit darstellt, behandelt auch der Theologe Karl Königs. Er führt aus:
„Die Bibel selbst stellt die
Frage: ‚Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde?‘, denn sie weiß: ‚Siehe, selbst
der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wieviel weniger dieses
Haus…‘. Aber König Salomo, der dies bei der Tempelweihe bekannte, durfte doch
bitten: ‚Halte deine Augen offen über diesem Haus bei Nacht und bei Tag, über
der Stätte, von der du gesagt hast, dass dein Name hier wohnen soll‘ (1. Kön.
8,27f). Im alttestamentlichen Tempel ‚wohnte‘ Gott im Dunkeln, nur der
Hohepriester, und auch der nur am Versöhnungstag, durfte das Allerheiligste
betreten. Der Christ ist ‚Hausgenosse Gottes‘ (Eph. 2,19) und doch weiß er um
das Mysterium dieses ‚Ortes, den Gott geschaffen hat‘, und der darum ein
‚unschätzbares Sakrament‘ ist: LOCUS ISTE A DEO FACTUS EST INAESTIMABILE
SACRAMENTUM, wie es in der Kirchweihmesse heißt im Anschluss an Genesis 28,17:
‚Wie ehrfurchtsgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das
Haus Gottes und das Tor des Himmels‘.“ (a.a.O. S 54)
Wenn man bedenkt, dass sich solch
ein Heiligtum, ja ich würde sogar sagen, solch ein Mysterienort so nah an der
einstigen Hauptstadt der Bundesrepublik befand, dann kann man sich nur wundern,
wie sehr die Politiker, die von hier aus das Volk führen sollten, immer mehr
von den „guten Geistern“ verlassen wurden und heute nicht einmal mehr das
Grundgesetz beherzigen, in dem sie 1949 noch in die Präambel den gewichtigen
Satz schrieben: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als
gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen,
hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses
Grundgesetz gegeben.“
Der Gottesbezug, der vermutlich
bei dem Katholiken Konrad Adenauer und bei manchem anderen „christlichen“
Politiker jener Tage noch ernst genommen wurde, hat sich meinen Wahrnehmungen
nach inzwischen in Luft aufgelöst. Vermutlich bringt unsere Regierung deshalb
nichts mehr „auf die Reihe“…
Es würde zu weit führen, in
diesem Reisebericht die einmaligen mittelalterlichen Bilder der Kirche im
Einzelnen zu beschreiben. Sie folgen im Prinzip der Theologie des Rupert von
Deutz (1075/80 – 1139/30), die manche großartigen Werke christlicher Kunst
inspiriert hat, wie Königs feststellt (S 34). Der im Mittelalter hoch
angesehene Theologe war in Lüttich der Lehrer von Arnold von Wied und seines
Freundes Wibald von Stablo.
Königs führt aus:
„Gewiss ist die Mehrzahl der
Bilder dem Propheten Ezechiel entnommen, aber gemäß der Theologie des Rupert,
dessen ‚Ezechielkommentar‘ sich im größeren Ganzen seines Werkes ‚DE TRINITATE
ET OPERIBUS EIUS‘ findet, sind es auch hier die vier Mysterien Christi[30], auf denen der Akzent
liegt. Rupert hat denn auch nicht einen Ezechielkommentar im heutigen Sinn,
eine Exegese des ganzen Buches geschrieben. Er hat aus dem Propheten die
Kapitel ausgewählt, die er auf die Mysterien Christi beziehen konnte,
angefangen mit seinen wortreichen Ausführungen zur Gottesvision, zur Bedeutung
der vier Wesen.“ (S 35).
Das Viergetier aus der Vision des
Ezechiel, auch „Tetramorph“ genannt, bezieht sich deutlich auf das Wissen von
der makrokosmischen, also himmlischen Dimension des Gottessohnes, das der heutigen Menschheit verloren gegangen zu
sein scheint. Bereits im ersten Kapitel seines Buches beschreibt Ezechiel seine
Vision des kosmischen Christus, der sich ihm 600 Jahre, bevor er als
Menschensohn in Bethlehem geboren wird, offenbart:
„Und ich sah, und siehe, es kam
ein ungestümer Wind von Norden her, eine mächtige Wolke und loderndes Feuer,
und Glanz war rings um sie her, und mitten im Feuer war es wie blinkendes
Kupfer. Und mitten darin war etwas wie vier Gestalten; die waren anzusehen wie
Menschen. Und jede von ihnen hatte vier Angesichter und vier Flügel. Und ihre
Beine standen gerade, und ihre Füße waren wie Stierfüße und glänzten wie
blinkendes, glattes Kupfer. Und sie hatten Menschenhände unter ihren Flügeln an
ihren vier Seiten; die vier hatten Angesichter und Flügel: Ihre Flügel
berührten einer den andern. Und wenn sie gingen, brauchten sie sich nicht
umzuwenden; immer gingen sie in die Richtung eines ihrer Angesichter. Ihre
Angesichter waren vorn gleich einem Menschen und zur rechten Seite gleich einem
Löwen bei allen vieren und zur linken
Seite gleich einem Stier bei allen vieren und hinten gleich einem Adler bei
allen vieren. Und ihre Flügel waren nach oben hin ausgebreitet; je zwei Flügel
berührten einander, und mit zwei Flügeln bedeckten sie ihren Leib. Immer gingen
sie in der Richtung eines ihrer Angesichter; wohin der Geist sie trieb, dahin
gingen sie; sie brauchten sich im Gehen nicht umzuwenden. Und in der Mitte
zwischen den Gestalten sah es aus, wie wenn feurige Kohlen brennen, und wie
Fackeln, die zwischen den Gestalten hin- und herfuhren. Das Feuer leuchtete und
aus dem Feuer kamen Blitze.[31]“
Hier endet die Vision nicht. Sie
geht noch über weitere dreizehn Verse und findet mit folgender Schilderung, die
stark an die Vision des Johannes auf Patmos erinnert, ihren Höhepunkt:
„Und über der Feste, die über
ihrem Haupt war, sah es aus, wie ein Saphir, einem Thron gleich, und auf dem
Thron saß einer, der aussah wie ein Mensch.“
In der Oberkirche der Pfalzkapelle
von Aachen steht ein steinerner Thron, den man heute noch bewundern kann. Hier
durfte nur der gewählte König als Stellvertreter Christi auf Erden bei der
Krönungszeremonie Platz nehmen. Wenn er nicht besetzt war, dann „saß“ Christus
selbst darauf, wie es im Anschluss an die Vision des Ezechiel in der
christlichen Kunst oftmals dargestellt wurde: die Majestas Domini.
Zu diesem Komplex möchte ich
wieder die Überlegungen von Karl Königs, der sich als langjähriger
Gemeindepfarrer intensiv mit dem Schwarzrheindorfer Kirchenbau und seiner
Bedeutung auseinandergesetzt hat, zitieren:
„Wenn der Aachener Thron, wie es
neuere dendrochronologische Untersuchungen erwiesen haben, der ‚Thron Karls‘
war, andererseits der Kaiser – wie es schriftlich bezeugt ist – ‚normalerweise‘
unten beim Klerus seinen Platz hatte, so war es vor allem der Thron Christi. In
Ravenna ist auf einem Mosaik die ‚hetoimasia‘ dargestellt, der für den Herrn
mit Purpurkissen bereitete Thron.“ (S 29)
Vielleicht stand auch in der
Oberkirche von Schwarzrheindorf solch ein Thron.
Königs beschreibt sehr schön den
ersten Eindruck, den der Besucher haben kann, wenn er von seinem Standpunkt bei
der Grabplatte des Erzbischofs hinauf in der Apsiskonche der Oberkirche blickt:
„Gleichsam überirdisch erscheint
dem, der sich die Zeit nimmt, unten am Grab des Stifters innezuhalten, das Bild
des thronenden Herrn. Die achteckige Öffnung ist der gemäße Rahmen.(…) Vor dem
strahlenden Blau des Himmels, eingefasst von der Mandorla, dem mandelförmigen
Schein der Herrlichkeit, dessen Farben an den Regenbogen erinnern, thront der
Herr auf einem prächtig hergerichteten Thron, das Haupt vor dem Kreuznimbus,
die Füße auf einem von goldenem Kronreif
umschlossenen (…) Schemel.“
Zu Füßen Christi liegen
Erzbischof Arnold und seine Schwester Hedwig als Stifter der Kirche und ihrer
Ausschmückung.
Vor der Kirche bewundern wir nach
der hervorragenden Kirchenführung den im Jahre 1989 zur 2000-Jahr-Feier von
Bonn und Schwarzrheindorf geschaffenen Marienbrunnen, der die vier Tiere aus
der Vision des Ezechiels, die in der Tradition der christlichen Kunst zu den
oftmals dargestellten Evangelistensymbolen wurden, noch einmal zeigt,
gleichzeitig aber die vier Paradiesesflüsse versinnbildlicht. Die Widmung
bezieht sich wieder auf den Theologen Rupert von Deutz:
„Kennzeichnend für die Mariologie
Ruperts sind der Begriff der geistlichen Mutterschaft (Maria und Johannes unter
dem Kreuz in unserer Kirche!) und die Deutung der Braut des Hohen Liedes auf
Maria. ‚Brunnen lebendigen Wassers‘ (Hld 4, 15) steht in der Deutung Ruperts
(…) als Widmung auf dem Marienbrunnen: (…) ‚AQUARIUM igitur VIVENTIUM PUTEUS id
est sanctarum scripturarum sacrarium SOROR MEA SPONSA tu es’ (Brunnen
lebendigen Wassers, heiliger Schriften geweihtes Behältnis bist du, meine
Schwester Braut)“ (ebenda, S 34)
Zum Schluss betrachte ich noch
die Skulptur, die in einem Rundbogen in der Kirchenmauer steht. Sie zeigt eine
Frau, die an eine Säule gebunden ist. Es ist – wie die Inschrift verrät – eine
Darstellung Maria Magdalenas als Büßerin. Die mittelalterliche Skulptur wurde in
der Rheinniederung an der Stelle des ehemaligen Richtplatzes gefunden und
hierher gebracht.
Wir fahren mit dem Bus weiter
nach Bad Godesberg. Da ich mich mit Lena beim Haus der Geschichte verabredet
hatte, wohin wir laut Programm noch einmal zurückkehren wollten, um den „Weg
der Demokratie“ abzuschreiten, muss ich mich nun beeilen, um sie dort
abzuholen. Leider brauchen wir mit Bus und U-Bahn länger als gedacht und als
wir gegen 18.10 Uhr bei dem Halteplatz unseres Reisebusses bei der Rheinfähre
eintreffen, ist dieser schon – ohne uns – abgefahren. So kehren wir auf eigene
Faust nach Brühl in unser Hotel zurück. Zum Glück können wir um 18.46 Uhr am Bad
Godesberger Bahnhof in einen Regionalexpress der Deutschen Bahn einsteigen, der
uns in knapp 20 Minuten nach Brühl an jenen Bahnhof bringt, der im 19.
Jahrhundert extra für Queen Victoria gebaut wurde, damit sie das Schloss
Augustusburg besuchen konnte.
Mit dem Stadtbus und zu Fuß
erreichen wir schließlich gegen 19.30 Unser Hotel H+ an der Römerstraße.
Zunächst kennt es niemand, den wir danach fragen. Als wir jedoch angeben, dass
es direkt beim „Netto“ liegt, verstehen die Gefragten und versichern: „Ah, Sie
meinen das Hotel „Ramada“. So hieß unser Hotel offenbar noch vor einem Jahr,
bevor es den Besitzer wechselte.
Der letzte Tag unserer Reise
bricht am Samstag, den 18. August
an. Nach dem wie immer üppigen Frühstück im weitläufigen Speisesaal des Hotels
packen wir unsere Koffer und fahren mit unserem Busfahrer auf der Autobahn A 61
südwärts. Unser Ziel ist die Benediktinerabtei Maria Laach am Laacher Maar.
Der See verdankt sein Entstehen
einem Bodeneinbruch. Hier hat etwa 10000 vor Christus, als schon Menschen in
der Gegend siedelten, ein gewaltiger Vulkanausbruch stattgefunden. Dabei
entstand die Caldera, der Explosionstrichter von Laach, der sich anschließend
mit Wasser füllte. Dieser Teil der Eifel, der auch „Vulkaneifel“ genannt wird
und etwa 2000 Quadratkilometer von Wittlich bis an den Rhein umfasst, ist
geprägt durch zahlreiche Maare und Vulkankegel, die wir beim Vorbeifahren
bemerken. Auch heute gibt es noch Vulkanismus in diesem Gebiet. Unser
Klosterführer, der Benediktinerbruder Jakobus, erzählt uns von gelegentlichen
leichten Erdbeben und von den an bestimmten Stellen aus dem See austretenden
Gasen.
Leider führt uns Bruder Jakob,
einer von 27 verbliebenen Benediktinermönchen des Klosters, nicht in die
Klosterkirche. Dafür sehen wir die umfangreiche Bibliothek, einige
Wirtschaftsgebäude und den Friedhof mit der romanischen Nikolauskapelle. Am
meisten beeindruckt mich die Bibliothek. Hier findet sich neben den Schriften
Martin Luthers zum Beispiel auch eine Studienausgabe der Werke von Marx und
Engels. Auch ein zweibändiges „Lexikon der Frau“ entdecke ich.
Die im Jahre 1093 von dem
kinderlosen Pfalzgrafenpaar Heinrich II. aus dem Hause Luxemburg-Gleiberg und
seiner Gemahlin Adelheid von Orlamünde gestiftete Abtei wurde bereits 1156
eingeweiht. Sie ist architektonisch erstaunlich einheitlich.
Die dreischiffige Basilika
besitzt einen Ost- und einen Westchor, eine Ost- und eine Westvierung, über
denen sich jeweils ein Vierungsturm erhebt, zwei runde Westtürme und zwei
quadratische Osttürme. Im Westen schließt sich an die Apsis ein „Paradies“ an,
ein lichtes Geviert mit schönen Arkaden und einem Löwenbrunnen (19.
Jahrhundert). Baumaterial ist abwechselnd schwarzer Basalt, grauer und weißer
Tuffstein und roter Sandstein. Der westliche Vierungsturm ist an drei Seiten
von einer Zwerggalerie umgeben.
Als wir ankommen, fällt uns
sofort die reiche Beflaggung auf. Wir erfahren, dass wir gerade in der
Festwoche der Abtei gekommen sind, die vom 15. August (Mariä Himmelfahrt) bis
zum 24. August (Sankt Bartholomäus) dauert. Auch eine Hochzeit wird hier
gefeiert, so dass wir erst nach der offiziellen Führung in die Kirche können.
Die Mönche haben früher, so erfahren wir, auch Kirchenführungen gemacht, aber
sie haben vor ein paar Jahren beschlossen, es nicht mehr zu tun, um wieder Ruhe
in den Sakralraum zu bringen. An der Fülle der Autos auf dem riesigen Parkplatz
sehen wir, dass Maria Laach und der See ein beliebtes Ausflugsziel sind.
Geweiht wurde die Kirche der
Gottesmutter Maria und dem Heiligen Nikolaus. Von dem Halbrund über der Apsis
leuchtet ein Mosaik dem Eintretenden entgegen. Es zeigt den segnenden Christus
mit dem Buch des Lebens, umgeben von den zwölf Tierkreiszeichen. Geschaffen
wurde das Christusbild im byzantinisch-normannischen Stil zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der
Beuroner Kunstschule.
Im Ostchor steht ein auf sechs
Säulen ruhender gotischer Altarbaldachin, im Westchor das farbig gefasste
Grabmal des Stifters.
Leider ist die Krypta nicht
zugänglich. Sie konnte noch zu Lebzeiten des bereits zwei Jahre nach der
Gründung verstorbenen Pfalzgrafen Heinrich II. weitgehend fertig gestellt
werden, gehört also zu den ältesten Teilen des Baus.
In der westlichen Apsis gibt es
ein modernes Glasfenster von W. Rupprecht, das Konrad Adenauer 1956 gestiftet
hat. Es zeigt Johannes den Täufer, der seine Jünger zu Christus, dem Lamm
Gottes führt.
Unser letzter Halt ist bei dem
oberhalb der Stadt Rhens am Rhein in freier Natur stehenden, steinernen
Königsstuhl. Bei der Stadt „Rhense am Rhein“ grenzten vier Kurfürstentümer
aneinander: die drei Erzbistümer Trier, Mainz und Köln und das Territorium des
Pfalzgrafen bei Rhein. Hier trafen sich die Kurfürsten vor der Königswahl,
bevor Frankfurt schließlich zum bevorzugten Wahlort wurde. Zur Krönung zogen
sie dann mit großem Gefolge weiter nach Aachen.
Es war Kaiser Karl IV., der „letzte
Eingeweihte auf dem Kaiserthron“[32], der in der „Goldenen
Bulle“ von 1356 die Formalitäten der Königswahl im Reich und die Anzahl der
Kurfürsten festsetzte. Die sieben Kurfürsten, darunter die schon genannten drei
geistlichen und außer dem Pfalzgraf noch drei weitere weltliche, sind, so
erfahren wir, im Grunde Vorläufer eines föderalen Staates, wie er im Gegensatz
zum Zentralstaat in Frankreich oder in England bis heute in der Bundesrepublik
Deutschland besteht.
Leider musste der ursprünglich in
der Stadt stehende Königsstuhl an seinen heutigen Platz umziehen, weil ein
Unternehmer seine Sprudelfabrik erweitern wollte. Das kann man als Symbol für
die moderne Zeit ansehen, wo nicht mehr die Politik bestimmend ist, sondern die
Wirtschaft.
Nach einem leckeren Mittagessen
in Spay am Rhein fahren wir durch das romantische Mittelrheintal an all den Burgen
mitsamt der Lorelei vorbei bis Bingen, wo wir wieder auf die Autobahn gelangen.
Gegen 20.30 Uhr kommen wir in Ellwangen an, nicht ohne zuvor den Organisatoren der
Reise und dem Busfahrer unseren Dank ausgesprochen zu haben.
[1]
Ekkehard Meffert (1940 – 2010), ein Professor für Kulturgeografie an den
Universitäten Bonn und Köln, hat viel über die Zisterzienser geforscht. 2010
erschien sein Werk „Die Zisterzienser und Bernhard von Clairvaux – Ihre
spirituellen Impulse und die Verchristlichung der Erde Europas“, 2012 (posthum)
„Klöster der Zisterzienser – Ein Reisebegleiter“, beide Verlag Urachhaus,
Stuttgart. Dort heißt es: „An Himmerod fasziniert die klassische, einsame,
hochmittelalterliche Rodungslage in einem spät erschlossenen deutschen Mittelgebirge.
Deutlich zu erkennen ist die Tallage an der Salm, die die Mönche zu zahlreichen
Fischteichen aufgestaut haben, während die leichten Hanglagen noch einen
klosternahen Ackerbau ermöglichen. Es handelt sich somit um den idealtypischen
Standort eines Zisterzienserklosters, an dem sich das Prinzip der
Weltabgeschiedenheit und der Wunsch nach Autarkie (Wasser und Ackerland)
vortrefflich studieren lassen“ (S 87).
Auch der Ellwanger Archivar Professor Immo Eberl hat
eine Monografie über die Zisterzienser geschrieben: „Die Zisterzienser.
Geschichte eines europäischen Ordens“, Thorbecke-Verlag, Stuttgart 2002.
Meffert nennt den Band von 614 Seiten eine „grundlegende Darstellung zur
Ordensgeschichte“.
[2]
Er entwarf auch die Ordensregel für die Templer, einen 1120 in Jerusalem
gegründeten Ritterorden, in den auch Verwandte von Bernhard eintraten und der
später zum mächtigsten Ritterorden Frankreichs, ja Europas wurde, so mächtig,
dass ihn der französische König Philipp der Schöne verfolgen und vernichten
ließ.
[3]
Theodor Schnitzler, Die Heiligen im Jahr des Herrn – Ihre Feste und Gedenktage,
Herder, Freiburg, Wien, Basel, 1978, S 285f
[4]
Zitiert nach dem Kirchenführer von Edmund Erlemann, Hans Bange und Barbara
Maiburg aus dem B.Kühlenverlag, Mönchen Gladbach 2006, S 14
[5]
Ich würde sagen: Helena konnte das wahre Kreuz aus ihrer Hellsichtigkeit heraus
erkennen. Denn zu jener Zeit hatten die Menschen noch diese übersinnliche
Fähigkeit, hinter der materiellen Hülle die geistige Substanz wahrzunehmen. Nur
so kann man überhaupt die Reliquienverehrung verstehen. Es geht nicht um den
materiellen Knochen oder Stoff, sondern um das, was in ihm als Geist seines
einstmaligen heiligen Trägers noch lebt. Natürlich verflüchtigt sich dieses
„Leben“, genau wie die alte Hellsichtigkeit, allmählich im Lauf der
fortschreitenden Geschichte, so dass es zur Zeit der Reformation nur noch sehr
wenige Menschen gab, die in den Reliquien etwas Geistiges wahrnehmen konnten.
Deshalb verloren sie auch ihre „Wirkmächtigkeit“, die im Mittelalter vielfach
bezeugt ist. Zur Zeit der Französischen Revolution und der Aufklärung wurden
viele dieser Reliquien als abergläubische Überbleibsel des „finsteren
Mittelalters“, das man überwunden glaubte, zerstört.
[6]
Diese Legende deutet auf eine Gralsströmung hin, die nach Spanien weist, wo
schon Richard Wagner die Gralsburg Monsalvat vermutete. Eine andere
Gralslegende lässt Joseph von Arimathia mit der Abendmahlsschale, in der er
auch das Blut Christi unterm Kreuz aufgefangen haben soll, nach Glastonbury in
Südengland bringen. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass das Tuch, das
auf dem Abendmahlstisch gelegen hatte, in Mönchengladbach verehrt wird.
Gladbach lag bei seiner Gründung nicht auf dem Gebiet des Erzbistums Köln,
sonder auf dem Territorium des Bischofs von Lüttich. In Lüttich wirkte im 13.
Jahrhundert die Nonne und Mystikerin Juliana. Seit 1209 sah sie immer wieder in
ihren Visionen eine unvollständige Mondscheibe und deutete dies folgendermaßen:
im Kirchenjahr würde ein Fest fehlen, das der Verehrung des Altarsakraments
gewidmet ist. Auf die Anregung Julianas setzte Papst Urban IV. 1264 das
Fronleichnamsfest, das in Lüttich schon seit 1246 gefeiert wurde, verbindlich
für die ganze Kirche fest. Thomas von Aquin, der dieses Fest begrüßte, schrieb
daraufhin mehrere Hymnen auf das Altarsakrament.
[7]
Osnabrück, Paderborn, Hildesheim, Münster und Kurköln.
[8]
Schlossführer „Schloss Augustusburg in
Brühl“, Deutscher Kunstverlag Berlin München, zweite durchgesehene Auflage
2015, S 32
[9]
Geschaffen hat das Fresko, das die flache Decke des Treppensaals wie eine
Kuppel erscheinen lässt, Carlo Carlone (1668 – 1775). Der lombardische Künstler
hat unter anderem auch in Ansbach, Ludwigsburg, Weingarten und Ellwangen
gearbeitet, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. https://de.wikipedia.org/wiki/Carlo_Carlone
[10] A.a.O. S 36ff
[11]
Sein Werk „De Universitate Mundi“ gewährt Einblick in die Welt realer,
schöpferischer Wesen
[12]
Im ersten Buch des „Anticlaudian“ beruft „Natura“ die Tugenden zu einem
himmlischen Konzil, um einen neuen, göttlichen Menschen zu erschaffen.
[13]
Barbara Stolberg Rilinger „Des Kaisers alte Kleider – Verfassungsgeschichte und
Symbolsprache des Alten Reiches“, C.H. Beck, München, 2009, S 32.
[14] A.a.O. S 104f (Text von Christiane
Winkler)
[15]
Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker
Staat, Verlag C.H. Beck, München 1994.
Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Rheinprovinz
[16]
Am 22. August 1818 gewährte der Großherzog Karl von Baden seinen Bürgern eine neue
Verfassung, die als die modernste der damaligen Zeit galt. Sie enthielt schon
ein Wahlrecht und die Bürgerrechte. In diesen Tagen feiern wir das 200.
Jubiläum.
[21]
Siehe dagegen Richard Stöss, Vom Nationalismus zum Umweltschutz, Westdeutscher
Verlag, Opladen 1980.
[22]
Ich beziehe mich bei all meinen Angaben auf den Kirchenführer von Pfarrer Karl
Königs aus dem Jahr 2001 (Neuauflage: 2014)
[24]
Karl Königs, a.a.O. S 20
[25]
Königs erläutert: „Der Name rührt von einem alten Wort für ‚quer‘, wie es sich
noch in ‚Zwerchfell‘ erhalten hat, her“ (a.a.O. S 49)
[26] Auch im Ostchor der Oberkirche der Schwarzrheindorfer
Kirche begegnet mir das Motiv des Adlers an einem Kapitell wieder.
[28]
Otto von Simson zitiert in einer Fußnote: „Der Abschnitt Offenbarung 21, 2 – 5
wird während der Einweihungsfeierlichkeiten verlesen.“
[29]
Otto von Simson, Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und
Bedeutung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1968 (deutsche,
überarbeitete Ausgabe), S 21f.
[30]
Es gibt nach dem Kirchenvater Irenäus von Lyon (um 135 – ca. 200) diese vier
Mysterien Christi: „…Denn das erste Lebende, heißt es, ist ähnlich dem Löwen,
das Kraftvolle, Fürstliche und Königliche in ihm bezeichnend, das zweite
ähnlich einem Stiere, seinen Opfer- und Priesterberuf dartuend, das dritte mit
dem Angesicht eines Menschen, seine Ankunft als Mensch beschreibend, das vierte,
aber ähnlich einem fliegenden Adler, die Gnade des auf die Kirche
niederfliegenden Geistes anzeigend.“ Zitiert nach Königs, a.a.O. S 34
[31]
Die vier „Tiere“ kann man auch stellvertretend als ein Abbild des zwölfteiligen
Tierkreises deuten, wobei sich Löwe und Wassermann („Mensch“), Stier und
Skorpion (der zur Erde gefallenen Adler) kreuzförmig gegenüberstehen.
[32]
Rudolf Steiner
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