Vor knapp einem Jahr, am 29.
September 2017, lernte ich Renate und Hans-Jürgen Deck bei meiner Haller Stadtführung
am Michaelstag kennen. Als wir nach dem Rundgang, der uns vom jüdischen Betsaal
im Hällisch-Fränkischen Museum zum Stadtbrunnen führte, noch mit Klaus und
Dorothea Demmel[1]
zusammen saßen, erfuhr ich, dass sich Dorotheas Freundin Renate mit vielen
Themen beschäftigt, die auch mich interessieren. Renate ist Künstlerin. Wir
fühlten uns sofort verwandt.
Durch Renate bin ich zu Hans und
Sophie Scholl gekommen, die mir zwar schon lange bekannt waren, mit denen ich
mich aber erst im Zusammenhang mit der gestrigen Reise und dem hundertsten
Geburtstag von Hans Scholl eingehender beschäftigt habe. Dabei half und hilft mir
das Buch von Peter Selg „Der geistige Weg von Hans und Sophie Scholl“ (2.
Korrigierte Auflage, Verlag am Goetheanum 2007) sehr. Ich fühle mich mit den
beiden gebildeten und sensiblen Geschwistern auch deshalb besonders verbunden,
weil sie – wie ich – Tagebuch schrieben.
Renate und Hans-Jürgen haben die
Reise nach München organisiert.
Es sind 35 Interessenten
mitgekommen, also ein Bus voll, darunter Herr Michael Foss, der junge Bürgermeister von
Forchtenberg, und seine Frau. Das empfand ich als eine besonders bemerkenswerte
Reverenz vor Hans Scholl, denn sein
Vater Robert Scholl (1891 - 1973) war zehn Jahre lang, von 1920 bis 1930, selbst Bürgermeister der kleinen
Kochergemeinde. Außerdem fuhren zwei evangelische Pfarrer, Herr Glück und Herr
Münch, und ihre Ehefrauen mit. Besonders hat mich gefreut, dass sich auch eine
Frau, die ich von der Christengemeinschaft her kenne, durch mein Auslegen des
Flyers über die Veranstaltungen des Sophianeums bei der letzten Betrachtung am
15. September, kurzfristig entschlossen hat, mitzufahren. Die anderen
Reiseteilnehmer waren mir weniger bekannt. Vielleicht sehe ich manche am
kommenden Samstag (29.09.2018) zu meinem Vortrag zum Thema „Michael in der
Kunstgeschichte und Literatur“ wieder.
Während der Fahrt nach München –
über Nürnberg und Ingolstadt – las ich
weiter in Peter Selgs Buch, und zwar das Kapitel über den Aufenthalt der
Freunde Hans Scholl und Alexander Schmorell in Russland (S 85 – S 101). Bei
einer Raststätte kaufte ich den neuen Spiegel (Nr. 39 vom 22. September 2018),
der zu Hans Scholls hundertstem Geburtstag ein langes Interview mit Traute
Lafrenz brachte, die 1942, einen Sommer lang, die Freundin des 23Jährigen war,
der zusammen mit seiner Schwester und Christoph Probst am 22. Februar 1943 sein
blutjunges Leben für ein besseres, ein geistiges Deutschland opferte.
Ich erfahre auch, dass seine
Schwester Elisabeth (Hartnagel) hochbetagt in einem Stuttgarter Seniorenheim
lebt. Renate hat sie öfters besucht und viel mit ihr gesprochen. Überhaupt hat
Renate viele lebende Freunde und Bekannte der „Weißen Rose“ noch persönlich
kennen gelernt, seitdem sie sich seit nunmehr 28 Jahren mit der
Widerstandsbewegung beschäftigt.
Was mich immer wieder besonders
berührt, ist, dass Hans Scholl im gleichen Jahr wie mein Vater geboren wurde, im Jahre 1918.
Wenn ich in seinen Tagebüchern
lese, so erinnere ich mich bisweilen an meinen Vater, der genauso jung war, als
er für Adolf Hitler in den Krieg ziehen musste. Die beiden sind also in dem
Jahr geboren, als der Erste Weltkrieg zu Ende ging und waren gerade einmal 21
Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Mein Vater war bei der
Kriegsmarine unter anderem auf dem Begleitschiff der „Wilhelm Gustloff“ und
erlebte den Untergang des mit über 10000 Flüchtlingen aus dem Osten
überbesetzten Schiffes am 30. Januar 1945 mit. Zuvor war der in Schlesien
Geborene eine Zeitlang in der Bretagne stationiert, wo er in dem Chateau einer
französischen Gräfin in Lorient wohnte, wovon er immer wieder mit warmer Stimme
erzählte.
Ost und West spielten also in
seinem Leben eine gewisse Rolle.
Auch Hans Graf war während des
Zweiten Weltkrieges als angehender Arzt sowohl in Frankreich, als auch in
Russland als Soldat. Er beschäftigte sich dabei vor allem mit der Kultur und
Literatur der beiden feindlichen Nachbarländer und hatte immer auch Kontakt zu
den Menschen. Durch seinen Freund Alexander Schmorell konnte er sich in
Russland, wohin er am 23. Juli 1942 zum Lazarettdienst aufbrechen musste, mit
den armen russischen Bauern gut verständigen.
Diese tiefe Beziehung eines
mitteleuropäischen Menschen zu den beiden so unterschiedlichen und doch wieder
verwandten Kulturen kenne ich durch meine eigene Biographie. Durch meine erste
Frau habe ich die romanische Seele, durch meine russische Freundin die
slawische Seele kennen gelernt.
Unser erstes Ziel in München ist
der Lichthof der Ludwig-Maximilian-Universität an der Leopoldstraße. Dort
stellen Renate und Hans-Jürgen Deck direkt unter der gläsernen Kuppel hundert
von Renate gestrickte weiße Rosen in einer Spirale und hundert echte weiße
Rosen in einem Kreis auf, so dass sie das genau im Zentrum in den Boden
eingelassene bedrohliche Haupt der Medusa bedecken. Während dieser
„Performance“ lesen die 35 Reiseteilnehmer im Kreis stehend aus dem 31. Gesang
der „Göttlichen Komödie“ von Dante vor, in dem auch von einer weißen Rose die
Rede ist, jeder jeweils eine dreizeilige Strophe in deutscher Übersetzung.
Diese „heilige Handlung“ ist noch einmal ein Akt, durch den Menschen symbolisch
das „Böse“ besiegen. Hier erscheint das Böse als das von Schlangen umgebene
Haupt der Medusa.
Dass die drei Freunde, die am 18.
Februar 1943 an diesem Ort Flugblätter fallen ließen und kurz darauf verhaftet,
verhört und zum Tode verurteilt wurden, ihre eigenen Häupter lassen mussten,
wird den hier Versammelten Gott sei Dank nicht widerfahren. Aber alle sind mit
großem Ernst dabei und vollziehen eine Art Ritual, durch welches sie das in unserer
Zeit wieder sein Haupt erhebende Böse bannen möchten.[2]
In einer gewissen Weise stellt
Renate Deck unsere Aktion auch unter das Motto „Wir sind mehr“, das nach den
Ereignissen von Chemnitz von vielen gutmeinenden Menschen aufgegriffen wird.
Mit diesem Motto bin ich allerdings nicht ganz einverstanden, denn die wirklich
mutigen Streiter gegen das machtvolle Böse sind immer in der Minderheit
gewesen.
Das betont auch Traute Lafrenz in
dem Spiegelinterview, wenn sie sich noch mit 99 Jahren verwundert und sagt:
„Wir hatten überhaupt keine Ahnung, wie allein wir waren.“
Im Grunde bestand der engere
Kreis der „Weißen Rose“ nur aus sechs Personen.
In der Mittagspause gehen die
Reiseteilnehmer mit den Decks in den nahe gelegenen Englischen Garten, in dem
sich Sophie Scholl, die sehr naturverbunden war, während ihrer Zeit in München
auch gerne aufgehalten hat. Lena und ich verbringen die Mittagspause in der
Innenstadt, indem wir die Leopoldstraße und die Ludwigsstraße über den
Odeonsplatz und die Feldherrnhalle ins Zentrum zum Marienplatz einschlagen.
Unzählige junge und ältere Menschen treffen wir, die in schmucken Dirndls oder
Lederhosen durch die Stadt in Richtung Theresien-Wiese „pilgern“, wo
ausgerechnet heute, an Hans Scholls Geburtstag, das Oktoberfest eröffnet wird.
Hier erleben wir sozusagen
„hautnah“, wohin die Mehrheit strebt: Nicht zu Hans und Sophie Scholl, sondern
auf den Rummelplatz und zum Bierzelt, wo sie für heuer 13 Euro ihre Maß Bier
trinken. Wir sehen Menschen aus allen Nationen und hören mehr Russisch,
Englisch oder Chinesisch als Deutsch neben und hinter uns. Ich vermute einmal,
die „Mehrheit“ weiß nicht einmal, wer Hans Scholl war.
Ich persönlich wäre lieber gegen
den Strom in die entgegengesetzte Richtung gegangen, und zwar an die Stelle, wo
Rudolf Steiner, der im Jahre 1907 in einem Haus in München beim 4.
Theosophischen Kongress sieben Siegel schuf und dort zwischen 1910 und 1913 die
vier ersten Mysteriendramen aufführte, am westlichen Ende der Leopoldstraße bei
der „Münchner Freiheit“ eigentlich das Goetheanum geplant hatte, das damals
noch den Namen „Johannesbau“ trug. Aber Lena wollte die schönen Münchner
Geschäfte in der Innenstadt sehen, und wir wollten ja das Geschenk für Dorothea
kaufen, die am folgenden Tag ihren 70. Geburtstag feierte.
Unsere Reise endet vor den
Gräbern der drei Märtyrer auf dem Friedhof im Perlacher Forst, wo wir die
Hälfte der mitgebrachten weißen Rosen niederlegen. Wie auf Golgatha stehen drei
schwarze hölzerne Kreuze auf dem Grab, in dem Hans und Sophie Scholl zwischen
ihren beiden Eltern liegen. Pfarrer Glück liest noch einmal die Ansprache vor,
die der Geistliche einst, umgeben von Mitgliedern der Gesrtapo, während der Beerdigung gehalten hat und Pfarrerin Glück die
wunderbare Stelle aus dem Ersten Korintherbrief, in dem es um die Liebe geht. Zum
Abschluss sprechen wir im Wechsel den 90. Psalm. Diese beiden Bibelstellen
hatten sich die zum Tode Verurteilten gewünscht.
Da Alexander Schmorell, der am 4.
Februar 2012 von der Russisch-Orthodoxen Kirche heiliggesprochen wurde, etwas
weiter entfernt seine letzte Ruhestätte fand, suchen wir auch diese noch auf.
Hier spricht Pfarrerin Glück einen Segen, bei dem sich alle Reiseteilnehmer an
der Hand halten.
Schließlich werfen wir noch einen
Blick in die beim Friedhof stehende orthodoxe Kirche mit ihrem Bilderreichtum.
Wieder ist Gottesdienst. Ich habe noch nie eine orthodoxe Kirche erlebt, in der
nicht in irgendeiner Form Gottesdienst gewesen wäre und sei es nur in Form
einer Privatmesse in einer der Seitenkapelle vor einer bestimmten Ikone.
Als wir alle wieder im Bus sitzen
und ich eine Tagebuchstelle Hans Scholls aus Peter Selgs Russlandkapitel
vorlesen will und dafür vorne beim Busfahrer Platz nehme, frage ich, ob alle da
sind. Bürgermeister Voss meint, ich solle doch besser fragen, ob jeder seinen
Nachbarn hätte. Da erklingt es aus der Mitte des Busses, wo wir auf der
Fahrerseite saßen: „Es fehlt noch das russische Ehepaar!“ Damit waren Lena und
ich gemeint. Ich saß vorne und Lena war, wie ich anschließend erfahre, noch in
der Kirche mit der Ikonenverkäuferin in ein Gespräch vertieft, das die beiden
natürlich auf Russisch führten.
Bevor wir losfuhren, las ich in
Erinnerung an das unermessliche Leid, das Deutsche über das russische Volk
gebracht haben und im Gedenken an jenen russischen Soldaten, den Hans Scholl
und Alexander Schmorell begraben hatten, den erschütternden Tagebucheintrag,
den Hans Scholl mitten in Russland am 28. August 1942, an Goethes Geburtstag,
gemacht hatte, vor:
„Neulich haben Alex und ich einen
Russen begraben. Er muss schon lange draußen gelegen haben. Der Kopf war vom
Rumpf getrennt und die Weichteile schon verwest. Aus den halbverfaulten
Kleidern krochen Würmer. Wir hatten das Grab schon fast zugeschüttet mit Erde,
da fanden wir noch einen Arm. Zum Schluss haben wir ein russisches Kreuz
gezimmert und am Kopfende in die Ecke gesteckt. Jetzt hat seine Seele Ruhe.
Die Kunst soll eine erhöhte
Heiterkeit in die Welt tragen, hat Hubert heute zitiert. Ach, ich bin müde. Ich
finde diese Kunst im Augenblick nicht mehr.
Wo ist sie jetzt? Bei
Dostojewskij nicht. Hier nicht. Im Bunker nicht und nicht draußen in der
Mondnacht. Ich habe keine Musik bei mir. Ich höre nur Tag und Nacht das Stöhnen
der Gequälten, wenn ich träume, die Seufzer der Verlassenen, und wenn ich
nachdenke, enden meine Gedanken in Agonie.
Wenn Christus nicht gelebt hätte
und nicht gestorben wäre, gäbe es wirklich keinen Ausweg. Dann müsste alles
Weinen grauenhaft sinnlos sein. Dann müsste man mit dem Kopf gegen die nächste
Mauer rennen und sich den Schädel zertrümmern. So aber nicht.“
Bei der Weiterfahrt fragt mich
Lena, was „enthaupten“ bedeutet. Sie kennt das deutsche Wort „Kopf“, aber nicht
das Wort „Haupt“. Ich erkläre ihr, so gut ich kann, den Unterschied: Auch Tiere
haben einen Kopf, aber nur der Mensch besitzt ein Haupt.
Ein Teilnehmer fragt mich nach dem
Text, den ich verlesen habe. Es ist Pfarrer Münch. Er fotografiert ihn aus dem Buch.
Pfarrer Münch ergreift später das
Mikrophon und rezitiert in metrisch einwandfreier Weise eine lange Stelle aus
Hölderlins Gedicht „Brot und Wein“. Das ist als Vorbereitung auf die
abschließende Zeremonie gedacht, die wir an einer Raststätte an der A 7 in der
Nähe der Lone vollziehen. Decks haben Rotwein, der in Forchtenberg gekeltert
wurde, und Brot, das in Forchtenberg gebacken wurde, mitgebracht, und so nehmen
wir an diesem sonnigen Spätnachmittag auf einem Autobahnrastplatz Wein und Brot zu uns und denken an Hans
Scholl, der am 22. September 1918 in Ingersheim bei Crailsheim an der Jagst, und
an seine Schwester Sophie Scholl, die am 9. Mai 1921 in Forchtenberg am Kocher
geboren wurden.
So endet der Tag, dessen
Höhepunkt die künstlerische „Performance“ im Lichthof der LMU war, mit einem
religiösen Akt auf einer Autobahnraststätte. Das erinnert mich an den Ausspruch
von Joseph Beuys, der 1982 in einem Interview anlässlich einer mehrteiligen Artikelserie
über „Die Anthroposophen“ dem Redakteur Peter Brügge einmal sagte: „Die
Mysterien finden heute nicht im Goetheanum, sondern im Hauptbahnhof statt“.
Als wir gegen 20.30 Uhr in
Wolpertshausen, wo wir am Morgen um 6.30 Uhr gestartet waren, eintreffen,
regnet es. Jeder Reiseteilnehmer bekommt noch eine weiße Rose in die Hand und so
trennt sich die Gesellschaft, die diesen Tag dem Gedenken an eine kleine Gruppe
von tapferen jungen Menschen gewidmet hat, die unter dem Namen „Die Weiße Rose“
in die Geschichte eingegangen ist und Gott sei Dank ein gewisses Gegengewicht zu
der Barbarei bildet, zu der sich die Masse der Deutschen hinreißen ließ.
[1]
So wie sich Renate Deck seit Jahren für die Geschwister Scholl einsetzt, so hat
sich Dorothea Demmel jahrelang mit einer anderen bekannten Hohenloherin beschäftigt
und im Jahre 2013 unter dem Titel „Die Frau mit den bunten Flügeln“ eine
hervorragende Biographie über Agnes Günther („Die Heilige und ihr Narr“)
veröffentlicht.
[2]
Traute Lorenz stellt sich ebenfalls die Frage und sagt in dem
Spiegel-Interview: „Kehrt nicht auch das Böse, wenn man es lässt, eines Tages
zurück?“ Der Spiegel wählte diese Frage als Überschrift über das Interview.