Sonntag, 23. September 2018

Unsterblich - zum 100. Geburtstag von Hans Scholl




Vor knapp einem Jahr, am 29. September 2017, lernte ich Renate und Hans-Jürgen Deck bei meiner Haller Stadtführung am Michaelstag kennen. Als wir nach dem Rundgang, der uns vom jüdischen Betsaal im Hällisch-Fränkischen Museum zum Stadtbrunnen führte, noch mit Klaus und Dorothea Demmel[1] zusammen saßen, erfuhr ich, dass sich Dorotheas Freundin Renate mit vielen Themen beschäftigt, die auch mich interessieren. Renate ist Künstlerin. Wir fühlten uns sofort verwandt.
Durch Renate bin ich zu Hans und Sophie Scholl gekommen, die mir zwar schon lange bekannt waren, mit denen ich mich aber erst im Zusammenhang mit der gestrigen Reise und dem hundertsten Geburtstag von Hans Scholl eingehender beschäftigt habe. Dabei half und hilft mir das Buch von Peter Selg „Der geistige Weg von Hans und Sophie Scholl“ (2. Korrigierte Auflage, Verlag am Goetheanum 2007) sehr. Ich fühle mich mit den beiden gebildeten und sensiblen Geschwistern auch deshalb besonders verbunden, weil sie – wie ich – Tagebuch schrieben.
Renate und Hans-Jürgen haben die Reise nach München organisiert.
Es sind 35 Interessenten mitgekommen, also ein Bus voll, darunter Herr Michael Foss, der junge Bürgermeister von Forchtenberg, und seine Frau. Das empfand ich als eine besonders bemerkenswerte  Reverenz vor Hans Scholl, denn sein Vater Robert Scholl (1891 - 1973) war zehn Jahre lang, von 1920 bis 1930, selbst Bürgermeister der kleinen Kochergemeinde. Außerdem fuhren zwei evangelische Pfarrer, Herr Glück und Herr Münch, und ihre Ehefrauen mit. Besonders hat mich gefreut, dass sich auch eine Frau, die ich von der Christengemeinschaft her kenne, durch mein Auslegen des Flyers über die Veranstaltungen des Sophianeums bei der letzten Betrachtung am 15. September, kurzfristig entschlossen hat, mitzufahren. Die anderen Reiseteilnehmer waren mir weniger bekannt. Vielleicht sehe ich manche am kommenden Samstag (29.09.2018) zu meinem Vortrag zum Thema „Michael in der Kunstgeschichte und Literatur“ wieder.
Während der Fahrt nach München – über Nürnberg  und Ingolstadt – las ich weiter in Peter Selgs Buch, und zwar das Kapitel über den Aufenthalt der Freunde Hans Scholl und Alexander Schmorell in Russland (S 85 – S 101). Bei einer Raststätte kaufte ich den neuen Spiegel (Nr. 39 vom 22. September 2018), der zu Hans Scholls hundertstem Geburtstag ein langes Interview mit Traute Lafrenz brachte, die 1942, einen Sommer lang, die Freundin des 23Jährigen war, der zusammen mit seiner Schwester und Christoph Probst am 22. Februar 1943 sein blutjunges Leben für ein besseres, ein geistiges Deutschland opferte.
Ich erfahre auch, dass seine Schwester Elisabeth (Hartnagel) hochbetagt in einem Stuttgarter Seniorenheim lebt. Renate hat sie öfters besucht und viel mit ihr gesprochen. Überhaupt hat Renate viele lebende Freunde und Bekannte der „Weißen Rose“ noch persönlich kennen gelernt, seitdem sie sich seit nunmehr 28 Jahren mit der Widerstandsbewegung beschäftigt. 
Was mich immer wieder besonders berührt, ist, dass Hans Scholl im gleichen Jahr wie mein Vater geboren wurde, im Jahre 1918.
Wenn ich in seinen Tagebüchern lese, so erinnere ich mich bisweilen an meinen Vater, der genauso jung war, als er für Adolf Hitler in den Krieg ziehen musste. Die beiden sind also in dem Jahr geboren, als der Erste Weltkrieg zu Ende ging und waren gerade einmal 21 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Mein Vater war bei der Kriegsmarine unter anderem auf dem Begleitschiff der „Wilhelm Gustloff“ und erlebte den Untergang des mit über 10000 Flüchtlingen aus dem Osten überbesetzten Schiffes am 30. Januar 1945 mit. Zuvor war der in Schlesien Geborene eine Zeitlang in der Bretagne stationiert, wo er in dem Chateau einer französischen Gräfin in Lorient wohnte, wovon er immer wieder mit warmer Stimme erzählte.
Ost und West spielten also in seinem Leben eine gewisse Rolle.
Auch Hans Graf war während des Zweiten Weltkrieges als angehender Arzt sowohl in Frankreich, als auch in Russland als Soldat. Er beschäftigte sich dabei vor allem mit der Kultur und Literatur der beiden feindlichen Nachbarländer und hatte immer auch Kontakt zu den Menschen. Durch seinen Freund Alexander Schmorell konnte er sich in Russland, wohin er  am 23. Juli 1942 zum Lazarettdienst aufbrechen musste, mit den armen russischen Bauern gut verständigen.
Diese tiefe Beziehung eines mitteleuropäischen Menschen zu den beiden so unterschiedlichen und doch wieder verwandten Kulturen kenne ich durch meine eigene Biographie. Durch meine erste Frau habe ich die romanische Seele, durch meine russische Freundin die slawische Seele kennen gelernt.
Unser erstes Ziel in München ist der Lichthof der Ludwig-Maximilian-Universität an der Leopoldstraße. Dort stellen Renate und Hans-Jürgen Deck direkt unter der gläsernen Kuppel hundert von Renate gestrickte weiße Rosen in einer Spirale und hundert echte weiße Rosen in einem Kreis auf, so dass sie das genau im Zentrum in den Boden eingelassene bedrohliche Haupt der Medusa bedecken. Während dieser „Performance“ lesen die 35 Reiseteilnehmer im Kreis stehend aus dem 31. Gesang der „Göttlichen Komödie“ von Dante vor, in dem auch von einer weißen Rose die Rede ist, jeder jeweils eine dreizeilige Strophe in deutscher Übersetzung. Diese „heilige Handlung“ ist noch einmal ein Akt, durch den Menschen symbolisch das „Böse“ besiegen. Hier erscheint das Böse als das von Schlangen umgebene Haupt der Medusa.
Dass die drei Freunde, die am 18. Februar 1943 an diesem Ort Flugblätter fallen ließen und kurz darauf verhaftet, verhört und zum Tode verurteilt wurden, ihre eigenen Häupter lassen mussten, wird den hier Versammelten Gott sei Dank nicht widerfahren. Aber alle sind mit großem Ernst dabei und vollziehen eine Art Ritual, durch welches sie das in unserer Zeit wieder sein Haupt erhebende Böse bannen möchten.[2]
In einer gewissen Weise stellt Renate Deck unsere Aktion auch unter das Motto „Wir sind mehr“, das nach den Ereignissen von Chemnitz von vielen gutmeinenden Menschen aufgegriffen wird. Mit diesem Motto bin ich allerdings nicht ganz einverstanden, denn die wirklich mutigen Streiter gegen das machtvolle Böse sind immer in der Minderheit gewesen.
Das betont auch Traute Lafrenz in dem Spiegelinterview, wenn sie sich noch mit 99 Jahren verwundert und sagt: „Wir hatten überhaupt keine Ahnung, wie allein wir waren.“
Im Grunde bestand der engere Kreis der „Weißen Rose“ nur aus sechs Personen.
In der Mittagspause gehen die Reiseteilnehmer mit den Decks in den nahe gelegenen Englischen Garten, in dem sich Sophie Scholl, die sehr naturverbunden war, während ihrer Zeit in München auch gerne aufgehalten hat. Lena und ich verbringen die Mittagspause in der Innenstadt, indem wir die Leopoldstraße und die Ludwigsstraße über den Odeonsplatz und die Feldherrnhalle ins Zentrum zum Marienplatz einschlagen. Unzählige junge und ältere Menschen treffen wir, die in schmucken Dirndls oder Lederhosen durch die Stadt in Richtung Theresien-Wiese „pilgern“, wo ausgerechnet heute, an Hans Scholls Geburtstag, das Oktoberfest eröffnet wird.
Hier erleben wir sozusagen „hautnah“, wohin die Mehrheit strebt: Nicht zu Hans und Sophie Scholl, sondern auf den Rummelplatz und zum Bierzelt, wo sie für heuer 13 Euro ihre Maß Bier trinken. Wir sehen Menschen aus allen Nationen und hören mehr Russisch, Englisch oder Chinesisch als Deutsch neben und hinter uns. Ich vermute einmal, die „Mehrheit“ weiß nicht einmal, wer Hans Scholl war.
Ich persönlich wäre lieber gegen den Strom in die entgegengesetzte Richtung gegangen, und zwar an die Stelle, wo Rudolf Steiner, der im Jahre 1907 in einem Haus in München beim 4. Theosophischen Kongress sieben Siegel schuf und dort zwischen 1910 und 1913 die vier ersten Mysteriendramen aufführte, am westlichen Ende der Leopoldstraße bei der „Münchner Freiheit“ eigentlich das Goetheanum geplant hatte, das damals noch den Namen „Johannesbau“ trug. Aber Lena wollte die schönen Münchner Geschäfte in der Innenstadt sehen, und wir wollten ja das Geschenk für Dorothea kaufen, die am folgenden Tag ihren 70. Geburtstag feierte.
Unsere Reise endet vor den Gräbern der drei Märtyrer auf dem Friedhof im Perlacher Forst, wo wir die Hälfte der mitgebrachten weißen Rosen niederlegen. Wie auf Golgatha stehen drei schwarze hölzerne Kreuze auf dem Grab, in dem Hans und Sophie Scholl zwischen ihren beiden Eltern liegen. Pfarrer Glück liest noch einmal die Ansprache vor, die der Geistliche einst, umgeben von Mitgliedern der Gesrtapo, während der Beerdigung gehalten hat und Pfarrerin Glück die wunderbare Stelle aus dem Ersten Korintherbrief, in dem es um die Liebe geht. Zum Abschluss sprechen wir im Wechsel den 90. Psalm. Diese beiden Bibelstellen hatten sich die zum Tode Verurteilten gewünscht.



Da Alexander Schmorell, der am 4. Februar 2012 von der Russisch-Orthodoxen Kirche heiliggesprochen wurde, etwas weiter entfernt seine letzte Ruhestätte fand, suchen wir auch diese noch auf. Hier spricht Pfarrerin Glück einen Segen, bei dem sich alle Reiseteilnehmer an der Hand halten.



Schließlich werfen wir noch einen Blick in die beim Friedhof stehende orthodoxe Kirche mit ihrem Bilderreichtum. Wieder ist Gottesdienst. Ich habe noch nie eine orthodoxe Kirche erlebt, in der nicht in irgendeiner Form Gottesdienst gewesen wäre und sei es nur in Form einer Privatmesse in einer der Seitenkapelle vor einer bestimmten Ikone.
Als wir alle wieder im Bus sitzen und ich eine Tagebuchstelle Hans Scholls aus Peter Selgs Russlandkapitel vorlesen will und dafür vorne beim Busfahrer Platz nehme, frage ich, ob alle da sind. Bürgermeister Voss meint, ich solle doch besser fragen, ob jeder seinen Nachbarn hätte. Da erklingt es aus der Mitte des Busses, wo wir auf der Fahrerseite saßen: „Es fehlt noch das russische Ehepaar!“ Damit waren Lena und ich gemeint. Ich saß vorne und Lena war, wie ich anschließend erfahre, noch in der Kirche mit der Ikonenverkäuferin in ein Gespräch vertieft, das die beiden natürlich auf Russisch führten.
Bevor wir losfuhren, las ich in Erinnerung an das unermessliche Leid, das Deutsche über das russische Volk gebracht haben und im Gedenken an jenen russischen Soldaten, den Hans Scholl und Alexander Schmorell begraben hatten, den erschütternden Tagebucheintrag, den Hans Scholl mitten in Russland am 28. August 1942, an Goethes Geburtstag, gemacht hatte, vor:
„Neulich haben Alex und ich einen Russen begraben. Er muss schon lange draußen gelegen haben. Der Kopf war vom Rumpf getrennt und die Weichteile schon verwest. Aus den halbverfaulten Kleidern krochen Würmer. Wir hatten das Grab schon fast zugeschüttet mit Erde, da fanden wir noch einen Arm. Zum Schluss haben wir ein russisches Kreuz gezimmert und am Kopfende in die Ecke gesteckt. Jetzt hat seine Seele Ruhe.
Die Kunst soll eine erhöhte Heiterkeit in die Welt tragen, hat Hubert heute zitiert. Ach, ich bin müde. Ich finde diese Kunst im Augenblick nicht mehr.
Wo ist sie jetzt? Bei Dostojewskij nicht. Hier nicht. Im Bunker nicht und nicht draußen in der Mondnacht. Ich habe keine Musik bei mir. Ich höre nur Tag und Nacht das Stöhnen der Gequälten, wenn ich träume, die Seufzer der Verlassenen, und wenn ich nachdenke, enden meine Gedanken in Agonie.
Wenn Christus nicht gelebt hätte und nicht gestorben wäre, gäbe es wirklich keinen Ausweg. Dann müsste alles Weinen grauenhaft sinnlos sein. Dann müsste man mit dem Kopf gegen die nächste Mauer rennen und sich den Schädel zertrümmern. So aber nicht.“
Bei der Weiterfahrt fragt mich Lena, was „enthaupten“ bedeutet. Sie kennt das deutsche Wort „Kopf“, aber nicht das Wort „Haupt“. Ich erkläre ihr, so gut ich kann, den Unterschied: Auch Tiere haben einen Kopf, aber nur der Mensch besitzt ein Haupt.
Ein Teilnehmer fragt mich nach dem Text, den ich verlesen habe. Es ist Pfarrer Münch. Er fotografiert ihn aus dem Buch.
Pfarrer Münch ergreift später das Mikrophon und rezitiert in metrisch einwandfreier Weise eine lange Stelle aus Hölderlins Gedicht „Brot und Wein“. Das ist als Vorbereitung auf die abschließende Zeremonie gedacht, die wir an einer Raststätte an der A 7 in der Nähe der Lone vollziehen. Decks haben Rotwein, der in Forchtenberg gekeltert wurde, und Brot, das in Forchtenberg gebacken wurde, mitgebracht, und so nehmen wir an diesem sonnigen Spätnachmittag auf einem Autobahnrastplatz Wein und Brot zu uns und denken an Hans Scholl, der am 22. September 1918 in Ingersheim bei Crailsheim an der Jagst, und an seine Schwester Sophie Scholl, die am 9. Mai 1921 in Forchtenberg am Kocher geboren wurden.
So endet der Tag, dessen Höhepunkt die künstlerische „Performance“ im Lichthof der LMU war, mit einem religiösen Akt auf einer Autobahnraststätte. Das erinnert mich an den Ausspruch von Joseph Beuys, der 1982 in einem Interview anlässlich einer mehrteiligen Artikelserie über „Die Anthroposophen“ dem Redakteur Peter Brügge einmal sagte: „Die Mysterien finden heute nicht im Goetheanum, sondern  im Hauptbahnhof statt“.
Als wir gegen 20.30 Uhr in Wolpertshausen, wo wir am Morgen um 6.30 Uhr gestartet waren, eintreffen, regnet es. Jeder Reiseteilnehmer bekommt noch eine weiße Rose in die Hand und so trennt sich die Gesellschaft, die diesen Tag dem Gedenken an eine kleine Gruppe von tapferen jungen Menschen gewidmet hat, die unter dem Namen „Die Weiße Rose“ in die Geschichte eingegangen ist und Gott sei Dank ein gewisses Gegengewicht zu der Barbarei bildet, zu der sich die Masse der Deutschen hinreißen ließ.



[1] So wie sich Renate Deck seit Jahren für die Geschwister Scholl einsetzt, so hat sich Dorothea Demmel jahrelang mit einer anderen bekannten Hohenloherin beschäftigt und im Jahre 2013 unter dem Titel „Die Frau mit den bunten Flügeln“ eine hervorragende Biographie über Agnes Günther („Die Heilige und ihr Narr“) veröffentlicht.
[2] Traute Lorenz stellt sich ebenfalls die Frage und sagt in dem Spiegel-Interview: „Kehrt nicht auch das Böse, wenn man es lässt, eines Tages zurück?“ Der Spiegel wählte diese Frage als Überschrift über das Interview.

Mittwoch, 5. September 2018

Heilig-Blut-Tradition und Lichtwunder im Taubertal - Besuch in Rothenburg und Creglingen


Für Dienstagnachmittag (28. August 2018) hatte ich mich mit Freunden aus dem Heidenheimer Lesekreis, bei dem ich einmal mitgemacht habe, in Rothenburg ob der Tauber verabredet.
So fuhr ich also nach meinem Deutschkurs in Crailsheim in die Stadt an der Tauber, wo ich gegen 12.30 Uhr ankam. Ich lief, nachdem ich mein Auto auf einem Parkplatz abgestellt hatte, zügig auf der zentralen Fußgängerzone ins Stadtzentrum. Dabei erinnerte ich mich daran, dass ich vor ein paar Jahren in einem Geschäft in Rothenburg ein Schweizer Messer gekauft hatte, das ich jedoch beim Holzspalten geschrottet hatte. So kaufte ich mir für 33,- Euro ein neues.
Anschließend ging ich weiter bis zur Jakobuskirche, wo ich nach der Gruppe aus Heidenheim fragte. Sie war noch nicht da gewesen. So hinterließ ich bei der Frau an der Kasse meine Handy-Nummer und ging in das nahe gelegene Gasthaus „Küchenmeister“, wo ich mich so auf die Terrasse setzte, dass ich den Eingang zur Kirche überblicken konnte.
Ich bestellte mir fränkische Würstchen mit Sauerkraut und Kartoffeln und kam mit einem Ulmer Privatier ins Gespräch, der mit seiner chinesischen Frau am Nachbartisch saß.



Mein Blick ging genau auf den am Ostchor stehenden spätgotischen Christus, der das Blut auf seiner Seite in einem Kelch sammelte. Später treffe ich auf dieses Motiv noch öfters, allerdings meist ohne den Kelch. Mir war dieser „Blutchristus“ bei meinen früheren Besuchen in Rothenburg nie aufgefallen. Heute sehe ich ihn zum ersten Mal bewusst und denke natürlich an den „Heilig-Blut-Altar" von Tilman Riemenschneider, der im Westchor der Jakobuskirche steht.
Zuerst schaue ich mir aber die anderen Kunstwerke im Schiff der Jakobuskirche an, vor allem aber den Herlin-Altar im Ostchor. Er wird „Zwölfboten-Altar“ genannt, weil auf der Predella die zwölf Apostel mit Christus und ihren Attributen dargestellt sind.



Ich sehe wieder Bartholomäus mit dem Messer, aber auch Simon mit der Säge. Petrus wird mit einer Brille gezeigt.



Der Nördlinger Malermeister hat auf der Vorderseite acht Tafeln mit der Geburtsgeschichte geschaffen: Verkündigung, Heimsuchung, Anbetung der Hirten nach Lukas und Beschneidung auf dem linken, Anbetung der Könige nach Matthäus, Darstellung im Tempel und Marientod auf dem rechten Flügel.
Im Schrein erkennt man unter dem Kreuz sechs als Vollplastiken gestaltete Heilige (von links nach rechts): Elisabeth von Thüringen, Apostel Jakobus der Ältere und Maria links vom Kreuz, Johannes der Evangelist, der Heilige Leonhard und der Heilige Antonius rechts vom Kreuz.



Interessant für mich ist, dass es in diesem Marienzyklus ähnlich wie in dem der Haller Urbankirche auch die relativ selten dargestellte Szene der Beschneidung gibt. Das ist offenbar ein Hinweis auf Antwerpen, wo die Heilig-Blut-Reliquie, die durch diesen Akt entstanden war, traditionsgemäß bis zur Zerstörung der Kathedrale aufbewahrt wurde.  



Auf der Rückseite des Hauptaltars finden sich Darstellungen aus der Jakobuslegende wie zum Beispiel das Hühnerwunder.
Jakobus Major steht auch einmal als Statue im Kirchenschiff. Es gibt im nördlichen Seitenschiff auch zwei Fenster, die die beiden Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon zeigen.



Ganz oben im Gesprenge des Riemenschneideraltars im erhöhten Westchor sehe ich wieder die Christusfigur mit der offenen Seite. Überhaupt ist dieser Rothenburger Heiligblut-Altar, der im Mittelschrein eine äußerst lebendige Abendmahlsszene zeigt, ein großartiges Kunstwerk. Christus reicht Judas, der genau in der Mitte steht, den Bissen, ohne ihn anzuschauen, während der bartlose Jünger, den der Herr lieb hatte, links von Judas ganz vorne am Tisch sitzt, genau Christus gegenüber im Vordergrund. Er war es, der auf Bitten des Petrus Jesus gefragt hatte, wer den Herrn verraten würde.



Auf dem linken Seitenflügel sieht man den Einzug in Jerusalem, auf dem rechten die Ölbergszene, im Gegensatz zu den Vollplastiken im Mittelschrein als Reliefdarstellungen geschnitzt. In der zweiten Etage halten zwei Engel ein Kreuz mit der Heilig-Blut-Reliquie. Links steht Maria, deren Gesicht der Maria im Marienaltar von Creglingen zum Verwechseln ähnlich sieht, rechts ein Engel mit ausgebreitetem und nach oben weisendem linken Flügel, dessen Gesicht viel Ähnlichkeit mit dem des Evangelisten Johannes hat. Auf der dritten und letzten Etage steht auf einem Postament , wie bereits erwähnt, der dornenbekrönte Christus, der auf seine offene Seite zeigt, aus der das heilbringende Blut hervorquillt.
Es wird mir klar, dass in der Staufergründung Rothenburg eine Gralstradition lebendig war, die allerdings später durch die Feierlichkeiten um den Meistertrunk des Bürgermeisters Nisch während der Belagerung der Stadt im 30-jährigen Krieg verdeckt wurde und heute vergessen ist. Damals war Rothenburg schon evangelisch.
Die nächste Kirche, die ich besuche, ist die Franziskanerkirche.
Das Rothenburger Franziskanerkloster wurde 1281 von zwei Ordensbrüdern aus Schwäbisch Hall an der Stelle gegründet, wo damals neben einer Quelle und einer Linde eine kleine, dem Jakobus geweihte Kapelle stand. Auch die Barfüßerniederlassung in Hall, die beim Brand des Jahres 1728 vernichtet wurde, war ein Franziskanerkloster. Die Klosterkirche Sankt Jakobus stand an der Stelle, wo heute das Haller Rathaus steht.
An einer Tafel lese ich, dass Jorge Bergoglio im Jahre 1986 einige Monate in Rothenburg gewohnt hat, um hier im damals unmittelbar bei der Franziskanerkirche existierenden Goethe-Institut (heute ist in dem Gebäude eine Montessori-Schule) Deutsch zu lernen.



Mit der Dame, die an diesem Nachmittag Kirchenaufsicht hat, komme ich ins Gespräch und sie ist ebenfalls der Meinung, dass der Argentinier vielleicht auch deshalb als Papst den Namen „Franziskus“ angenommen hat, weil er hier in Deutschland gleich neben einer Franziskuskirche gelebt hat.
In der Kirche stehen vor dem noch erhaltenen Lettner zwei Steinplastiken rechts und links des Durchgangs: rechts erkenne ich wieder den Patron der Stadt und der Pilger, den Apostel Jakobus Major, links den Paderborner Heiligen Liborius, was mich ein wenig verwundert. Ich kenne diesen Heiligen nur aus meiner Zeit in Ostwestfalen, als ich Lehrer in der Waldorfschule Schloss Hamborn war.



Von Sankt Franziskus gehe ich die Straße weiter und verlasse die Altstadt, die auch heute wieder von unzähligen Touristen aus der ganzen Welt bevölkert ist, durch ein Stadttor. So gelange ich zur Blasius-Kapelle, die auf den Resten der einstigen staufischen Pfalz steht. Auf dem jetzt leeren Platz der ehemaligen Burg entdecke ich eine Staufer-Stele, wie sie seit einigen Jahren an allen ehemals staufischen Orten steht.



Dabei begegnet mir auch König Konrad III. wieder, den ich erst vor kurzem im Münster von Schwarzrheindorf „angetroffen“ hatte. Dieser erste Stauferkönig, so lese ich auf der Stele, erhielt im Jahre 1142 vom Würzburger Stift Neumünster den Platz, auf dem er dann die „rote Burg“ bauen lassen konnte. In staufischer Zeit entstand dann in der Nähe der Burg auf dem Felsen über der Tauber die Civitas.



Auch das Wappen der Großcomburg entdecke ich an der Außenfassade des Stadttores wieder, den Löwen mit dem Sparren im Maul. Jetzt erinnerte ich mich, dass die Brüder, welche eine erste Burg und ein Kloster auf dem Comberg bei Hall gegründet hatten, aus Rothenburg stammten. Vielleicht brachten sie von daher auch die Heilig-Blut-Verehrung, sprich die Gralstradition, mit. Dem müsste ich weiter nachforschen, was ich aber jetzt mangels Zeit nicht kann.



Ich verlasse die Stadt auf der gleichen Straße, auf der ich gekommen war. Dabei werfe ich noch einen Blick in die Heilig-Geist-Kirche. Ich bewundere das gotische Sakramentshäuschen, auf dem wieder der „Schmerzensmann“ steht. Auch hier zeigt er, diesmal mit beiden Händen, auf seine Wunde. Das Besondere ist, dass er auf einem abgeschlagenen Haupt steht. Ich muss gleich an das Haupt Johannes des Täufers denken. Die Tür zum Allerheiligsten wird umrahmt von einer „Verkündigungsszene“: der Engel Gabriel kommt von links, Maria mit einem Buch in den Händen steht rechts.



Ich hole das Auto und fahre weiter nach Creglingen, das etwa 20 Kilometer von Rothenburg entfernt liegt. Die Herrgottskirche steht bei einem Friedhof in einem Seitental der Tauber. Ich komme etwa um 16.15 Uhr an.
Ich wusste schon, dass jedes Jahr in der Zeit zwischen dem 15. (Mariä Himmelfahrt) und dem 31. August das sogenannte „Lichtwunder“ stattfindet. Zwischen 16.30 und 17.30 wandert das Sonnenlicht über das Gesicht der in den Himmel auffahrenden Maria von Tilman Riemenschneider. Ich bleibe also, zusammen mit ungefähr sieben weiteren Zuschauern, sitzen und beobachte das Geschehen. Zuerst wird das Relief der Verkündigungsdarstellung auf dem linken Seitenflügel erleuchtet, dann die ersten drei von sechs Aposteln links von Maria. Die sechs anderen Apostel rechts von Maria bleiben im Schatten. Schließlich erleuchtet das Abendsonnenlicht zärtlich das wunderschöne liebliche Gesicht Marias selbst. Es ist wirklich berührend!



Diese stille Stunde ist wie ein Gottesdienst. Alle Anwesenden sitzen ruhig und andächtig auf den Bänken. Nur ab und zu steht einer ruhig auf und fotografiert den Dialog der Gottesmutter mit der Sonne.



In der Herrgottskirche gibt es auch einen Marienaltar, dessen Szenen in manchen Details denjenigen auf dem Riedener Altar, den man im Hällisch-Fränkischen Museum bewundern kann, entsprechen. So gibt es eine Darstellung der Verlobung Mariens und eine Geburtsdarstellung, die beide mit Sicherheit aus dem gleichen Antwerpener Atelier stammen wie die Darstellung auf dem Riedener Altar. Wieder weisen die Altartafeln auf die flämische Hauptstadt.



Als ich wieder zu Hause bin, bekomme ich endlich einen Anruf von meinem Freund aus Heidenheim, den ich mehrmals vergeblich zu erreichen versucht hatte. Ich erfahre, dass die Gruppe die Reise genau im umgekehrten Sinne gemacht hat: sie waren zuerst in Creglingen und dann in Rothenburg. Dort haben sie von der Kassiererin meine Nachricht erhalten, leider viel zu spät.