Vorbemerkung
Es war kurz vor Weihnachten 2014,
als Dieter mir vorschlug, mit ihm nach Rom zu reisen. Wir einigten uns schnell
auf einen Termin und so kauften wir kurz nach Weihnachten Fahrkarten, um mit
dem Nachtzug von München in die Ewige Stadt zu fahren, wo wir die
Faschingsferien verbringen wollten. Dieter buchte ein Hotel in der Nähe des
Pantheons.
Samstag, der14. Februar 2015: Anreise
Friedrich brachte mich nach
Ellwangen zum Bahnhof, wo mein Zug um 15.12 Uhr pünktlich abfuhr. Über Ulm, wo ich
in den ICE umstieg, gelangte ich nach München, wo ich über eine Stunde
Aufenthalt hatte. Dieter kam etwas später von Braunschweig. Kurz nach 21.00 Uhr
fuhr der Nachtzug nach Rom in München ab. Wir saßen zusammen im gleichen
Abteil. Eine Italienerin, die mit ihrem Mann ein italienisches Restaurant in
Schwabing („Nachtschwärmer“) führt und ausgezeichnet deutsch sprach, teilte mit
ihrem neunjährigen Sohn unser Abteil. Da wir nur Sitzplätze bekommen haben,
wird es mit dem Schlafen etwas schwierig. Der Zug nimmt die Strecke über
Innsbruck und den Brenner nach Bologna, wo wir fast zwei Stunden Aufenthalt
haben, weil ein Teil des Zuges weiter nach Mailand fuhr und weil dafür rangiert
werden musste. Als wir durch Florenz fuhren, wurde es Tag. An Orvieto und
Arezzo vorbei kamen wir mit einer Stunde Verspätung am Sonntagmorgen, den 15.
Februar gegen 10.30 Uhr am römischen Bahnhof Termini an. Es nieselte ganz
leicht. In einer nahen Straße zog ein Faschingsumzug vorbei.
Sonntag, der 15. Februar 2015
Wir kauften am Busbahnhof zwei
Wochenkarten für die öffentlichen Verkehrsmittel in Rom (Busse und Metro) für
jeweils 25 Euro. Der Bus, der uns in die Nähe des Hotels brachte, war sehr
voll. Über die Piazza Venezia, wo wir einen Blick auf das Nationaldenkmal für
Vittorio Emanuele erhaschten, gelangten wir zur Haltestelle Lungo Torre
Argentina, wo wir ausstiegen. Auf der Via Torre Argentina pilgerten wir
nordwärts, bogen dann links in die Via della Scrofa (Wildschwein) ein und
stießen schließlich auf das kurze Gässchen Via Portoghesi, das uns zu unserem
Hotel, Albergo dei Portoghesi gleich neben der portugiesischen Kirche führte. Das
Gebäude aus dem 17. Jahrhundert lag unmittelbar vor einem mittelalterlichen
Wohnturm, den eine Marienstatue bekrönte. Wir suchten unser Zimmer (Nummer 40)
im dritten Stockwerk auf und legten unser Gepäck ab.
Mein Wunsch war es, als erstes
das Grab Raphaels im Pantheon zu besuchen. So machten wir uns noch vor Mittag
auf den Weg durch das Stadtviertel (Rione) Ponte zu dem von Marcus Agrippa 27
bis 25 vor Christus für „alle Götter“ errichteten und von Kaiser Hadrian in den
Jahren 118 bis 125 nach Christus umgebauten Tempelbau, der uns vor allem wegen
seines mächtigen Portikus beeindruckt, den monumentale Granitsäulen tragen. Vor
dem Bauwerk versammeln sich Menschenmassen, im Innern aber ist das Gedränge
noch größer. Nur der Blick auf die großartige antike Kuppel mit ihren
abgestuften Kassetten und dem Okulus ist frei. Schließlich finden wir schräg
links gegenüber dem Eingang das gesuchte Grabmal, das sehr schlicht gehalten
ist. Im Jahre 1833 ließ Papst Gregor XVI. das Grab öffnen, um sich der Existenz
der Gebeine des Künstlers zu vergewissern. Er ließ folgende Inschrift von
Pietro Bembo (1470 – 1547) auf dem Marmor-Sarkophag anbringen: ILLE HIC EST
RAPHAEL TIMUIT QUO SOSPITE VINCI RERUM MAGNA PARENS ET MORIENTE MORI (Hier
liegt Raphael, durch den die Natur fürchtete besiegt zu werden, während er
lebte, und zu sterben, als er starb).
Nach dem Pantheon führt mich
Dieter, der sich durch seine letzte Romreise im November 2014 bestens in
unserem Viertel und überhaupt in Rom auskennt, weiter zur Piazza Navona. Das
lang gestreckte Rechteck des Platzes geht auf ein antikes Stadion zurück, das
Kaiser Domitian hier um das Jahr 86 nach Christi erbauen ließ. Wir schauen uns
zuerst den von Bernini 1651 geschaffenen Vier-Ströme-Brunnen (Fontana di
Quattro Fiumi) an, der als ein Hauptwerk des Barockbildhauers gilt. Vor dem
Hintergrund dunkler Wolken erscheinen die in helles Licht getauchten
allegorischen Figuren der vier Ströme, Nil, Donau, Ganges und Rio de la Plata,
die zugleich die vier damals bekannten Kontinente Afrika, Europa, Asien und
Amerika symbolisieren, in diesem Moment in einem schönen Kontrast. Im Hintergrund
auf der westlichen Längsseite des Platzes erhebt sich die barocke Fassade von
Sant‘ Agnese in Agone an der Stelle, wo
in der Antike ein Bordell stand. Die Heilige Agnes wurde hier im Jahre 304
nackt an den Pranger gestellt, um sie zu zwingen, von ihrem christlichen
Glauben abzulassen. Die Fassade der heutigen Kirche wurde 1653 bis 1657 von
Berninis Antipoden Borromini entworfen. Sowohl der Vier-Ströme-Brunnen als auch
die Agnes-Kirche wurden von Papst Innozenz X. Pamphilj (1644 bis 1655), dessen
Wappen, eine Taube mit einem Ölzweig im Schnabel, deutlich zu erkennen ist, in
Auftrag gegeben. Er hat sowohl Bernini als auch Borromini als Mäzen gefördert.
Wir kommen auch am Campo Marzio,
dem antiken Marsfeld vorbei, auf dem einst ein Tempel für den Kriegsgott Mars
stand, der den Armeen Roms als Schutzgeist diente. Hier fanden Volksversammlungen statt und hier
erfolgte sinnigerweise auch die Aufstellung der ausrückenden Heere. Mars war
der Sage nach Vater des Stadtgründers Romulus.
Als nächstes besuchen wir unsere
erste Kirche, Sant‘ Agostino. Die sich über einer Treppe erhebende
Renaissance-Fassade der Augustiner-Chorherren-Kirche wurde mit römischem
Travertin erbaut, einem Kalksinter, der vor allem in Tivoli gebrochen wurde.
Dieter führt mich zu den beiden herausragenden Kunstwerken dieser Kirche: eine
Altartafel von Caravaggio und ein Fresko von Raphael.
Zuerst betrachten wir ausführlich
die „Madonna dei Pellegrini“ von Caravaggio aus dem Jahre 1605. Auf der rechten
Seite knien zwei Pilger, ein Mann und eine Frau. Sie schauen hoch zur Madonna
mit dem Kind. Ein Pfeiler im Hintergrund teilt das Bild in zwei Hälften, eine
sakrale mit der Madonna auf der linken und eine profane mit den Pilgern auf der
rechten Seite. Die betenden Hände des männlichen Pilgers berühren beinahe den
linken Fuß des Jesuskindes, das sich ihm deutlich zuwendet. Sein rechter Fuß
weist auf die Pilgerin, eine ältere Frau, auf die das liebliche Antlitz Marias herunterschaut.
Marias nackte Füße scheinen auf der erhöhten Stufe, auf der sie steht, zu
tanzen. Die beiden Pilger knien unterhalb der Stufe, wobei der männliche
Pilger, dessen Unterkörper von hellem Licht beleuchtet wird, die weibliche
Pilgerin, die aus dem Dunkel aufzuschauen scheint, weitgehend verdeckt. Nur
ihre betenden Hände und ihr mit einem weißen Kopftuch bedecktes Haupt sind
erleuchtet. Vor dem dunklen Hintergrund ragen nur die beiden Pilgerstäbe
hervor, die eine dritte Diagonale in die Bildkomposition zeichnen, während vom
Kopf des Jesuskindes bis zum rechten nackten Fuß des männlichen Pilgers eine
erste, vom Kopf Marias zum Kopf der Pilgerin eine zweite Diagonale durch das
Bild verläuft. Dadurch wirkt das Bild sehr lebendig. Wir verfolgen diese
Bewegungen mit unseren Augen und sind beide begeistert von diesem ersten Meisterwerk,
das wir in Rom zu Gesicht bekommen. Es ist auch das erste Bild von Caravaggio,
das wir sehen. Wir werden in den folgenden Tagen noch einige andere anschauen,
allerdings nicht mehr so intensiv wie dieses.
Als nächstes wenden wir uns dem
dritten linken Mittelpfeiler der Augustiner-Kirche zu, den Raphael im Jahr 1512
mit einem Fresko geschmückt hat. Es zeigt den Propheten Jesaja zwischen zwei
Putti, die um sein Haupt schweben und eine Blättergirlande über ihn halten. Das
rechte Bein des sitzenden Propheten ist von einem Tuch umfangen, das mit seinen
warmen, fließenden Goldtönen den ganzen Unterkörper zu umfließen scheint. Nur
das linke Bein schaut daraus hervor und im untersten linken Winkel der nackte
rechte Fuß. Das eigentliche Gewand des Propheten ist in himmelblauen Tönen
gehalten, der Kopf mit einem violetten Tuch umhüllt. Es ist ein wunderbarer
Dreiklang von Farben. Jesajas Blick scheint nach links unten auf die in die
Kirche Eintretenden gerichtet, in Wirklichkeit aber ist er genauso sehr nach innen
gerichtet. Seine muskulösen, nackten Unterarme halten eine Schriftrolle mit
hebräischen Zeichen in die Gegenrichtung. Dadurch wird zwischen der
Blickrichtung des Propheten und seiner Arm-Geste eine lebendige Spannung
erzeugt, die sich in der Beinstellung wiederholt: das rechte Bein ragt, vom
goldenen Tuch hervorgehoben, nach vorne, das linke Bein ist im Schatten nach
hinten eingewinkelt. Dabei steht der linke nackte Fuß auf einer erhöhten
Steinstufe, während der rechte, ebenfalls nackte Fuß über die unterste Stufe
herauszuragen scheint. Die ganze Art der Darstellung erinnert an die Propheten
Michelangelos im Gewölbe der Sixtinischen Kapelle, erscheint aber lieblicher
und beseelter. Jesaja hat ein ausgesprochen schönes Gesicht, das zwar
Bestimmtheit, aber keine Strenge ausstrahlt. Der in hebräischen Buchstaben
geschriebene Ausschnitt aus dem 26. Kapitel des Jesaja-Buches (Vers 3) lautet:
„Tut auf die Tore, dass hineingehe das gerechte Volk, das den Glauben bewahrt!“
Blick und Haltung des Propheten sind also ganz auf den Kircheneingang
ausgerichtet, der die Gläubigen empfängt.
Der Prophet Jesaja, neben
Jeremia, Hesekiel und Daniel einer der vier großen Propheten, wurde wegen
seiner Messias-Verheißung schon von frühchristlicher Zeit an dargestellt. Auf
ihn geht auch das Wort von der „Stimme eines Predigers in der Wüste“ (Jes.
40,3) zurück, das von Markus (1, 2 bis 4) aufgegriffen wird:
„Wie geschrieben steht im
Propheten Jesaja: ‚Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der da bereite
deinen Weg‘. ‚Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg
des Herrn, machet seine Steige richtig!‘ Johannes der Täufer war in der Wüste
und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden.“
So beginnt das Markusevangelium
mit einem Jesaja-Zitat und bezieht dieses klar auf Johannes den Täufer.
Wenn wir alles das auf uns wirken
lassen, dann ist dieser Auftakt unseres Romaufenthaltes wie eine Einladung: die
zwei Pilger aus Deutschland werden von der Madonna mit dem Jesuskind und von
dem Propheten Jesaja liebevoll in der dem Heiligen Augustinus
geweihten Kirche empfangen.
Raphael, der nach den Forschungen Rudolf Steiners in einem früheren Leben
selbst der „Prediger in der Wüste“ war, erweist sich so als unser guter
Schutzgeist. Auch Caravaggio, der nach Richard Distasi in seinem Leben zur Zeit
Christi als Maria Magdalena inkarniert gewesen sein soll
, ist uns ein immer wieder
begegnender Begleiter.
Ganz in der Nähe von
Sant’Agostino gelangen wir zur Kirche Santa Maria della Pace. Auch in dieser
Kirche befinden sich Fresken Raphaels. Aber die Kirche ist geschlossen und wir
können sie erst am Samstag, unserem letzten Tag, besuchen. Vor dem linken
Seiteneingang der Kirche steht eine lange Schlange von Menschen, die in die
Wechselausstellung wollen, die noch eine Woche lang Arbeiten von M.C. Escher
zeigt. Wir kommen durch einen weiteren Seiteneingang in den Kreuzgang, ein
wunderbares Werk des Renaissance-Architekten Bramante.
Am Nachmittag dieses Sonntags
machen wir zu Fuß noch einen Ausflug zum Petersplatz. Dabei nehmen wir die Via
dell‘ Orso, die Fortsetzung der Via delli Portoghesi, an deren Ende auch das
Haus steht, in dem schon Dante und Goethe gewohnt haben. Wir kommen auf den
Lungo Tevere, die Straße, die an der linken Tiberseite entlangführt, haben einen
schönen Blick auf die Engelsburg und die Engelsbrücke, überqueren den Tiber auf
der Ponte Vittorio Emanuele II und gelangen auf der Via della Conciliazione zum
Petersplatz. Eine lange Menschenschlange säumt die Kolonnaden, eine vierfache
Säulenreihe, die Bernini in den Jahren 1657 bis 1667 für Papst Alexander VII.
konzipierte. Die Menschen, die geduldig unter den vom Dach herabschauenden Heiligenfiguren warten, wollen in den
Petersdom. Es sind viele Asiaten darunter, vermutlich mehrheitlich Chinesen.
Wir lassen den Platz und seine Begrenzung durch die kolossalen Säulenreihen auf
uns wirken und stellen fest, dass die Vielzahl der sich gegenseitig zum Teil
verdeckenden Säulen und ihre schiere Größe alles menschliche Maß verlassen.
Anders geht es uns mit der Fassade des Petersdoms, die in ihrer Gliederung aus
der Ferne harmonischer und menschlicher auf uns wirkt. Die alles überragende,
von Michelangelo entworfene Kuppel mag zu diesem harmonischen Eindruck
entscheidend beitragen. Sie ist nach der des Pantheons mit 42,34 m die
zweitgrößte Kuppel Roms.
Die Majestät des Platzes und der
Peterskirche ist so überwältigend, dass ich im ersten Augenblick ganz vergesse,
dass an dieser Stelle einst das Kreuz stand, an dem der Apostel Petrus sein
Martyrium erlitt. Petrus war ein einfacher Fischer mit all seinen menschlichen
Schwächen. Dass ihm zu Ehren solch monumentale Bauwerke errichtet wurden, liegt
daran, dass er in den Päpsten Nachfolger hatte, die Christi Wort „Mein Reich
ist nicht von dieser Welt“ im Laufe der Zeit ins Gegenteil verwandelt haben.
Von jeder Säule, von der Fassade und der Kuppel scheint uns aus dem Munde des
Papstes Alexander VII., dessen Namen und Wappen überall hervorleuchten, die
Umkehrung des Satzes entgegen zu tönen: „Mein Reich ist von dieser Welt!“
Als wir über die Engelsbrücke
zurückkehren, bekommen wir Hunger und kehren in eine Pizzeria in unserem
Viertel ein.
Montag, der 16. Februar 2015
Der Tag ist ganz den
Vatikanischen Museen gewidmet. Dieter hatte zwei Karten übers Internet gebucht
(jeweils 20 Euro) und so konnten wir an der langen Schlange vorbei direkt zur
Kasse gehen und unsere Eintrittskarten abholen. Um 9.30 Uhr betreten wir den
Museumskomplex, um 17.00 Uhr werden wir hinaus komplementiert. Unser erstes
Ziel sind die Stanzen mit den Fresken Raphaels. Dieter empfiehlt, ohne links
und rechts zu schauen durch die langen Fluren bis zu den vier Sälen der Stanzen
durchzulaufen. Das tun wir und so gelangen wir als erstes in die Sala di
Constantino, in der von Schülern Raphaels die Ereignisse aus dem Leben Kaiser
Konstantins gestaltet wurden, die zur Anerkennung der christlichen Religion im
Römischen Reich geführt haben: sein Traum vom Kreuzsymbol, sein Sieg über
seinen Mitkaiser Maxentius an der Milvischen Brücke und seine Taufe durch Papst
Sylvester. Länger verweilen wir in der Stanza d’Eliodoro, die Raphael in den
Jahren 1512 bis 1514 ausgemalt hat. Auf der einen Seite ist der Raub Heliodors
dargestellt, auf der gegenüber liegenden Seite die Abwehr Attilas durch Papst
Leo I., an den anderen beiden Seiten das Wunder bei der Messe von Bolsena und
die Befreiung Petri aus dem Gefängnis.
Wir betrachten zuerst das Bild
von der Vertreibung Heliodors aus dem Tempel von Jerusalem. Er wollte den
Tempelschatz rauben und war schon am Ausgang, als durch das Gebet des
Hohepriesters am Altar vor dem siebenarmigen Leuchter himmlische Wesen
erscheinen und den Räuber stellen. Diese Szene spielt sich auf der rechten
Seite ab. Auf der linken Seite sind um den Papst auf seinem Thron Männer und
Frauen gruppiert, die dem Geschehen zuzuschauen scheinen. Atemberaubend ist die
freie Mitte, die, verstärkt durch drei sich verjüngende Kuppeln, den Blick
perspektivisch nach hinten zum Altar lenkt, an dem der Hohepriester betet. Der
Blick geht sogar noch weiter, weil sich über dem Altar der Tempel
halbkreisförmig öffnet und den Blick auf eine weiße Wolke am Himmel freigibt
(siehe: Wilhelm Kelber, Raphael von Urbino, Verlag Urachhaus, Stuttgart 1979,
Abb. 197).
Auch bei dem gegenüber liegenden
Fresko „Die Begegnung Leos I. mit Attila“ treten „aus heiterem Himmel“
Geistwesen auf. Dieses Mal spielt die Szene in einer freien Landschaft. Links
reitet der Papst mit seinem Gefolge in die Bildmitte, rechts weichen die Hunnen
unter ihrem Anführer Attila vor der himmlischen Erscheinung zurück: es sind die
Apostelfürsten Petrus und Paulus, zu erkennen an ihren Attributen Schlüssel und
Schwert.
Wir gelangen nun in die Camera
della Segnatura. Es ist der erste Höhepunkt unseres Besuches in dem ehemaligen
Papstpalast. Hier wurden päpstliche Urkunden unterschrieben. Sicher wollte
Raphael mit seinen Darstellungen dazu beitragen, dass die Unterzeichner vom
Heiligen Geist durchdrungen waren. Die beiden berühmtesten Fresken schmücken
die sich gegenüber liegenden Wände, die „Schule von Athen“ und die „Disputa“.
Diese Meisterwerke hat Raphael gleich nach seiner Ankunft in Rom als erste in
den Jahren 1508 bis 1511 unter Papst Julius II. geschaffen. Wir verweilen lange
in diesem Raum, können aber kaum alle Details erfassen. Dieter regt dazu an,
die Malereien ohne Vorkenntnisse rein künstlerisch auf uns wirken zu lassen.
Das tun wir. Wieder fällt auf, dass sich die erste Szene, die die antike
Wissenschaft in der Schule von Athen verbildlicht, in einem Innenraum abspielt,
während die zweite Szene, in der es um die christliche Wissenschaft im
Zusammenhang mit dem heiligsten Altarsakrament geht, in einer offenen
Landschaft stattfindet.
Drei halbkreisförmige Gewölbe
schließen die Darstellung der Schule von Athen nach oben ab. Im Hintergrund
aber öffnet sich an drei Stellen der Blick in den blauen römischen Himmel. Vor
der untersten Öffnung erscheinen die beiden zentralen Gestalten des von mehr
als 45 Personen bevölkerten Bildes: ein bärtiger alter Philosoph in rotem
Übergewand, dessen rechte Hand nach oben deutet, gemeinhin als Plato bezeichnet,
und ein jüngerer Mann im blauen Mantel, dessen Hände nach unten gerichtet sind und den die Kunstwissenschaft als Aristoteles identifiziert.
Sie scheinen im Voranschreiten in ein philosophisches Gespräch vertieft zu
sein. Auch alle anderen Dargestellten bemühen sich lebhaft um Erkenntnis,
deuten, erklären, zweifeln.
Überall herrscht Kommunikation
bis auf drei Ausnahmen: durch die linke Gruppe schreitet ein jünglinghafter
Mann in weißem Gewand, der den Betrachter des Freskos direkt anzuschauen
scheint; im Vordergrund stützt sich ein Denker mittleren Alters im
rötlichbraunem Gewand auf einen altarförmigen Steinblock und auf den Stufen,
die die obere Gruppe von der unteren trennen, liegt ein alter Mann mit nackten
Beinen und Armen und einem blauen Umhang, der gemeinhin als Diogenes gedeutet
wird.
Wilhelm Kelber hält diesen
Liegenden für einen Humanisten und Pythagoräer, der gut mit Raphael befreundet
war: Fabius Calvus. Er schreibt:
„Raphael liebt ihn wie einen
Vater, nimmt ihn zu sich und wählt ihn zum Berater, vor den er alles bringen
kann. (…) Diogenes ist die bekannteste Gestalt pythagoräischer Lebensführung,
und mit ihm finden wir Fabius auch in dem Brief Calcagninis verglichen.“
(Kelber, 1979, S 163).
Über den beiden Gruppen
erscheinen in Frontalansicht wie umrahmend und über allem schwebend zwei
griechische Götter als Statuen in Nischen: Apollo (links) und Athene (rechts),
Poesie und Wissenschaft verbindend. Weitere Statuen griechischer Götter und
Göttinnen erkennt man in starker Verkürzung an den Wänden des Gebäudes, das die
oberen zwei Drittel des Bildes einnimmt. Über den Menschen walten in
Grisaille-Technik ausgeführte geistige Wesen. Die Philosophen in ihren schönen
farbigen Gewändern verteilen sich auf zwei horizontale Ebenen, die durch vier
Stufen voneinander getrennt sind: die obere fernere Gruppe um die beiden
zentralen Gestalten und die untere nähere Gruppe, die den Blick frei gibt auf
die liegende Figur, die eine Mittelstellung zwischen den beiden Gruppen einnimmt,
obwohl sie sich nicht in der geometrischen Bildmitte befindet. Auch ihre
diagonale Ausrichtung hat etwas Vermittelndes.
Nun wenden wir uns der gegenüber
liegenden Seite zu, der „Disputa“, dem anderen Meisterwerk Raphaels.
Auf den ersten Blick lassen sich
drei übereinander liegende Ebenen unterscheiden: die unterste, irdische zeigt
eine Versammlung von Päpsten, Kardinälen, Bischöfen, Theologen, die sich um das
Altarsakrament, eine Monstranz mit einer Hostie, gruppieren, über deren Wesen
und Wandlung sie sich lebhaft unterhalten. Die Fluchtlinien dieser Ebene scheinen
auf die in den freien, hellen Himmel aufragende Hostie zuzulaufen, auf die der
dem Altar links am nächsten Stehende mit beiden Armen hindeutet.
Der Mann, der auf der rechten
Seite des Altars steht, zeigt mit der Hand nach oben auf die zweite Ebene. Sie
wird von der irdischen Ebene abgegrenzt durch ein von Engeln getragenes
Wolkenband. Auf diesem sitzen zwölf Männer unterschiedlichsten Charakters, Heilige
und Gestalten aus dem Alten und Neuen Testament, links angeführt von Petrus,
rechts von Paulus. Sie bilden wie das Wolkenband einen nach vorne offenen
Halbkreis. Im optischen Zentrum dieses Halbkreises steht die Dreifaltigkeit:
auf einer weiteren Wolke schwebend und seine Wundmale zeigend ein jugendlicher
Christus im goldenen Sonnenrad, umgeben von Maria (links) und Johannes dem
Täufer (rechts). Unter ihm in einem zweiten, kleineren Sonnenrad, der Heilige
Geist in Gestalt einer weißen Taube, umgeben von vier Putti, die die vier
Evangelien als aufgeschlagene Bücher tragen. Sie schweben perspektivisch
gesehen ebenfalls in einem nach vorne offenen Halbkreis um den gedachten
Mittelpunkt.
Über dem Christus in einem
dritten, von geistigen Wesen erfüllten Sonnenrad, dessen Mittelpunkt weit über
dem Bild liegt, erkennt der Betrachter Gottvater. Ihn umschweben in gebührendem
Abstand sechs Erzengel, drei auf jeder Seite. Die vatergöttliche Welt, die wie
ein Gewölbe erscheint, ist als dritte Ebene wiederum durch ein von Engelwesen
belebtes halbkreisförmiges Wolkenband von der darunterliegenden himmlischen
Ebene abgegrenzt. So ist die Himmlische Ebene in sich noch einmal
dreigegliedert, entsprechend der Heiligen Trinität.
Die senkrechte Mittelachse des
Freskos wird gebildet durch vier Kreise: auf dem Altar der kleinste, die Hostie
in der Monstranz, darüber der nächstgrößere mit der weißen Taube des Heiligen
Geistes, dann der strahlende Sonnenkreis des Christus und schließlich der den
Rahmen des Bildes sprengende Sonnenkreis des Schöpfergottes.
Auch die disputierende
Menschengruppe im irdischen Bereich bildet einen nach vorne offenen Halbkreis.
Dieser ist allerdings unregelmäßiger als die himmlischen Halbkreise und hat
auch keinen eindeutigen Mittelpunkt. Dieser würde sich irgendwo vorne im leeren
Raum befinden. Aber da ist nichts zu sehen. Nur in der geistigen Welt gibt es
einen klaren Mittelpunkt, um den alles kreist: die Dreifaltigkeit. Der etwas
chaotischen Aufgeregtheit in der Menschenwelt steht die vollkommene Harmonie in
der Geistigen Welt gegenüber. Der eigentliche Ruhepol ist innerhalb dieser
eindeutig Christus, der unendlich liebevoll auf den Betrachter des Bildes
herabschaut und ihm ohne jeden Vorwurf seine Wundmale zeigt.
Wir sind so erfüllt von der
Betrachtung dieser beiden überirdischen Meisterwerke Raphaels, dass wir nun die
anderen Bilder dieses Raumes nur noch flüchtig betrachten können: den Parnass,
der Apollo, umgeben von den neun Musen und verschiedenen Dichtern wie Homer,
Virgil und Dante, zeigt. Aus dem Felsen, auf dem Apollo sitzt, entspringt der
kastalische Quell. Irgendwie erinnert der antike Gott in Aussehen, Haltung und
Kleidung an den jugendlichen Christus in der „Disputa“.
Dieter weist mich noch auf die
Allegorien der Kardinaltugenden Weisheit (Sapientia), Stärke (Fortitudo) und
Mäßigung (Temperantia) auf der gegenüberliegenden Seite hin.
Die Decke schauen wir ebenfalls
nur kurz an. Es ist einfach zu viel auf einmal. Erst später in der
Nachbereitung mit Hilfe des Buches von Wilhelm Kelber studiere ich die
Abbildungen und erfahre mehr darüber. Es handelt sich abermals um Allegorien,
die sozusagen zu den Themen der vier Wandfresken die Titel bilden: über dem
Parnass verkörpert eine lorbeerbekränzte Jungfrau die Poesie, über der Disputa eine weitere die Theologie, über den
drei Kardinaltugenden eine dritte die Gerechtigkeit (Justitia), um die
traditionelle Vierzahl der Kardinaltugenden voll zu machen. Am interessantesten
ist die die Philosophie repräsentierende Jungfrau über der Schule von Athen.
„Während die ‚Theologie‘, ‚Poesie‘ und ‚Justitia‘ auf Wolkenhügeln sitzen,
gewahren wir hier zunächst den Thron der Weisheit besonders gestaltet. Ein
breiter Sessel, der nach vorne in rätselhafte Gebilde ausläuft: bekrönte
weibliche Wesen mit vielen Brüsten, von diesen abwärts bis auf die Füße nur als
eine Art Säule gebildet. (…) Es ist die Diana polymasthos, das Götterbild des
Mysterientempels von Ephesus.“ (Wilhelm Kelber, 1979, S 210).
In dem Gewand der Philosophie
entdeckt er vier Kategorien von Naturwesen, die die vier Elemente Erde, Wasser,
Luft und Feuer versinnbildlichen. Der Gang durch die Elemente sind, wie noch
Mozarts „Zauberflöte“ weiß, die vorbereitenden Stufen der Einweihung, wie sie
zum Beispiel in Ephesus gepflegt wurden.
Die Stanza della Segnatura war
der erste Höhepunkt des Tages. Als nächstes erreichen wir die Stanza
dell’Incendio di Borgo. Der ehemalige Speisesaal wurde unter Papst Leo X. von
Schülern Raphaels nach dessen Entwürfen ausgemalt. Die Fresken stellen
Ereignisse aus dem Leben der Namensvorgänger Leos X. dar, so den Brand des
Borgo, den Papst Leo IV. durch das Schlagen des Kreuzes über dem Feuer löschte,
oder die Krönung Karls des Großen durch Papst Leo III.
Nach der Besichtigung der Stanzen
gehen wir über Treppen und durch Flure zur Sixtinischen Kapelle. Auf dem Weg
dahin essen wir eine Kleinigkeit in einem Museumscafe.
Die Sixtinische Kapelle ist
voller Menschen. Gott sei Dank hat Dieter sein Fernrohr dabei, so dass wir
viele Details auch aus der Ferne betrachten können. Den Zyklus mit den
zentralen Bildfeldern von der Schöpfung bis zur Sintflut schuf Michelangelo in
den Jahren 1508 bis 1512, vier Jahre, bevor Raphael in den Stanzen arbeitete.
Eingeleitet wird die Bildfolge
mit einem monumentalen Propheten Jonas. So stehen alle Schöpfungsdarstellungen
sowie das Jüngste Gericht, das Michelangelo später (in den Jahren 1534 bis
1541) an der Westwand der Kapelle malte, unter dem „Zeichen des Jona“, einem
Symbol für die Einweihung. An den Seiten hat Michelangelo fünf weitere Propheten und fünf Sibyllen
dargestellt. Den Abschluss bildet Zacharias, der Vater Johannes des Täufers.
Dieter gefällt vor allem der
Sonne und Mond erschaffende Gottvater aus dem zweiten zentralen Deckenbild; ich
bin fasziniert von der Szene der Erschaffung Adams. Den Kopf Adams und das
Gesicht der delphischen Sybille kenne ich seit meiner Kindheit, denn beide
hingen als Schwarz-Weiß-Reproduktionen im Schlafzimmer meiner Eltern. Ich
denke, dass es meine Mutter war, die die beiden Köpfe aufgehängt hat. Mit ihr
war ich im Sommer 1977 zum ersten Mal in der Sixtinischen Kapelle. Damals war
wesentlich weniger Publikum in dem Sakralraum. Auch wurden die Bilder erst
danach, in den Jahren 1980 bis 1994 restauriert. Nach der Befreiung der Fresken
vom Staub der Jahrhunderte kam die ursprüngliche Farbigkeit wieder zum
Vorschein.
In der Sixtinischen Kapelle
findet das Konklave statt, bei dem seit Jahrhunderten der Nachfolger auf den
Stuhl Petri gewählt wird. Wir sehen in den Bildern Michelangelos überall das
kraftvolle, das Willensmäßige und fragen uns, wer der Künstler, der eigentlich
Bildhauer war und den härtesten Stein, den Marmor, bearbeitete, zur Zeit
Christi gewesen sein mochte. Wir sind übereinstimmend der Ansicht, dass es nur
Petrus gewesen sein konnte, der Apostel, dessen Name „Fels“ ist und auf den
Christus seine Kirche gründete. Von Rudolf Steiner wissen wir, dass Raphael
Johannes der Täufer war und Leonardo da Vinci Judas Ischariot.
Die drei größten
Renaissance-Künstler waren also zur Zeit Christi in unmittelbarer Nähe des
Gottessohnes inkarniert.
Als nächstes suchen wir die
Pinakothek auf. Vorbei an den Musikinstrumente spielenden Engeln Melozzo da
Forlis, erhaltenen Fragmenten aus einer Himmelfahrtsdarstellung in der Apsis
der römischen Basilika Santi Apostoli, die von den musikliebenden Franziskanern
geführt wurde, kommen wir in den Saal mit drei Werken Raphaels. Viele
Meisterwerke wie zum Beispiel Giottos Stefaneschi-Tryptichon lassen wir dabei
„links“ liegen, weil wir nicht alles aufnehmen können.
Vor Raphaels letztem Werk, der
Verklärung Christi auf dem Berg Tabor, verweilen wir länger. Es war ursprünglich
von Papst Clemens VII. für die Kathedrale Saint Just in Narbonne gedacht, blieb
aber im Sterbezimmer Raphaels bis nach seinem Tod. Das Werk ist oftmals kopiert
worden. Eine Kopie sahen Andrea und ich in der Kathedrale von Le Puy, eine
andere befindet sich im Petersdom. Zum ersten Mal sah ich das Bild in einer
Kopie in Originalgröße, als ich 1989 zwei Tage bei dem
Christengemeinschaftspriester Falk-Ytter in Ludwigsburg wohnen durfte. Nun darf
ich mit Dieter das großartige Original in der Pinakothek betrachten.
Die Altartafel zeigt zwei Szenen
auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Wieder unterteilt Raphael die Darstellung in
einen übersinnlichen Bereich mit der Erscheinung von Moses und Elias zwischen
dem verklärten Christus und den irdischen Bereich mit der Heilung des mondsüchtigen
Knaben. Die drei geistigen Gestalten schweben im hellen Licht vor einem
erleuchteten Himmel über den drei auf einem Felsen liegenden Aposteln Johannes,
Petrus und Jakobus, die 18 Personen um den Knaben stehen im Schatten des Felsen.
Einige zeigen nach oben zu dem Geschehen auf dem Berg Tabor, andere zeigen oder
schauen auf den Knaben.
Auffallend ist die im Vordergrund
kniende Frau im roten Kleid und blauen Mantel, die zwischen der Gruppe der neun
übrigen Apostel auf der linken und der Gruppe der acht Angehörigen des Knaben
auf der rechten Seite zu vermitteln scheint. Sie schaut nach links und zeigt
mit ihren Händen nach rechts. Besonders ihre kunstvolle Frisur hebt sich von
den Frisuren der anderen Gestalten ab.
Jede der Figuren im Vordergrund
hat einen eigenen Gesichtsausdruck und eine eigene Gestik. Es gibt keine
Wiederholungen. Der die Augen verdrehende stehende Knabe bildet mit seinen
Armen die am weitesten gespannte Geste: mit dem rechten Arm zeigt er nach oben
in den Himmel, mit dem linken nach unten auf die Erde. Es ist die einzige
senkrechte Armbewegung in den ansonsten diagonalen Bewegungen der Arme der
anderen Zeugen des dramatischen Geschehens. Damit ergibt sich ein anderer
Kontrast zwischen den beiden Szenen: im Himmel herrscht eine erhabene Ruhe, auf
Erden gespannte Unruhe.
Rätselhaft sind die beiden
Figuren, die von links oben in das Bild hereintreten und das Geschehen im
Himmel andachtsvoll begleiten. Sie stehen wiederum im Gegensatz zu den drei
Jüngern, die sich wie geblendet von der heiligen Erscheinung abzuwenden
scheinen. Die Gewänder von Moses, Elias und Christus zeigen an, dass es in der
Wolke, die sie umgibt, einen aufsteigenden Luftzug gibt.
Im 17. Kapitel des
Matthäus-Evangeliums werden beide Szenen erzählt. Die Jünger fragen Jesus nach
der Verklärung nach Elias und Jesus sagt ihnen, dass Elias als Johannes der
Täufer wiedergekommen ist. Es ist eine der Stellen im Evangelium, in der der
Christus deutlich von der Reinkarnation spricht, denn anders kann man das Wiederkommen
Elias‘ im Täufer nicht verstehen. So deutet Raphael in seinem letzten von
eigener Hand geschaffenen Meisterwerk zwischen den Zeilen auch seine eigenen
Inkarnationen an.
Das zweite Werk Raphaels, das wir
betrachten, ist die „Madonna von Foligno“ aus dem Jahre 1512. Für Dieter ist es
Raphaels schönste Madonnen-Darstellung nach der Sixtinischen Madonna in
Dresden.
Die Jungfrau mit dem Jesuskind
sitzt auf einer von Engeln bevölkerten Wolke vor einem goldenen Heiligenschein.
Auf der Erde stehen beziehungsweise knien drei Heilige, Johannes der Täufer,
Franziskus von Assisi (links) und Hieronymus, der seine Hand auf den Kopf des
Auftraggebers der Tafel, den Humanisten Sigismondo dei Conti, legt (rechts).
Besonders Johannes der Täufer berührt uns. Er zeigt mit einer schönen Geste auf
Maria und blickt dabei in Richtung des Betrachters. Schön ist auch die
Landschaft im Hintergrund, über die sich ein Regenbogen wölbt. Auffallend ist
ein Meteorit, der auf eines der dort sichtbaren Gebäude, vielleicht den Palast
des Sigismondo, zu fallen scheint. Der Humanist hat das Bild nach seiner
wunderbaren Errettung in Auftrag gegeben.
Rechts von der Verklärung hängt
eine Marienkrönung, ein Frühwerk von Raphael aus den Jahren 1502 bis 1503. Auch
hier fällt wieder die Unterteilung in einen irdischen und einen himmlischen
Bereich auf. Unten stehen zwölf Apostel um einen leeren Sarkophag, aus dem
allerlei Blumen sprießen, oben wird Maria, umgeben von musizierenden Engeln,
von Christus gekrönt.
Durch die weiteren Räume der Pinakothek
laufen wir zügig. Kurz verweilen wir vor der „Grablegung“, einem Meisterwerk
von Caravaggio, und einer „Kreuzigung Petri“ von Guido Reni. Von der Pinakothek
gelangen wir am Cortile della Pigna, dem monumentalen Pinienzapfen vor dem
Belvedere-Palast, den Bramante geschaffen hat, vorbei zur Cortile Ottagonale.
Dort treffen wir den berühmten „Apoll von Belvedere“ und die ebenso berühmte
Laokoon-Gruppe. Wir verweilen bei den beiden antiken Plastiken und schreiten um
sie herum. In den anschließenden Sälen stoßen wir auf weitere antike Statuen
und Büsten. Es ist unmöglich, sie alle zu nennen und zu beschreiben; man
bräuchte Wochen. Auch die Räume mit den ägyptischen Heiligtümern aus Kaiser
Hadrians Villa in Tivoli betrachten wir nur flüchtig. Wir wollen einfach nicht
die Eindrücke, die wir vor den wirklich großen Kunstwerken Michelangelos und
Raphaels hatten, durch allzu viele neue Eindrücke überdecken.
Dienstag, 17. Februar 2015
An diesem Tag ist es mein Wunsch,
ein Stück auf der Via Appia, der „Königin der Wege“ (Regina viarum) zu gehen.
Es ist vor allem wegen meiner Erinnerung an die Stelle aus „Homo Faber“, die am
Grabmal der Caecilia Metella spielt. Hier erfährt Walter Faber, dass Sabeths
Mutter Hanna Landsberg ist, mit der er 20 Jahre zuvor ein Kind erwartete. Er
rechnet nach, aber er rechnet falsch. Sabeth tritt mit dem Fuß auf, so dass die
Verstorbenen unter der Erde es „hören“ können und sagt: „Ich muss
verschwinden“.
Wir fahren mit dem Bus bis zum
Circus Maximus, gehen dann an den Ruinen der Caracalla-Thermen vorbei und
gelangen auf die Via Appia Antica. Bis zur Porta San Sebastiano ist die Straße
Fußgängerzone und es ist angenehm, auf ihr zu laufen. Danach ist sie befahren
und der fließende Verkehr drängt uns an den fußgängerlosen Straßenrand. Das ermüdet
uns bald, so dass wir unseren Gang bei der Sebastians-Basilika mit den
Katakomben abbrechen und das Grabmal der Caecilia Metella, das noch etwa einen
Kilometer entfernt liegt, nur von weitem sehen. Unsern ersten Halt machen wir
an der Porta San Sebastiano, einem Tor der Aurelianischen Mauer, in dem sich
ein kleines, kostenloses Museum befindet, das wir anschauen. Dort gibt es auch
ein Modell der antiken Stadt auf den sieben Hügeln, in dem die alte
republikanische Mauer und die spätere Aurelianische Mauer eingearbeitet sind.
Ich bin fasziniert von Stadtmauern. Sie helfen, sich die ursprünglichen
Dimensionen einer „natürlich“ gewachsenen Stadt vorzustellen. Alle modernen
Vorstädte und Ausbauten stören mein ästhetisches Empfinden.
Rechts und links der Via Appia
befinden sich antike Gräber. Die Römer haben ihre Toten außerhalb der Stadt
bestattet. Auch später lagen die Friedhöfe außerhalb der Städte, um die Ruhe
der Toten (und der Lebenden) nicht zu stören.
Wir kommen an einer alten
Papierfabrik an dem Flüsschen Amone vorbei. Der Amone war in der Antike
bekannt, weil an seiner Mündung in den Tiber Kybele in der Form eines schwarzen
Steines in das Wasser getaucht wurde. Es war das Fest der „Lavatio matris
Deum“, das jedes Jahr am 27. März zur Verhütung von Überschwemmungen gefeiert
wurde. Es erinnert mich an den Mythos der germanischen Ostara, die ebenfalls in
der Osterzeit von ihren Anhängern ins
Wasser getaucht wurde.
Unseren dritten Halt legen wir
bei der Kirche „Domine quo vadis“ ein. An dieser Stelle soll Petrus auf seiner
Flucht vor den römischen Häschern dem Christus begegnet sein, der stadteinwärts
lief. Als er ihn fragte „Herr, wohin gehst du?“, soll der Christus geantwortet
haben: „Ich gehe in die Stadt, um mich ein zweites Mal kreuzigen zu lassen.“
Diese Begegnung nahm der polnische Schriftsteller Henryk Sienkiewicz (1846 bis
1916) zum Motiv seines Romans „Quo Vadis“ (1896), der 1951 unter der Regie von
Mervyn Le Roy verfilmt wurde. Den Film mit einem faszinierenden Peter Ustinov
in der Rolle Kaiser Neros habe ich mehrmals gesehen. Er gibt ein gutes
Stimmungsbild der damaligen Zeit und der Christenverfolgungen unter dem
römischen Caesar. In der weitgehend schmucklosen Kirche wird auch ein Stein
gezeigt, der den Abdruck zweier Füße enthält; es sollen die Füße Christi sein.
Vorbei an den
Calixtus-Katakomben, die jedoch im Winterhalbjahr geschlossen sind, kommen wir
zur Basilika San Sebastiano fuori le mura, an deren Nordseite sich die
Sebastians-Katakomben befinden. Auf der schönen Renaissance-Fassade lesen wir
die lateinische Inschrift „ SCIPIO CARD. BURGHESIUS…“ und die Jahreszahl
„MDCXII“ (1612). Es ist unsere erste Begegnung mit Scipione Caffarelli
Borghese, der 1605 durch seinen Onkel Papst Paul V. zum Kardinal erhoben wurde
und unter ihm die Regierungsgeschäfte im Vatikan führte. Er war ein großer
Kunstsammler und Mäzen und hat vor allem den Bildhauer Gian Lorenzo Bernini
gefördert. Seine Villa, die Galeria Borghese, eine der berühmtesten privaten
Kunstsammlungen der Welt, werden wir am nächsten Tag besuchen.
Die Sebastians-Kirche, die auf
den Bau einer Basilika zur Zeit Konstantins zurückgeht, ist eine der sieben
Pilgerkirchen Roms. Ursprünglich war sie den Aposteln Petrus und Paulus
geweiht. Da in den benachbarten Katakomben das Grab des Heiligen Sebastians
gefunden wurde, erhielt die Basilika später den Namen des Märtyrers.
Sebastian wurde im französischen
Narbonne geboren. Er war der ritterliche Anführer der Leibwache Kaiser
Diokletians. Da er als Christ seinen gefangenen Glaubensgenossen Mut zusprach
und viele Römer zum Christentum bekehrte, wurde er angeklagt und auf Befehl
Kaiser Diokletians zum Tode verurteilt. An einen Baum gebunden, durchbohrten
ihn die Pfeile numidischer Bogenschützen. Er überlebte jedoch die Hinrichtung
schwer verwundet. Als er wieder vor dem Kaiser erscheint, wird er von seinen
Schergen mit Knütteln zu Tode geschlagen und sein Leichnam in die Cloaca maxima
geworfen. Nachdem er einer Christin im Traum erschienen ist, werden seine
Gebeine „Bei den Aposteln“, der heutigen Sebastianskirche, bestattet. In der
Basilika steht bis heute sein Sarkophag. Sebastian ist der Patron der
Schützengilden.
Bevor wir die Kirche besichtigen,
machen wir eine Führung durch die Katakomben mit. Es ist sowohl für Dieter als
auch für mich das erste Mal, dass wir in die unterirdische Welt der antiken
Christengräber hinabsteigen. Die in den vulkanischen Tuffstein eingegrabenen
Nischen befinden sich in langen Gängen bis zu 16 Meter unter der Erdoberfläche.
Wir können nur einen kleinen Teil der Gänge besichtigen. Die Grabstätten, die
wir sehen, sind heute leer. Die Gebeine der frühen Christen wurden später (610)
ins Pantheon gebracht, das „allen Heiligen“ gewidmet wurde. Auf sie geht das
Fest Allerheiligen zurück, das seit dem 9. Jahrhundert (835) am 1. November
gefeiert wird.
In der Basilika steht auch das
letzte Werk Berninis, eine Büste des „Salvator Mundi“ (Weltretter), das der
Bildhauer 1679 im Alter von 82 Jahren geschaffen hat. Sein Sohn schrieb 1713:
„In diesem Werk versammelt und verbirgt sich die ganze Kunst Berninis.“
Nach der Besichtigung der
Basilika essen wir in der südlich benachbarten Cafeteria eine Kleinigkeit zu
Mittag und fahren dann mit dem Bus zurück in die Stadt.
Wir steigen bei der antiken Porta
San Paolo und bei der antiken Pyramide des Gajus Cestius um und fahren mit
einem anderen Bus bis zur Piazza Bocca della Verita unterhalb des Palatins.
Hier befand sich am Ufer des Tibers ein Hafen und der Rindermarkt (Forum
Boiarum).
An diesem Platz hatten wir 1977
unser Auto abgestellt, um die beiden antiken Tempel zu besichtigen. Als wir
nach knapp einer halben Stunde zurückkamen, war die Fensterscheibe
eingeschlagen und wir mussten den Rest des Tages auf der Polizeidienststelle
verbringen. Wir waren nicht die einzigen Touristen, die einen Einbruch zu
beklagen hatten. Sogar mein Führerschein war gestohlen worden und ich musste
mir einen Ersatzführerschein ausstellen lassen.
Als erstes besuchen Dieter und
ich die romanische Basilika Santa Maria in Cosmedin, die im 6. Jahrhundert von
den hier siedelnden Griechen erbaut wurde. Eindrucksvoll ist der romanische
Glockenturm. Das Innere ist schlicht gehalten und gibt einen schönen Eindruck
aus der Bauzeit. In eine Wand der Vorhalle ist eine antike Tritonenmaske
eingelassen, vor der sich eine Menschenschlange gebildet hat. Nach einer
mittelalterlichen Sage sollten jedem Lügner, der seine Hand in den „Mund der
Wahrheit“ (Bocca della Verita) steckt, die Finger abgebissen werden.
Nach dem Besuch der Kirche
schauen wir uns die beiden antiken Tempel an, die auf dem pinienbeschatteten
Platz bis heute beinahe unversehrt stehen. Der kleine Rundtempel wurde früher
Vesta, der Göttin des Herdes, zugeschrieben, gilt aber heute als
Herkules-Tempel; der rechteckige Tempel hieß früher Fortuna-Tempel, wird aber
heute dem Portunus, dem Gott des Hafens, zugeordnet. Beide Tempel stammen aus
dem 2. vorchristlichen Jahrhundert und sind gut erhalten. Von hier aus haben
wir einen schönen Blick auf den Palatinhügel, der sich östlich anschließt. Wir
gehen weiter und gelangen zum Janusbogen. Der viertorige Marmorbogen, der
vermutlich unter Kaiser Konstantin errichtet wurde, ist heute beinahe schmucklos.
Wir sehen aber noch die zwölf Nischen, in denen ursprünglich Statuen gestanden
haben. Unter dem Bogen trafen sich in der Spätantike die Kaufleute mit den
Käufern, um ihre Preise auszuhandeln. Auch dieser Akt hatte seinen Platz und
wurde von Götterbildern „bewacht“. So schauten den Handelnden die Göttinnen
Roma, Juno, Ceres und Minerva „auf die Finger“, deren Bilder die Schlusssteine
der Torgewölbe schmücken.
Gleich neben dem Janusbogen
erhebt sich die romanische Basilika San Giorgio in Velabro. An dieser Stelle
soll die Wölfin die beiden ausgesetzten Knaben Romulus und Remus gefunden
haben.
Die Kirche birgt die Gebeine des
Heiligen Georg, eines der beliebtesten Heiligen des Mittelalters. Seine Legende
verbindet ihn eng mit dem Erzengel Michael, der ihn immer wieder vor den Nachstellungen
der Folterknechte des damals herrschenden römischen Kaisers Diokletian errettet
haben soll. Georg ist der „irdische“ Vertreter des Erzengels Michael, so wie
der Heilige Martin der irdische Vertreter des Erzengels Gabriel war. Am
bekanntesten ist die Legende vom Drachen, dem die libysche Königstochter
geopfert werden soll. Georg besiegt den Drachen und rettet die Jungfrau.
Velabro heißt Sumpf und es erscheint folgerichtig, dass die Kirche des Heiligen
in diesem Sumpfgebiet errichtet wurde. Immer wieder war sie bedroht von
Hochwassern. So kann man den Drachen auch als Personifikation bedrohlicher
Naturgewalten deuten, die Jungfrau als Stadtgöttin.
Bevor wir weiter gehen, kehren
wir in einer netten Trattoria gegenüber der Georgskirche ein und essen etwas.
Über die Via San Teodoro gelangen wir an die Südseite des Forum Romanums und
auf den Kapitolhügel. Es ist 17.00 Uhr, als wir den wunderschönen, von
Michelangelo entworfenen Platz zum ersten Mal betreten. Eindrucksvoll sind das
Reiterstandbildes des Kaisers Marc Aurel und die monumentalen Statuen der
Dioskuren. Dieter führt mich auf die Terrasse des Cafes der kapitolinischen
Museen, von der wir einen grandiosen Blick über Rom und die zahlreichen Kuppeln
der Kirchen haben.
Vom Kapitol laufen wir in der
Abenddämmerung zu unserem Hotel in der Via dei Portoghesi. Dabei machen wir
einen Abstecher in die 1584 geweihte Urkirche der Jesuiten, Il Gesu.
Hier herrscht ein anderer Geist.
Es ist der Geist der Gegenreformation und der illusionistischen Barockmalerei.
Unbehaglich wird es mir, als wir vor der Skulptur „Triumph des Glaubens“ von
Theodons stehen: Die Protestanten werden von einem strafenden Engel in die
Hölle gestürzt.
Es ist der Geist des päpstlichen Roms,
der hier zum Ausdruck kommt: nur der katholische Glaube erscheint als der
einzig rechtmäßige. Vom Gedanken der Toleranz findet sich im 17. Jahrhundert noch
keine Spur. Diese starre Haltung führte in vielen Städten zu den
Hexenverfolgungen, so auch in Ellwangen, wo von den damals 1600 Einwohnern fast
fünfhundert gefoltert und getötet wurden. Die Jahre 1610 bis 1618 waren die
schwärzeste Zeit in der Geschichte dieser Stadt. Der Fürstprobst Johann
Christoph von Westerstetten, der in seinem religiösen Wahn keine Grenzen mehr
kannte, war Jesuit. Die ganze Barockkunst ist von diesem intoleranten Geist
durchsetzt.
Mittwoch, 18. Februar 2015
Unser heutiges Ziel ist die Villa
Borghese. Dieter hat per Internet bereits Eintrittskarten gebucht. Zu Fuß
erreichen wir den Platz vor der Spanischen Treppe. Wir steigen die Treppe empor
und flanieren auf der Viale Trinita dei Monti mit einem fantastischen Blick
über die Dächer und Kuppeln Roms zur Piazza del Popolo.
An dem „Platz des Volkes“ endete
die von Norden kommende antike Römerstraße Via Flaminia. Hier betrat zum
Beispiel 1786 auch Goethe durch die Porta del Popolo die Ewige Stadt. Von hier
aus erreichte man über die Via del Corso das Zentrum Roms. Dabei musste man
zwischen zwei kuppelbedeckten Kirchen, die Santa Maria in Montesanto und die
Santa Maria dei Miracoli hindurch, die den Platz im Süden begrenzen. Im Norden,
unmittelbar hinter dem Stadttor befindet sich die Kirche Santa Maria del
Popolo, die wir besuchen. An dieser Stelle sollte einst ein Nussbaum gestanden
haben, in dem der Geist Kaiser Neros spukte. Statt die bedeutenden Kunstwerke
im Innern der Kirche zu betrachten, ziehe ich es vor, in einem Laubengang
gegenüber der Kirche einen Capuccino zu trinken. Er kostet nur einen Euro und
schmeckt dementsprechend.
Außerhalb des Stadttores steigen
wir in einen Bus ein und fahren am nördlichen Teil der Aurelianischen Mauer
entlang auf der Viale del Muro zum Park Borghese hinauf. An der Porta Pinciana
steigen wir aus. Am Eingang zum Park empfängt uns eine Statue des dänischen
Bildhauers Thorvaldsen, die dem englischen Schriftsteller Lord Byron (1788 –
1824) gewidmet ist.
Auf der Viale dei Museo Borghese
gehen wir direkt auf die berühmte Villa zu. Wieder begegnen wir dem Kardinal
Scipione Borghese, dessen Initialen uns am Vortag auf der Fassade von San
Sebastian zum ersten Mal aufgefallen waren. Es ist kurz vor 10.00 Uhr, als wir
unsere Eintrittskarten abholen. Kurz
danach beginnen wir unseren Rundgang durch die Ausstellungsräume. Unser erstes
Ziel ist die berühmte Darstellung der „Himmlischen Liebe und der Irdischen
Liebe“ von Tizian aus dem Jahre 1515, die ich bereits im Studium kennen gelernt
hatte und die eine wichtige Rolle in den Deutungen der Kunsthistoriker der
Warburg-Schule (Erwin Panofsky, Edgar Wind) spielt, die ihren neuplatonischen
Hintergrund aufschlüsselten.
Wir sehen zwei Frauen auf einem
antiken Sarkophag, der mit klarem Wasser gefüllt ist, sitzen: die linke ist
schön gekleidet und dem Betrachter zugewandt, die rechte zeigt ihre Blöße,
während ihr Rücken von einem roten Samtstoff umfangen wird. Sie schaut nach
links auf die Schale, die auf dem Brunnenrand steht und von der Bekleideten
gehalten wird. Sie hält in ihrer linken Hand ebenfalls eine Schale. Aus dieser
steigt Rauch auf. Das kostbare Gefäß der linken Frau ist verschlossen. Zwischen
den beiden Frauen, die auch als irdische und himmlische Venus (Aphrodite Urania
und Aphrodite Pandemos) gedeutet werden, bewegt ein nackter Cupido oder Amor
das Wasser des Brunnens mit seiner linken Hand. Vor ihm auf dem vorderen Rand
des Brunnens liegt eine dritte, silberne Schale, wie sie früher bei Taufen in
Baptisterien verwendet wurde. Auf der Frontseite des antiken Sarkophags
befinden sich Reliefs von Pferden und nackten Menschen. Edgar Wind
unterscheidet drei Szenen:
„Zum Verständnis der Symbolik mag
es nützlich sein zu untersuchen, an welcher Art von Brunnen die beiden Frauen
zusammengekommen sind. Dass es ein Brunnen der Liebe ist, wird durch die
Gegenwart Amors bedeutet, der sich über das Wasser beugt und damit spielt; doch
bieten die Reliefs, mit denen der Brunnen verziert ist, einen finsteren,
abschreckenden Anblick. Ein Mann wird gerade ausgepeitscht, eine Frau an den
Haaren fortgerissen und ein ungezäumtes Pferd an der Mähne weggeführt. Da das
Pferd ein platonisches Symbol sinnlicher Leidenschaft oder libido ist, bzw. auf das verweist, was Pico (della Mirandola) amore bestiale nannte, zeigen die wilden
Szenen der Züchtigung auf dem Brunnen der Liebe, wie animalische Leidenschaft
gezüchtigt und gezügelt werden muss. Solche Szenen der Gewalt, die als ein Stadium
in den Mysterien der Liebe galten, waren in heidnischen Initiationsriten
durchaus üblich, und der Renaissance mag ihre Darstellung in römischen
Mysterienkammern bekannt gewesen sein, von denen damals wohl mehr und gewiss
andere als die heute zugänglichen erhalten waren. Zwar dürfte nur schwer zu
bestimmen sein, in welchem Umfang diese geheimen Traditionen aus der Anschauung
bekannt waren, doch war die Hauptquelle vermutlich wieder literarischer Natur.
Ficino und Pico bekundeten beide ihr Wissen darum, dass die erste Stufe in den
heidnischen Initiationsriten der Liebe in der Reinigung von sinnlicher
Leidenschaft bestand, einem schmerzhaften Reinigungsritual, durch das der
Liebende auf seine Gemeinschaft mit Gott vorbereitet wurde. Zweifellos war es
eine Anspielung auf diese bei Apuleius recht ausführlich beschriebenen
Sühnequalen, wenn Renaissancekünstler im Zusammenhang mit Liebe so häufig
Symbole der Züchtigung verwenden …“ (Edgar Wind, Pagan Mysteries in the
Renaissance, 1958, 1981 deutsch, Heidnische Mysterien in der Renaissance,
Suhrkamp, Frankfurt am Main, dritte Auflage 1984, S 169 ff).
Es geht also bei dem Bild um das
Mysterium der Liebe. In der Antike kannte man drei Formen der Liebe: die
erotische Liebe (Eros), die Nächstenliebe (Caritas) und die Gottesliebe
(Agape). Es scheint mir, dass Tizian diese drei Stufen darstellen wollte. Da
sich hinter der bekleideten Frau mit dem geschlossenen Gefäß eine Landschaft
mit einer weltlichen Burg und zwei friedlich grasenden Hasen befinden,
interpretiere ich diese Gestalt als die Caritas, die ihren Reichtum mit anderen
teilt. Hinter der unbekleideten Frau erhebt sich in der Landschaft eine Kirche.
Zwei Jäger mit ihren Hunden jagen einen Hasen und ein Schäfer hütet seine
Schafe. Hier sehen wir in einer arkadischen
Idylle den „Guten Hirten“. Ich interpretiere die unbekleidete Frau, die eine
Opferlampe in den Himmel hält, als die höchste Form der Liebe, als Agape.
Verbunden sind die beiden Frauen durch die kleine Gestalt des Amors. Eros, die
erotische Liebe, bringt das Wasser des Lebens in Bewegung und speist so beide,
die Caritas und die Agape.
Das nächste Bild, das wir bewusst
ansteuern, ist Raphaels „Kreuzabnahme“ (1507).
Rechts im Hintergrund sieht der
Betrachter auf kahlen Felsen die drei Kreuze von Golgatha in den an dieser
Stelle bewölkten Himmel ragen, links ist der Eingang in das Felsengrab
angedeutet, in das der Gekreuzigte von einer Gruppe von zehn Personen gebracht
wird.
Wie wir auf der Rückfahrt im Zug
von einem Mitreisenden und Italienkenner, Martin Kiess, erfahren, hat Raphael
das Bild nach der Heiligen Tetraktys komponiert, einer Zahlenfolge, die auf
Pythagoras zurückgeht. Sie ergibt sich, wenn man die ersten vier Zahlen
summiert: 1 + 2 + 3 + 4 = 10. Der Leichnam Christi entspricht auf dem Bild der
Zahl eins. Er wird von zwei Personen getragen. Dahinter steht in großer seelischer
Anteilnahme eine Gruppe von drei Personen, vermutlich Johannes, Josef von
Arimathia und Maria Magdalena. Letztere umfasst zärtlich die Hand des Toten.
Tränen rinnen ihr aus ihren Augen. Rechts etwas abseits von der den Leichnam
begleitenden Gruppe kümmern sich drei weinende Frauen um die ohnmächtig
gewordene Maria. Diese Gruppe von vier Frauen steht unmittelbar unter den
Kreuzen im Hintergrund.
In dem Bild ist alles bewegt. Die
innere Bewegung wird durch die Gesten, ja selbst die Stellung der Füße
ausgedrückt. Auch die Farben tragen zu der Lebendigkeit der Szene bei.
In der Galleria Borghese sind
einige der berühmtesten Skulpturen Berninis ausgestellt. Wir bewundern
insbesondere die lebensgroße Doppelstatue „Der Raub der Proserpina“. Der Inhalt
der eleusinischen Mysterien wird hier eigentlich nicht mehr wirklich
verstanden, sondern recht sinnlich als die Entführung einer sich sträubenden
schönen Frau durch einen starken Mann dargestellt. Man meint die Eindrücke
seiner Hände in ihr Fleisch zu spüren, so lebendig hat Bernini den harten
Marmor bearbeitet. Das ist das eigentlich Sensationelle an dieser Skulptur.
Außerdem sieht sie von jeder Seite interessant aus, wo immer wir uns auch
aufstellen. Das ist Meisterschaft. Leider finden wir, bevor unsere Besuchszeit
abläuft, nicht mehr den Raum, in dem das andere Meisterwerk Berninis steht:
„Apollo und Daphne“. Ich habe es oftmals auf Abbildungen gesehen, aber diesmal
ist es mir nicht vergönnt, das Original in seiner ganzen Herrlichkeit zu
erblicken.
Unsere Besuchszeit ist gegen
12.00 Uhr zu Ende und wir setzen uns vor der Villa auf eine Bank und verzehren unser
Mittagessen. Die Wappentiere des Kardinals Borghese, der gekrönte Adler und der
fliegende Drache, die wir auch überall an den Decken der Säle der Villa gesehen
haben, bilden dabei die Umrahmung.
Wir verlassen den Park und nehmen
den Bus zum südlichen Teil der Altstadt. Bei der großartigen römischen Porta
Maggiore, einem Teil der Aurelianischen Stadtmauer, steigen wir aus. Dann
pilgern wir zur ältesten Papstkirche, zu San Giovanni in Lateran, also zur
Lateran-Basilika.
Ursprünglich stand auf dem Latifundium
der römischen Lateran-Familie eine Kaserne für die Elite-Reiterei des Kaisers.
312, noch vor dem Edikt von Mailand, überließ Kaiser Konstantin einen Teil der
Laterani-Gründe der römischen Christengemeinde. Papst Sylvester (314 – 335)
ließ hier die erste große Kultstätte in Form einer fünfschiffigen Basilika
errichten. Die architektonische Gestalt lehnte sich an die weltlichen römischen
Markthallen, zum Beispiel der Maxentius-Basilika auf dem Forum Romanum, an.
Der Typ der Lateran-Basilika
wurde später Vorbild für alle christlichen Bischofskirchen Roms und des
Abendlandes. So steht über dem Eingangsportal noch heute der Hinweis: SACROS
LATERAN ECCLES OMNIUM URBIS ET ORBIS ECCLESIARUM MATER ET CAPUT ( Die Heilige
Laterankirche ist die Mutter und das Haupt aller Kirchen der Stadt und des
Erdkreises).
San Giovanni in Laterano war die
erste Kirche des Papstes als Bischof von Rom. Die Kirche war ursprünglich dem
Erlöser (Salvator) geweiht. Nachdem sie 897 durch ein Erdbeben weitgehend
zerstört worden war, ließ sie Papst Sergius III. (904 – 911), ein wenig
christliches Kirchenoberhaupt, wieder aufbauen und den beiden Johannes,
Evangelista und Baptista, weihen.
Die Kirche und der benachbarte
Bischofspalast blieben (zum Teil verwaiste) Papstresidenz bis zur Rückkehr von
Papst Gregor XI. aus Avignon im Jahre 1377. Dieser Papst verlegte die Residenz
damals in den besser befestigten Vatikan.
In den Jahren 1647 bis 1650 ließ
Papst Innozenz X. die baufällig gewordene Basilika von dem berühmten
Barock-Baumeister Francesco Borromini, dem Konkurrenten Berninis, renovieren
und den Innenraum barockisieren.
In den beiden Kopfreliquiaren
über dem Hauptaltar sollen sich die Schädel der Apostelfürsten Petrus und
Paulus befinden, die an dieser Stelle verehrt wurden.
Mir gefällt die barocke
Prachtentfaltung dieser fünfschiffigen Großkirche nicht besonders. Sie ist mir
zu weltlich und zu sinnlich und ich muss wieder an den Satz Christi dabei
denken: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt:“ Es ist für mein Gefühl ein
tragisches Missverständnis, wenn sich die „Stellvertreter Christi“ auf Erden,
die Päpste, den Auftrag Christi an seine Jünger nach der Auferstehung zu eigen
gemacht haben: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“.
Solche Kirchen sind für mich
nichts anderes als Anmaßungen und bewusste Machtdemonstrationen. Hier kommt der
„Cäsaro-Papismus“, die Vermischung von Geistigkeit und Weltlichkeit, zum
Ausdruck.
Wie anders wäre die Institution Kirche
geworden, hätte sie sich tatsächlich an Johannes dem Täufer und an Johannes dem
Evangelisten orientiert. Der erste war „die Stimme eines Predigers in der
Wüste“, der den Mut hatte, sich den Mächtigen entgegenzustellen und dafür von
Herodes im Auftrag seiner Frau enthauptet wurde. Der zweite war im Grunde der
geistigste Christ überhaupt, der wie ein Adler auf das Menschengeschehen und
den erlösenden „Logos“ herabschauen konnte. Er war der einzige, der unter dem
Kreuz stand und den letzten Auftrag Christi vor seinem Tod empfing: „Das ist
Deine Mutter…“
Im Grunde geht das ganze
esoterische Christentum auf diese beiden Künder zurück. Joachim von Fiore, der
die Heilsgeschichte in drei Etappen einteilt, hat das johanneische Christentum
als die Zeit des Heiligen Geistes bezeichnet, die auf das petrinische
Christentum, die Vaterreligion, und das paulinische Christentum, die
Sohnesreligion, folgt. Mit dem petrinischen Christentum kann die katholische
Kirche, mit dem paulinischen die evangelische Kirche gemeint sein. Das
johanneische Christentum lief immer parallel zu den beiden anderen und wird sie
vielleicht in der Zukunft ablösen. So spricht Christus zu Petrus, als dieser
ihn nach Johannes fragt: „Wenn ich will, dass er bleibe, bis ich komme, was
geht es dich an.“ (Joh. 21, 22)
Im Grunde haben wir in dieser „Mutter
aller Kirchen“ alle drei vereint: Petrus, Paulus und Johannes; allerdings, wie
so vieles in der Kirche, nur äußerlich und symbolisch. Der eigentliche Sinn ist
schon lange verlorengegangen und kann im Grunde erst seit dem Wirken Rudolf
Steiners wieder gefunden werden. Dabei ist es erstaunlich, dass ausgerechnet
Johannes der Täufer in seiner Inkarnation als Raphael in der Zeit der
Renaissance (Wiedergeburt) für die Papstkirche seine herrlichen Kunstwerke
geschaffen hat, durch die der wahre Geist des Christentums hindurchzuscheinen
vermag. Aber es war nur ein kurzes Aufleuchten, bevor der Geist des Jesuitismus
in der Barockzeit von der katholischen Kirche Besitz ergriff. Renaissance und
Barock sind die beiden Antipoden, auf die wir in der auf antiken Ruinen und
antiken Mysterienkulten wiederaufgebauten Stadt immer wieder stoßen. Man kann
auch sagen: Geistnähe und Geistferne. Wo in der Renaissance (Raphael,
Michelangelo, Leonardo) noch geistiger Inhalt vorherrschte, wird in der
Barockzeit (Borromini, Bernini) vor allem der Kult um die schöne Form gepflegt.
Dieter lädt mich ein, noch den
Kreuzgang zu besichtigen und zahlt meine Eintrittskarte (5 €). Der Kreuzgang
mit seinen fein gearbeiteten Doppelsäulen und Einlege-Arbeiten (Cosmaten)
strahlt eine ganz andere Atmosphäre aus als die Kirche. Es ist die Stimmung der
gotischen, hochmittelalterlichen Frömmigkeit, einer Innerlichkeit, die zu der
barocken Äußerlichkeit in einem krassen Kontrast steht.
Nach dem Besuch der
Lateran-Basilika trennen wir uns. Dieter will zurück ins Hotel, ich möchte noch
einige weitere Kirchen anschauen.
So wandere ich zum ersten Mal
alleine durch Rom, was auch eine schöne Erfahrung ist. Als erstes trinke ich in
einem kleinen Cafe an der Weggabelung in Richtung der Kirche San Clemente,
meinem nächsten Ziel, den besten Capuccino Roms für einen anständigen Preis.
In San Clemente befand sich wohl
bereits im 2. Jahrhundert nach Christi ein geheimer Kultraum der christlichen
Sekte, wohl gleich neben dem Kultraum der Mithras-Anhänger. Ob es auch geistige
Beziehungen zwischen diesen beiden Kulten gab, muss offen bleiben. Auffallend
ist, dass sie den Tag der Geburt ihres Gottes, den 25. Dezember, gemeinsam
haben.
Das Mithräum in der zehn Meter
unter dem Erdboden befindlichen Unterkirche fasziniert mich besonders. Meinen
Zugang zu der Mithrasreligion fand ich, als ich im Oktober 1984 die Schilderung
einer Einweihung in die Mithrasreligion in der Biographie Kaiser Julian
Apostatas von Jacques Benoist-Mechin las. Das hat damals eine tiefere Schicht
in mir angerührt, die jedes Mal wieder lebendig wird, wenn ich vor einer
Mithras-Darstellung stehe. Die schönste befindet sich meiner Meinung nach im Museum
beim Römerkastell von Osterburken. Eine Kopie davon zeigt das Limesmuseum in
Aalen. Es sind vor allem die kosmologischen Bezüge, die mich ansprechen: die
Tierkreissymbole, die Darstellung von Sonne und Mond, der Hund, der den Stier
in den Hals beißt und der Skorpion, der ihn in den Hoden sticht. Nicht zuletzt
verwundert mich die „phrygische Mütze“, die der Gott auf allen Darstellungen
auf dem Haupt trägt, ein Zeichen des Eingeweihten, das dann die Jakobiner in
der Französischen Revolution wieder aufgriffen als Jakobinermütze.
In der Unterkirche gibt es einige
interessante Fresken aus dem 11. Jahrhundert. Auf einem erkennt man die
Heiligen Kyrill und Method, die die Gebeine des Heilgen Clemens, dem dritten
(oder zweiten) Nachfolger Petri als Bischof von Rom, über dessen Privat-Haus die Kirche erbaut
worden ist, von der Halbinsel Krim, wo der Heilige gestorben ist, nach Rom
überführt haben sollen. Das war in der Zeit, als in Konstantinopel im achten
ökumenischen Konzil der „Geist abgeschafft“ wurde und Parzival im Westen nach
dem Gral suchte.
Auch die Oberkirche gefällt mir,
eine romanische Basilika aus dem 12. Jahrhundert mit schönen Mosaiken aus der
gleichen Zeit. In der Apsis gibt es eine schöne Darstellung des Kreuzes, das ganz von
floralen Mustern umgeben ist, die aus einer Vase mit Akanthusblättern
entspringen, die unter dem Kreuz steht.
Das Kreuz wird als Baum des
Lebens verstanden und es beherbergt neben dem Christus zwölf weiße Tauben.
Vögel und andere Tiere bevölkern auch die spiralförmigen Ranken, die sich in
zweimal fünf Stufen in der Höhe und in der Breite vom Kreuz entfernen. Es ist
ein wahres Meditationsbild. Hier scheint schon im Tod das Leben aufzublühen. Der
Tod ist ganz in das ätherische Leben getaucht. Kein Schrecken geht von diesem
Kreuz aus.
Unter dem Kreuz umgeben zwölf
Lämmer das Lamm Gottes, das „die Sünde der Welt trägt“ und zeigen wieder an,
wie sich das Christentum selbst verstand: nicht durch Symbole der Macht wie
Adler oder Löwe wird es dargestellt, sondern durch Symbole der Demut und des
Dienens.
Die Apostelfürsten Paulus und
Petrus, mit ihren griechischen Namen („Agios Petrus“ und „Agios Paulus“) umrahmen
den „Baum des Lebens am oberen Rand des Apsis-Mosaiks, das bestimmt neben den
Mosaiken von Ravenna zu den hervorragendsten Arbeiten jener Zeit gehört. Leider
nehme ich mir auch hier nicht die Zeit, mich ganz in diese Bilder zu vertiefen.
Aber so ist es. Von vielen römischen Wundern kann ich nur einen Abglanz
erhaschen, bevor ich zum nächsten schreite.
Mein Weg führt mich über den
Esquilin-Hügel, auf dem sich einst das Goldene Haus (Domus Aurea), der neue
Palast des Kaisers Nero nach dem Brand von Rom (64 n.Chr.) befand, zur nächsten
Kirche, San Pietro in Vincoli. In dieser Peterskirche treffe ich wieder auf ein
berühmtes Kunstwerk erster Güte. Es ist die Moses-Darstellung Michelangelos,
eine sitzende Monumentalstatue, die in einer Architektur thront, von zwei
weiblichen Figuren (Rahel und Lea) umgeben. Aus seinem Haupt wachsen deutlich
die zwei Hörner, die eigentlich Lichtstrahlen sind und auf seine Eigenschaft
als eingeweihten Gottesmann deuten. Den mächtigen Marmorbart hält der
muskulöse, nur mit einem Untergewand bekleidete Moses mit seiner rechten Hand
so, dass er die nackte Brust freigibt. Die Skulptur schmückt das Grabmal Papst
Julius II, dessen Titularkirche San Pietro in Vincoli war, als er noch Kardinal
(Giuliano della Rovere) war. Michelangelo hatte für dieses Grabmal auch die
beiden berühmten (unvollendeten) Skulpturen der Sklaven geschaffen, die sich
heute im Louvre befinden.
In der Kirche befindet sich auch
das Grab des Kardinals Nikolaus von Kues, dessen Titularkirche San Pietro einige
Jahrzehnte vor Giuliano dalla Rovere war. Er hat hier als relativ armer
Kurienkardinal ab 1458 sein letztes Lebensjahrsiebt verbracht und ist am 11.
August 1464 in der Nähe der Stadt, in Todi, gestorben. Sein Grabmal befindet
sich schräg gegenüber der mächtigen Moses-Skulptur von Michelangelo.
Ekkehard Meffert, der Bonner
Geographie-Professor und Biograph des Nikolaus von Kues (Sein Lebensgang, Seine
Lehre vom Geist, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1982) zeigt in seinem
gründlichen Werk die vielen philosophischen, geisteswissenschaftlichen und
schicksalsmäßigen Bezüge zwischen dem „Cusanus“, dem Wegbereiter der
Bewusstseinsseele, und Rudolf Steiner auf (dritter und vierter Teil).
Meffert führt aus: „Insbesondere
aber hat Cusanus eine ganz enge innere Beziehung zur Strömung des esoterischen
christlichen Platonismus, der bei Dionysius Areopagita seinen Ausgang nimmt und
über Johannes Scotus Eriugena zur Schule von Chartres zieht. Gerade die innige
Verbindung von Platonismus und Christentum gibt der Philosophie des Cusanus
ihre Innerlichkeit. Dazu stimmt auch die Beziehung des Cusaners zur Mystik. Für
die Mystiker war ja wiederum das esoterische Christentum das zentrale Anliegen.
Das schauende, bildhafte Element der platonischen Philosophie verschmilzt in der
deutschen Mystik mit dem Christentum zu einer Einheit. Die Mystiker zeichnen
sich durch eine Wärme des Fühlens aus. Dabei wird das Fühlen zur inneren
Selbstversenkung (Johannes Tauler), und Christus wird der Führer auf diesem Weg
nach innen (Meister Eckhart). (…) Devotion, persönliche Bedürfnislosigkeit und
das Streben nach einer mystischen Verinnerlichung des Christentums sind
zweifellos Elemente der Seelenhaltung des Cusanus.“ (S 360f).
Welch ein Gegensatz zu der
äußeren Macht- und Prachtentfaltung des römischen Papsttums, symbolisiert in
den beiden sich gegenüberliegenden Grabmälern in San Pietro in Vincoli!
In den beiden Romführern, die mir
vorliegen (Vis a Vis Rom, Dorlingskinderly, London, New York, München
Melbourne, Dehli, 2014/15 und ADAC-Reiseführer, Rom, von Herbert Rosendorfer,
München 2015) wird der Kardinal aus Bernkastel-Kues nicht einmal erwähnt.
Ein Glasbehälter unter der
Confessio birgt die Ketten (Vincoli), mit denen Petrus laut Apostelgeschichte
im Gefängnis von Jerusalem gefesselt war. Seine Befreiung aus dem Gefängnis
durch einen Engel hat Raphael in den Stanzen der Vatikanischen Museen in einem
Fresko dargestellt.
Wieder spüre ich „Mysterienluft“.
Wieder stelle ich mir die Frage: Könnte es nicht sein, dass Michelangelo selbst
in einem früheren Leben der Apostelfürst Petrus gewesen ist? Von Rudolf Steiner
wissen wir, dass Moses eine frühere Inkarnation von Johann Wolfgang Goethe war,
der selbst vom 1. November 1786 bis zum 22. Februar 1787 und vom 8. Juni 1787
bis zum 24. April 1788 in der Ewigen Stadt weilte. Und könnte der Führer des
hebräischen Volkes nicht der gleiche sein, auf dem Christus seine Gemeinde
aufrichten wollte und den er deshalb „Fels“ (Petrus) nannte? War es nicht
Michelangelo, der den härtesten Felsen, den Marmor, bezwang, und in ihm so
wunderbare Gestalten wie den Moses (Rom), den David (Florenz), und die zarte
Maria mit dem toten Christus (Pieta, Rom, Sankt Peter) entdeckte und befreite?
Als letzte Kirche an diesem Tag
besuche ich die Kirche Sant‘ Ignazio de Loyola ganz in der Nähe des Pantheon
auf dem Marsfeld. Diese Kirche ist neben Il Gesu die zweite große
Jesuitenkirche in Rom. Wieder fasziniert die illusionistische barocke
Deckenmalerei, besonders die Darstellung der vier damals bekannten Erdteile,
aber sie lässt mich nach all den großen Eindrücken von San Clemente und San
Pietro in Vincoli eher kalt. Es ist Nacht, als ich in unserem Hotel eintreffe.
Donnerstag, der 19. Februar 2015
Am Vormittag haben wir an diesem
Donnerstag den Petersdom eingeplant. Wir gehen bereits in der Morgendämmerung
los, damit wir rechtzeitig am Eingang sind, bevor der Hauptstrom der Touristen
eintrifft, wie wir es am ersten Tag gesehen hatten. Dennoch müssen wir fast
eine Stunde warten, weil jeder Besucher auf Metallgegenstände untersucht wird.
Wir wandeln durch den riesigen
Bau ohne Führer und lassen uns nur von unseren Intuitionen leiten. Es ist wie
eine Welt für sich. Der Hauptanziehungspunkt ist die Pieta (1499/1500) von
Michelangelo, die aber nur aus der Ferne zu betrachten ist. Ansonsten ist der
Kirchenraum angefüllt mit prunkvollen Grabmälern zahlreicher Päpste.
Der Petersdom hinterlässt abermals
einen zwiespältigen Eindruck bei mir. Er gehört zu Rom wie die Grabeskirche zu
Jerusalem. Petrus, der den Herrn dreimal verleugnet hat und doch von ihm
gewürdigt wurde, die „Schlüssel zum Himmelreich“ zu hüten, wurde der Anführer
der ersten christlichen Gemeinde. „Auf diesen Fels“ wollte Christus seine
Gemeinde bauen. Hier im Petersdom ist alles „Fels“, wenn auch aus dem kostbaren
Marmor bestehend. Keine Spur von Reue und Bescheidenheit. Hier verlässt die
katholische Kirche alles menschliche Maß. Der Mensch erscheint klein und
verloren in diesen übermenschlichen Dimensionen. Eigentlich ist der Schmerz der
Maria über ihren toten Sohn von Michelangelo der einzige menschliche Moment in
dieser Inszenierung von Macht. Dass auch die Kuppel des Petersdoms von dem
großen Künstler entworfen wurde, möchte man dabei fast vergessen. Warum dieses
Wetteifern, wer die größte und höchste Kuppel hat?
Rom erinnert an jeder Ecke an den
vergangenen Glanz des einmal weltbeherrschenden römischen Reiches. Heute sind
die ehemaligen Bauten nur noch Ruinen. Dann erinnerten sich die italienischen
Fürsten, allen voran die Kirchenfürsten, an den Glanz alter Zeiten und versuchten,
ihn im Zeitalter der Renaissance wieder zur Blüte zu bringen. Sie ahmten antike
Kunstwerke nach und fanden neue überraschende Lösungen. So wurde auch der
ursprüngliche Petersdom, eine fünfschiffige Basilika, abgerissen, und unter den
Päpsten des späten 15. Und des 16. Jahrhunderts über einem griechischen Kreuz als
neue, größere Kirche neu errichtet. Erst am 18. November des Jahres 1626, zum
1600. Jahrestag der Weihe der ersten Basilika, wurde der Neubau mitten im
Dreißigjährigen Krieg unter Papst Urban VIII. eingeweiht.
Der eigentliche Skandal dieses
Neubaus der päpstlichen Hauptkirche war aber seine Finanzierung. Der sogenannte
„Peterspfennig“, der in ganz Europa durch den Ablasshandel eingenommen wurde,
diente zu seiner Errichtung. Auch wenn man diesen Brauch aus der damaligen Zeit
her verstehen kann, als den Menschen das Leben im Jenseits noch wichtiger war,
als das Leben im Diesseits, so war dieser Handel doch ein untrügliches Zeichen
für die spirituelle Dekadenz der damaligen katholischen Kirche und es ist kein
Wunder, dass es in der Folge zur Reformation durch Martin Luther kam.
Der Petersdom und die Reformation
gehören für mich untrennbar zusammen. Die Macht der katholischen Kirche war
hohl geworden und die Menschheit rief nach einer Vergeistigung des Glaubens,
unabhängig vom Papst. Allerdings war auch der „neue Glaube“ keine wirkliche
Vergeistigung, sondern eine Intellektualisierung. Aber diese war notwendig auf
dem Weg der Menschheit zur Freiheit. Mit der Reformation setzte der Übergang
vom petrinischen zum paulinischen Christentum ein. Nicht mehr Petrus war nun
das spirituelle Oberhaupt der Kirche, sondern Paulus, auf den sich Luther in
vielen seiner Schriften besonders berief.
Das johanneische Christentum
blieb noch ganz im Hintergrund. Wenn man an die Zeit der Neubaupläne des
Petersdoms in den 50er Jahren des 15. Jahrhunderts denkt, dann kann man auch an
die Einweihung Christiani Rosencreutz‘ „anno 1459“ denken. Christian
Rosenkreutz ist der Legende nach im Jahre 1484, ein Jahr nach dem Geburtsjahr
von Martin Luther, gestorben. Die Fassade der Peterskirche wurde in den Jahren
ab 1614 von dem Barockbaumeister Carlo Maderno ausgeführt. In diesen Jahren wurden in Europa die drei
Rosenkreutzer-Schriften veröffentlicht. 1614 erscheint zuerst die „Fama Fraternitatis“, in der der Name
des C.R. zum ersten Mal öffentlich genannt wird. Die Rosenkreutzer wollten eine
„General-Reformation“ einleiten, die dann leider durch die Machenschaften der
Jesuiten, die zum Dreißigjährigen Krieg führten, vereitelt wurde. Die Jesuiten
sind die eigentlichen
Widersacher der Rosenkreutzer und des johanneischen Christentums.
Nach der Besichtigung des
Petersdomes fahren wir mit dem Bus zu den Thermen des Diokletian, in denen sich
heute ein Teil des „Museo Nazionale Romano“ befindet. Den Grundstock bildeten
die Kollektionen des Jesuitenzöglings und Kardinals Ludovici Ludoviso (1595 –
1632), der die Katholische Liga im Dreißigjährigen Krieg und den bayerischen
Herzog Maximilian unterstützte und die Jesuitenkirche Sant Ignazio finanzierte,
und des deutschen Jesuiten Athanasius Kircher. Eigentlich suche ich die „Venus
Ludovisi“, die in Max Frischs „Homo
Faber“ beschrieben wird. Aber sie befindet sich nicht in diesem Gebäude des
„Museo Nazionale“, sondern im Palazzo Altemps, den wir im Anschluss besuchen.
Wir gehen relativ zügig durch die Ausstellung in den Diokletian-Thermen. Wieder
faszinieren mich die dort ausgestellten Mithras-Darstellungen und eine Statue
der ägyptischen Göttin Isis. Hier, in den weltlichen Thermen, in denen über
3000 Menschen ihrem Badevergnügen nachgehen konnten, stoße ich auf Relikte
antiker Esoterik.
Nach dem Besuch der Diokletian-Thermen
werfen wir noch einen Blick in die Klosterkirche der Kartäuser, „Santa Maria
degli Angeli“. Der Kirchenraum wurde vom greisen Michelangelo, dessen letztes
Werk er ist, in die antiken Thermen integriert. Mein besonderes Interesse gilt
dem quer durch die Kirche laufenden Meridian Roms, der „Linea Clementina“ aus
dem Jahre 1703. Eine Öffnung hoch oben in der Wand gestattet es der Sonne zu
bestimmten Zeiten, die astronomische Position im Tierkreis anzuzeigen. Diese
Verbindung eines Meridians mit einer Kirche erinnert mich an Saint Sulpice in
Paris, durch die der ursprüngliche Null-Meridian, die sogenannte „Rosenlinie“,
verlief.
Mit dem Bus fahren wir zurück in
die Nähe unseres Quartiers, wo sich nördlich der Piazza Navona auf der Piazza
Sant‘ Apollinare der Palazzo Altemps befindet, ein erstaunlich gut bestücktes
Museum. Hier finde ich endlich die gesuchte Venus-Darstellung aus dem 5.
Vorchristlichen Jahrhundert, die ich aus „Homo Faber“ kenne. Ich zitiere aus
dem ADAC-Führer (S74):
„Faszinierend und zugleich
rätselhaft ist der Trono Ludovisi. Das Marmorrelikt wurde 1887 auf dem
Grundstück der Villa Ludovisi in Rom gefunden und von der Forschung als
griechisches Meisterwerk des Strengen Stils (460 v. Chr.) identifiziert. Seine
lyrischen Reliefdarstellungen entziehen sich bis heute einer eindeutigen
Interpretation, da deren Ikonographie mit keinem anderen Werk der Antike
vergleichbar ist. Während auf der linken Wange des Throns ein die Doppelflöte
spielendes Mädchen sitzt und auf der rechten eine mit Weihrauch hantierende
Dame, zeigt das Hauptbild wohl eine Göttin (Aphrodite oder Persephone), die von
zwei Dienerinnen an den Achseln aus der Tiefe gezogen wird.“
Hier wird also bei der
Interpretation des Reliefs noch offen gelassen, ob es sich bei der
Dargestellten um Venus oder um Persephone handelt
Die Beschriftung im Museum
dagegen legt sich fest: „ Die Vorderfront des dreiseitigen Reliefs zeigt die Geburt
der Venus aus dem Schaum des Meeres. Dabei wird sie von zwei Horen gehalten,
Gottheiten der Natur und der Jahreszeiten, von denen die linke ein Peplum und
die rechte ein Chiton trägt. Auf der rechten Seite spielt eine junge, nackte
Frau die Doppelflöte, auf der linken Seite füllt eine bekleidete Frau Weihrauch
in ein Gefäß. Beide Frauenfiguren wurden als Aphrodite-Priesterinnen
interpretiert, wobei die eine die weltliche, die andere die himmlische Liebe
repräsentiert.“ (Übersetzung aus dem Englischen von mir).
Damit wären wir wieder bei dem
Thema, das etwa zweitausend Jahre später auch Tizian in seinem berühmten Bild
in der Villa Borghese dargestellt hat.
In dem flötenspielenden Mädchen
sieht Homo Faber seine Geliebte und Tochter Sabeth, die auch Flöte spielt und
in der frontalen weiblichen Figur, die aus der Tiefe aufsteigt, die
Liebesgöttin. Es kann aber genauso gut Persephone sein, die im Sommerhalbjahr
aus der Unterwelt zurückkehrt, in die sie Hades entführt hat.
In dem Roman „Homo Faber“ wird
dieses eleusinische Mysterium in einer modernen Form variiert. Das ist für mich
das Faszinierende an dem Roman. Walter Faber ist im Grunde Hades, der seine
eigene Tochter, Sabeth, ins Reich des Todes entführt. Hannah, die Mutter, ist
aber im Gegensatz zu Persephones Mutter Demeter ohnmächtig, ihre Tochter wieder
zurückzuholen, auch wenn es nur für ein Sommerhalbjahr ist. So bricht der ewige
Winter über die moderne Welt herein, der Winter der Todestechnik, für die Faber
steht. Die Auferstehung Persephones findet rein innerlich statt, weil Faber
plötzlich, angeregt durch das Vorbild seiner Tochter, poetisch wird.
Es bereitet mir eine unglaubliche
Befriedigung, dieses Relief hier in diesem schönen Palazzo zum ersten Mal im
Original zu sehen, und zwar mit den Augen Max Frischs, der seinen Roman im
Jahre 1957 spielen lässt. Der mythologische Hintergrund des Romans hat sich mir
erst erschlossen, nachdem ich das Buch schon mehrmals in der 11. Klasse des
Gymnasiums mit meinen Schülern gelesen hatte. Immer mehr gelang es mir im Laufe
der Jahre, in die Welt dieses Romans einzutauchen und seitdem ist er Teil
meines Lebens.
Das Relief von der „Geburt der Venus“
berührt mich deshalb so sehr, weil es ein Urbild der „Entschleierung“ ist.
Entschleierung und Verschleierung halten sich in dem Moment der Darstellung
exakt das Gleichgewicht.
Neben vielen anderen großartigen
antiken Statuen und Reliefs, die wir im Vorüberschreiten anschauen, gefällt mir
besonders ein weiteres Werk, das ich aus „Homo Faber“ kenne und das ich hier
zum ersten Mal im Original sehen darf: der „Kopf der schlafenden Erinnye“.
Wieder umweht mich so etwas wie
Mysterienstimmung. Dabei hilft, dass relativ wenig Besucher dieses Museum
bevölkern und wir zeitweise ganz unter uns sind. Ich fühle mich wie herausgehoben
aus dem Großstadtgetümmel und seinem Lärm. Dieser Palazzo ist eine Oase des
Friedens und der Schönheit, viel mehr als es bei der Villa Borghese der Fall
war.
In der Ludovisi-Kollektion im
Palazzo Altemps befindet sich auch die römische Kopie einer von Alexander dem
Großen selbst in Auftrag gegebenen Bronze-Büste des Aristoteles.
Es ist ein
Zeichen unserer tiefen Verehrung für diesen großen Geist, die uns vor diesem
Bildnis verweilen lässt. Ob Kaiser Hadrian, der diese Kopie anfertigen ließ,
geahnt hat, dass er dieser Individualität zu Beginn des 20. Jahrhunderts als
Ludwig Polzer-Hoditz wiederbegegnen würde?
Der antike Philosoph ist wahrhaft
ein Riese, auf dessen Schultern alle nachfolgenden Philosophen Platz hätten.
Wir betrachten noch weitere
berühmte Skulpturen aus der Sammlung, so zum Beispiel die Ludovisische Juno,
die über Goethe, der eine Kopie von ihr erwarb, zum großen Vorbild der klassizistischen
Bildhauer des 18. Jahrhunderts wurde, und natürlich die antike Statue „Tod der
Galatea“, die man zusammen mit einer zweiten, „Tod des Galliers“, in den
ehemaligen Gärten Caesars, auf denen später die Villa Ludovisi errichtet wurde,
gefunden hat.
Zu Mittag kehren wir in ein
günstiges Restaurant auf der Piazza Saint Apollinare ein. Anschließend mache ich
allein noch einen kurzen Abstecher zur gotischen Dominikaner-Kirche Santa Maria
sopra Minerva, in der sich das bescheidene Grab des Malers Fra Angelico
befindet. Die Kirche, in der auch die Heilige Katharina von Siena ihre letzte
Ruhestätte fand, wurde über einem antiken Minerva-Tempel erbaut. Ich bewundere
auch den Obelisk vor dem Eingang, der von einem Elefanten getragen wird. Diese
außergewöhnliche Konstruktion geht auf einen Entwurf Berninis zurück.
Ich mache mich an diesem
Nachmittag allein auf den Weg: über die Via del Corso, die Verlängerung der
antiken Via Flaminia, gelange ich zur Piazza del Popolo, die mich irgendwie
anzieht. Ich möchte noch einmal die Kunstwerke in der Kirche Santa Maria del
Popolo besichtigen.
„Die Renaissance-Kirche, die
Papst Sixtus IV. della Rovere 1472 errichten ließ, birgt einige der
großartigsten Kunstschätze Roms“ (DK-Führer, S 140). Der Bau der ersten Kirche
ist 1099 unter Papst Paschalis II über den Gräbern der Familie Domitia
errichtet worden, zu der auch Kaiser Nero gehörte. An der Stelle, wo seine Urne
lag, wuchs später ein Walnussbaum. Die Raben, die in dem Baum lebten, galten
der Legende nach als Dämonen, die Nero wegen seiner furchtbaren Untaten – unter
anderem die Kreuzigung Petri – quälten. Papst Paschalis (1099 – 1118) hörte
davon, ließ fasten und beten und hatte am dritten Tag eine Marienvision. Ihm
wurde „befohlen“, den Baum zu fällen und an seiner Stelle eine Marienkirche zu
errichten. Dadurch wurde der Ort von den Dämonen, die auch die Passanten der
Porta del Popolo belästigten, befreit.
In der Cerasi-Kapelle links vorne
hängen einander gegenüber zwei Meisterwerke des Barock-Malers Caravaggio: „Die
Kreuzigung des Heiligen Petrus“ und „Die Bekehrung des Heiligen Paulus“.
Die grelle Beleuchtung und die
ungewöhnliche Perspektive sind typisch für den etwas exaltierten Stil dieses
merkwürdigen Meisters des Frühbarock (1571 – 1610), der eigentlich Michelangelo
Merisi hieß. Er hat das „Chiaroscuro“ (Hell-Dunkel) erfunden. Sein Leben ist
von Legenden umrankt. Er malte im Auftrag vieler geistlicher Würdenträger,
darunter auch des Kardinals Scipione Borghese. Wegen eines Totschlages wurde
Caravaggio 1606 aus Rom verbannt, lebte einige Jahre auf der Insel Malta, wo er
Mitglied des Malteserordens wurde, dann in Neapel und starb schon mit 38
Jahren.
Caravaggio hat immer wieder Maria
Magdalena gemalt, zum Beispiel „Die reuige Magdalena“ (Maddalena penitente, Rom,
Galeria Doria Pamphilj), „Martha bekehrt Magdalena“ oder auch „Magdalena in
Extase“. Dabei stand ihm eine Prostituierte, von der man sogar den Namen kennt,
Modell. Dieselbe Prostituierte stand auch Modell für die Pilgermadonna aus der
Cavaletti-Kapelle in der Kirche Sant‘ Agostino, die wir am ersten Tag unserer
Rom-Reise besichtigten. Der Kunsthistoriker Boris von Brauchitsch stilisierte
Caravaggio zum „Antipoden des schönen, reinen, göttlichen Raphael“.
Auch in dieser Kirche gibt es
neben den beiden Werken Caravaggios wieder etwas von Raphael zu bewundern.
Dieses Mal handelt es sich nicht um Malerei, sondern um Architektur. Die auf
einem kreuzförmigen Grundriss erbaute Grab-Kapelle wurde für den römischen
Bankier Agostino Chigi nach Plänen Raphaels errichtet und ist sozusagen eine
Miniaturausgabe des Petersdoms.
Agostino Chigi (1466 – 1520) war
der Bankier dreier Päpste (Alexander VI., Julius II. und Leo X.) und
Auftraggeber und Mäzen Raphaels und anderer Künstler. Er starb am 10. April
1520, nur vier Tage nach Raphael, und wurde, außergewöhnlich für einen Bankier,
wie ein Geistlicher in einer eigenen Kapelle begraben, eben der Chigi-Kapelle.
Nicht nur die Architektur, sondern auch die Ausstattung und das Bildprogramm
der Kapelle gehen auf Raphael zurück. Dabei werden christliche Vorstellungen
mit Gedanken aus Platons „Timaios“ verknüpft. Dazu gehören die Kuppel-Mosaiken.
Sie zeigen Gottvater, den „Schöpfer des
Firmaments“ in der zentralen Kuppel. Das Bild erinnert mich an Michelangelos
kräftige, Licht und Finsternis trennende Schöpfergestalt aus der Sixtinischen
Kapelle. Gottvater ist umgeben von der Sonne und den Allegorien der sieben
Planeten. Die Mosaiken wurden nach seinen Kartons noch zu Lebzeiten Raphaels 1516
von dem Venezianer Luigi di Pace ausgeführt.
Auch zwei von den vier Statuen
gehen auf Raphael zurück. Sie wurden 1516 in seinem Auftrag von dem Florentiner
Bildhauer Lorenzetti geschaffen und zeigen Jonas (mit dem Wal) und Elias.
Wieder erschließt sich mir der symbolische Hintergrund der Figuren: Es sind
Allegorien der Elemente Wasser (Jonas, der drei Tage im Bauch eines Wals
überlebte) und Feuer (Elias, der mit dem feurigen Wagen zum Himmel fuhr). Sie
stehen aber auch für die Initiation, wie ich an anderer Stelle schon bemerkt
habe: für die „Wasserprobe“ und für die „Feuerprobe“.
Auf Veranlassung eines
Nachkommens von Agostino Chigi, Fabio Chigi, der 1655, mitten im
Dreißigjährigen Krieg, als Papst Alexander VII. auf den Thron Petri stieg,
musste die Kapelle in den Jahren 1652 bis 1656 von Gian Lorenzo Bernini im
Zeitgeschmack des Barock umgestaltet werden. So entstanden die zwei weiteren
Skulpturen, die heute noch zu besichtigen sind: Berninis „Daniel in der
Löwengrube“ (Element Erde) und „Habakuk und der Engel“ (Luft)
.
Für den Rückweg wähle ich die Via
di Ripetta, die mich an der Ara Pacis und am Mausoleum des Kaisers Augustus
vorbeiführt.
Die Bruchstücke des
Friedensaltars wurden seit dem 16. Jahrhundert zusammengetragen und ab 1938
begann man, den Altar in einem Pavillon
wieder aufzubauen. Heute befindet er sich in einem 1999 errichteten modernen
Gebäude des Architekten Richard Meier. Mit dem Friedensaltar wollte der erste
Kaiser Roms (28 v.Chr. bis 14 n. Chr.) demonstrieren, dass er nach dem Sieg
über „Hispania“ und „Gallia“ eine Zeit des Friedens (Pax Romana) eingeleitet
hatte. Die Ara Pacis wurde 13 v. Chr. vom Senat in Auftrag gegeben und 9 v.
Chr. vollendet.
In dem 28 v. Chr. errichteten
Mausoleum wurden neben der Urne des Kaisers auch die Urnen vieler seiner
Angehörigen, die zum Teil durch Gift ums Leben gekommen sind, aufbewahrt, so
zum Beispiel die seines Lieblingsneffen Marcellus, der mit seiner Tochter Julia
verheiratet war. Dieser starb 23 v. Chr., möglicherweise vergiftet von
Augustus‘ zweiter Frau Livia, die ihren Sohn Tiberius als Nachfolger auf dem
Kaiserthron sehen wollte.
So zieht sich an diesem Tag ein
untergründiger roter Faden von den Eleusinischen Mysterien (Demeter und
Persephone) über Aristoteles, Cäsar, Augustus, Nero und Hadrian bis zu den
neuplatonischen Mysterien in der Chigi-Kapelle (Planeten und Elemente).
Vielleicht kann man deswegen mit Recht von „Wiedergeburt“ (Renaissance)
sprechen, weil die antiken Mysterien gerade im Florenz und Rom der anbrechenden
Neuzeit wieder belebt wurden, allerdings nun um eine christliche Dimension
erweitert.
Auch ein dunkles Gegenbild der
Heiligen Mysterien, dem ein amerikanischer Schriftsteller zur Popularität
verhalf, hat sich am Beginn unseres Jahrhunderts über die Ewige Stadt gelegt.
Freitag, den 20. Februar 2015
Am Vormittag verlassen wir die
Stadt und fahren mit dem Zug vor die (antiken) Mauern. Unser Ziel ist die
Basilika San Paolo fuori le Mura in Ostense, einem südlichen Vorort von Rom.
Das imposante Gebäude ist eine
exakte Rekonstruktion der Basilika aus dem 4. Jahrhundert. Bereits Kaiser
Konstantin soll angeregt haben, dass über der Begräbnisstätte des Apostels
Paulus eine Kirche errichtet wird. Damit begann 386 Kaiser Theodosius I. Im 5.
Jahrhundert war die neue Pauluskirche größer als Sankt Peter in Rom. Am 15.
Juli 1823 brannte die Basilika nach 1435 Jahren bis auf die Grundmauern ab. Sie
wurde in einem nationalen Akt zwischen 1840 und 1855 wieder aufgebaut. Sie gehört mit San Giovanni di Laterano,
Santa Maria Maggiore und Sankt Peter zu den vier päpstlichen Hauptkirchen der
Ewigen Stadt und ist eine der sieben Pilgerkirchen Roms.
Die fünfschiffige Basilika ist
kaum besucht. So genießen wir im einfallenden Vormittags-Licht den großzügigen
Raum mit seinem Wald von über 80 Marmorsäulen und seinem glänzenden
Marmorboden. Im Gegensatz zu Sankt Peter erscheint hier der Raum nicht
überladen, sondern klar gegliedert. Der Blick wird nicht abgelenkt. Wir wandeln
durch die Halle und stoßen schließlich auf die „Confessio“, die Stelle, an der
der 67 nach Christus enthauptete Apostel Paulus begraben sein soll. Darüber
liegt der Hauptaltar, an dem nur der Papst die Messe halten darf. Er wird von
einem gotischen Ziborium geschützt, das im 13. Jahrhundert von Arnolfo di
Cambio geschaffen wurde, der ab 1276 in Rom weilte und für Karl von Anjou
, den „Totengräber“ der
Stauferdynastie, tätig war.
An den Wänden über den Säulen
zieht sich ein langes Band mit den Porträts von 265 Päpsten um den gesamten
Innenraum. Nach der Legende soll Christus „wiederkommen“, wenn kein Platz mehr
für ein weiteres Porträt vorhanden ist. Nach dem Tod Johannes Pauls II. waren
nur noch drei Plätze übrig. Inzwischen sind bereits die Nachfolgepäpste
Benedikt XVI. und Franziskus in die Reihe aufgenommen. Nun ist nur noch ein
Platz frei.
Anschließend begeben wir uns in
den mit vier Palmen geschmückten und von Marmor-Kolonaden umrahmten Vorbau
(Paradies) mit seinem typisch mediterranen Flair.
Wir verlassen die Basilika und
suchen die nächste Bushaltestelle. Auf dem Weg dorthin entdecke ich eine Tafel,
auf der eine Passage aus dem Romreisebericht des französischen Dichters
Stendhal (1783 – 1842) zitiert wird. Stendhal kam am 16. Juli 1823, also einen
Tag nach dem Brand, hierher und stand ergriffen vor den rauchenden Trümmern der
Basilika. Ich übersetze die Stelle aus „Promenades dans Rome“ (Paris 1829):
„Ich besuchte San Paolo am Tag
nach dem Brand. Ich fand eine strenge Schönheit und einen Abdruck des Unglücks,
von denen innerhalb der schönen Künste nur die Musik von Mozart einen Eindruck
geben kann. Alle Spuren verwiesen auf den Schrecken und die Unordnung dieses
unglücklichen Ereignisses. Die Kirche war übersät mit den schwarzen, rauchenden
und halbverbrannten Balken des Dachstuhls; große Reste der von oben bis unten
gespaltenen Säulen drohten bei der kleinsten Erschütterung einzustürzen. Die
Römer, die die Trümmer besichtigten, waren konsterniert. Das war eines der
schönsten Schauspiele, die ich in meinem Leben sah. Allein dafür hat sich die
Reise nach Rom im Jahr 1823 gelohnt.“
Stendal war ein Bewunderer Johann
Joachim Winkelmanns (1717 – 1768), einem anderen berühmten Romreisenden. Die
Bewunderung ging so weit, dass sich der Autor von „Rot und Schwarz“ und der
„Kartause von Parma“, der eigentlich Marie-Henri Beyle hieß, den Namen des
Geburtsortes des Begründers der Kunstgeschichte und der wissenschaftlichen
Archäologie als Pseudonym zulegte: Stendhal.
Winkelmann, der insgesamt viermal
in Rom war und dort 1763 durch Papst Clemens XIII. zum Aufseher der Altertümer
im Kirchenstaat und zum „Scrittore“ in der Bibliotheca Vaticana ernannt wurde,
hat das geflügelte Wort „von edler Einfalt und stiller Größe“ geprägt,
Eigenschaften, die er bei den griechischen Kunstwerken entdeckt hatte. Dieses
Wort beschreibt meinem Empfinden nach auch sehr gut die Ausstrahlung der
Basilika des Heiligen Paulus vor den Mauern, die sich ja an antiken Bauwerken
orientiert. Nur umgeben hier die Säulen nicht wie bei den griechischen Tempeln
den Raum, das „Naos“, sondern sind nach innen, ins „Kirchenschiff“, verlegt.
Goethe würdigte Winkelmann und seinen Einfluss auf den „Klassizismus“ in einer
1805 erschienen Schrift mit dem Titel „Winkelmann und sein Jahrhundert“. Auch
Goethes „Italienische Reise“ enthält zahlreiche Rückbezüge auf Winkelmann.
Wir fahren mit dem Bus bis zur
Ponte de Subiaco. Diese überqueren wir zu Fuß und spazieren an einem großen
Krankenhaus vorbei, das den Namen des Erzengels Michael trägt, durch den rechts
des Tibers liegenden Stadtteil Trastevere. So gelangen wir schließlich zur
vermutlich ältesten Kirche, sicher aber zur ältesten Marienkirche Roms, zu Santa
Maria in Trastevere. Der heutige Bau stammt allerdings aus dem 12. Jahrhundert
und wurde von Papst Innozenz II. veranlasst. An der Stelle, wo sich heute der
Chor der Kirche befindet, sprudelte im Jahr 38 vor Christus Öl aus einer Quelle.
Sie befindet sich heute hinter der Chorschranke und wird mit einer Inschrift
„fons olei“ bezeichnet. Die damals in Rom ansässigen Juden sahen in dem
Ausströmen des Öls eine Prophezeiung auf den bald erscheinenden Messias. Die
Christen bezogen das Wunder 200 Jahre später auf den um die Zeitenwende
geborenen Jesus Christus.
Im Heiligen Jahr 1525 diente die
Kirche zum ersten Mal als Ersatz für die vom Tiber überschwemmte Pauluskirche
vor den Mauern. Auch in den Heiligen Jahren 1625, 1700 und 1825 musste Santa
Maria in Trastevere die Gläubigen von San Paolo aufnehmen, zum einen, weil vor
den Mauern Epidemien grassierten, zum anderen, weil 1823 die Basilika durch den
Brand zerstört worden war.
Die Marmorsäulen aus den
Caracalla-Thermen geben dem Innenraum der dreischiffigen Basilika das typische Flair
der römischen Antike. Beeindruckend sind aber vor allem die Mosaiken in der Apsis
aus dem 12. Jahrhundert, die noch ganz im byzantinischen Stil gehalten sind,
und die Mosaiken in der unteren Apsis-Wand und am Triumphbogen aus dem 13.
Jahrhundert, die in sechs Szenen das Marienleben in teils recht realistischer
Weise darstellen.
Wir finden nach der Besichtigung
nicht weit von der Kirche ein nettes Restaurant, in dem wir zu Mittag essen.
Über die Tiberinsel, auf der in
der Antike an der Stelle, wo sich heute die Kirche San Bartolomeo all’Isola
erhebt, ein Asklepios-Tempel stand und deren eine Hälfte bis heute ein
Krankenhaus einnimmt, gelangen wir wieder auf die linke Tiberseite. Unser
nächstes Ziel sind die Kapitolinischen Museen auf dem Kapitols-Hügel.
Über die „Cordonata“, die breite
Treppe, gelangen wir zur Piazza di Campidoglio, die nach Plänen von
Michelangelo gestaltet wurde. In der Mitte befindet sich eine Kopie des
Reiterstandbildes, das den Kaiser Marc Aurel zeigt. Das Original steht im
Palazzo dei Conservatori, einem der zwei Museums-Gebäude. Der andere ist der
nach einem Entwurf von Michelangelo
hinzugefügte Palazzo Nuovo. Im Jahre 1734 öffnete Papst Clemens XII. Corsini
den Palast mit seinen Kunstsammlungen für die Öffentlichkeit und schuf dadurch
das erste Museum der Welt. Zwischen den beiden Palästen, dem Palazzo Nuovo im
Nordosten und dem Palazzo dei Conservatori im Südwesten steht ein dritter
Palast, der Palazzo Senatorio. Er beherbergt die Amtsräume des römischen
Bürgermeisters. In seinen prunkvollen Renaissance-Räumen versammelt sich heute
noch der Stadtrat, die „Comune di Roma“.
Wir beginnen unseren Rundgang im
Palazzo dei Conservatori, an dessen Stelle sich in der Antike der
Jupiter-Tempel erhob. Dieser Tempel „war Mittelpunkt der römischen Welt. Nahezu
alle religiösen und politischen Zeremonien fanden an diesem Ort statt. Der
Kapitolshügel mit dem Tempel wurde zum Sinnbild für die Bedeutung Roms als
Caput Mundi, Hauptstadt der Welt.“ (DK-Führer, S 67). Dem Jupiter-Tempel
gegenüber stand in der Antike der Juno-Tempel. An seiner Stelle erhebt sich
heute die Marienkirche Santa Maria in Aracoeli, der wir nach dem Museum einen
Besuch abstatten werden.
Östlich des Kapitolshügels
erstreckt sich das Forum Romanum mit seinen zahlreichen Ruinen. Auf dieses
werfen wir beim Durchgang zwischen den beiden Museumstrakten unter dem Senatorenpalast
nur einen Blick. Wir haben nicht die Zeit, uns in diese vergangene Welt zu
vertiefen, obwohl sie in Rom überall gegenwärtig ist und in der Stimmung
mitschwingt. Unseren Rundgang beenden wir im Palazzo Nuovo.
Der Konservatorenpalast
beherbergt das originale Reiterstandbild Marc Aurels, einen Kollossalkopf des
Kaisers Konstantin mitsamt Fragmenten seiner Hand und seines Armes, die
Fundamente des kapitolinischen Tempels und jene berühmte Bronzestatue, die als
Symbol der Stadt Rom gilt, die „kapitolinische Wölfin“. Dabei ist bis heute
nicht klar, ob es sich um eine antike oder eine mittelalterliche Skulptur
handelt.
Der Wolf war bei den Römern das
Symboltier des Kriegsgottes Mars. Mars gilt als Vater der Zwillinge Romulus und
Remus, die nach ihrer Geburt ausgesetzt und von einer Wölfin gesäugt wurden.
Ihre Mutter war Rhea Silvia, die Tochter des Königs von Alba Longa, Numitor
Silvius, der von seinem Bruder Amulius entmachtet worden war. Die beiden Brüder
gründeten nicht weit von Alba Longa selbst eine Stadt, konnten sich aber nicht
einigen, wer sie regieren sollte. So kam es zum Zweikampf, in dem Romulus
seinen Bruder Remus erschlug. Nun konnte jener die Stadt, die seinen Namen
erhielt, regieren.
Mehr als diese römische Wölfin
bewundere ich jedoch die zahlreichen Darstellungen des „guten Hirten“, die ich
in diesem Museum entdecke. In den frühchristlichen Jahrhunderten war diese
früheste Darstellung des Erlösers weit verbreitet und nimmt ein antikes Motiv
auf (so zum Beispiel aus dem Totenkult der Mithras-Religion). Erst viel später,
in der romanischen Zeit, wurde der den Tod überwindende, später, in der Zeit
der Mystik, der leidende Christus am Kreuz dargestellt.
Wir kommen auch an dem Sitz-Bild
des Karl von Anjou vorbei, das Arnolfo di Cambio zugeschrieben wird. Eine Tafel
mit ausführlichen historischen Angaben verweist auf das Jahr 1266, in dem Karl von
Anjou Manfred von Hohenstaufen, den Sohn
Friedrichs II., in der Schlacht von Benevent (26. Februar 1266) schlug, nachdem
er sich bereits am Dreikönigstag 1266 von Papst Clemens VII., einem Franzosen,
in der Lateransbasilika San Giovanni zum König von Sizilien krönen gelassen
hatte und damit die ca. 70jährige Herrschaft der Staufer auf dieser kulturell
hochstehenden Insel zu beenden trachtete.
Diese zwielichtige Gestalt läuft
mir immer wieder „über den Weg“ und ich weiß nicht, was mich mit ihr verbindet.
Ich schätze die Mutter, Blanca von Kastilien, eine Enkelin Eleanors von
Aquitanien und Nichte von Richard Löwenherz, und seinen Bruder, Ludwig IX., den
Heiligen, sehr. Aber gegen Karl von Anjou hege ich eher negative Gefühle. Das
hängt natürlich auch mit der grausamen Hinrichtung des letzten Staufers und
rechtmäßigen Erben der Dynastie, Konradin und seines Freundes, Friedrich I. von
Baden, sowie dreier weiterer Begleiter am 29. Oktober 1268 auf dem Marktplatz
von Neapel zusammen.
Wie sehr diese Figur in der
Herrschergebärde der Bronze-Statue des Petrus aus dem Petersdom gleicht, ist
wirklich erstaunlich. Beide erscheinen
mir „aus dem gleichen Holz“ geschnitzt.
Im Palazzo Nuovo bewundern wir in
der Halle der Philosophen vor allem eine wunderschöne Büste Homers, in einem
eigenen Saal die Kapitolinische Venus, die Marmor-Kopie einer Statue des
Bildhauers Praxiteles aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert, und den „Sterbenden
Gallier“, ebenfalls eine römischen Kopie einer griechischen Arbeit aus dem 3.
Jahrhundert. Das Gegenstück, „Der Tod der Galatea“, hatten wir am Vortag im
Palazzo Altemps besichtigt.
Die Fülle der Kunstwerke scheint
uns zu erschlagen und so entschließen wir uns, das Museum zu verlassen, ohne
dass wir die Gemäldesammlung angeschaut hätten. Es ist einfach zu viel an einem
Nachmittag.
Wir beschließen unseren Rundgang
mit einem Besuch der Kirche Santa Maria in Aracoeli, die auf dem nördlichen
Teil des Hügels steht, der in der Antike noch durch eine Vertiefung vom südlichen
Kapitol-Hügel getrennt war. Er hatte auch einen eigenen Namen und hieß Arx. Das
erinnert mich an die Topographie der Heiligen Stadt Jerusalem, die ebenfalls
auf zwei Hügeln erbaut wurde, auf dem fruchtbaren Berg Zion und dem kargen Fels
Moria. Getrennt waren die beiden Hügel durch die Kidron-Schlucht, die später
aufgeschüttet wurde, genau wie die Vertiefung zwischen Arx und Kapitol. In Rom
wurde darüber der Platz mit seinen drei Palästen gebaut, in Jerusalem die
Grabeskirche.
Samstag, der 21. Februar 2015
Als erste Kirche des Tages
besuchen wir Santa Maria della Pace (Heilige Maria des Friedens), die bisher
verschlossen war. Die Kirche wurde von Papst Sixtus IV. della Rovere 1482 in Auftrag
gegeben als Dank für einen Sieg über die Türken. Berühmt ist die halbrunde
Barockfassade von Pietro da Cortona und der Kreuzgang, das erste gesicherte
Werk des Renaissance-Architekten Bramante. Was uns jedoch besonders
interessiert, sind die Fresken Raphaels in der Chigi-Kapelle. Ursprünglich
wollte der Bankier hier seine letzte Ruhestätte finden. Er beauftragte seinen
Freund Raphael, die Kapelle auszumalen. Das tat der Künstler im Jahre 1514.
Eigenhändig schuf er die Fresken der vier Sibyllen (Cumea, Persica, Phrygia und
Tiburtina) auf der Südwand über dem Eingang zur Kapelle. Wenn man sie genauer
betrachtet, so könnten sie die vier Lebensalter darstellen: es fängt ganz links
mit der jüngsten an und endet ganz rechts mit der ältesten. Leider kann ich die
Zeichen auf den Tafeln und Schriftrollen nicht deuten. Aber es gibt bei Wilhelm
Kelber ein ganzes Kapitel über Raphaels Arbeiten für Agostino Chigi, das ich
bei Gelegenheit studieren werde.
Darüber in der Fensterzone malte Raphaels
väterlicher Freund Timoteo Viti in Raphaels Auftrag die vier Propheten. Den
Unterschriften entnehmen wir, dass es nicht die traditionellen vier „großen“ Propheten, Daniel, Hezechiel,
Jeremia und Jesaja sind, sondern nahezu die gleichen wie in der Chigi-Kapelle
in Santa Maria del Popolo: Habakuk, Jona und Daniel könnten wieder als
Vertreter der Elemente dargestellt sein. Nur an die Stelle von Elias tritt laut
Unterschrift ein König, nämlich David. Wenn ich aber Aussehen und Haltung der
Gestalt näher betrachte, dann kann es sich nicht um einen König, sondern muss
es sich um einen Propheten handeln. Er trägt die typische Schriftrolle in der
Hand und auf dem Kopf eine Kopfbedeckung, aber keine Krone. Außerdem ist er für
eine Darstellung Davids viel zu alt.
Hier herrscht ein Rätsel. Das
könnte mit der Inkarnation Raphaels als Elias zusammenhängen. Vielleicht wollte
er sich hier nicht so deutlich offenbaren und seine wahre Identität verschleiern.
Nach der Besichtigung machen wir
noch einen Abstecher zur nahegelegenen Piazza Campo dei Fiori, dem
„Blumenmarkt“, auf dem aber neben Blumen vor allem wohlduftendes Gemüse und
Obst angeboten wird. Mitten auf dem Platz ragt aus den Obst- und Gemüseständen
eine überlebensgroße Statue heraus: Es ist der Dominikanermönch Giordano Bruno,
der am 17. Februar 1600 an dieser Stelle unter Papst Clemens VIII. als Ketzer
verbrannt wurde.
Auf dem Rückweg zu unserem Hotel
zeige ich Dieter die Kirche Santa Maria sopra Minerva, in der ich am Vortag
alleine war und wir verabschieden uns sozusagen von Fra Angelico und Katharina
von Siena.
Zum Mittagessen lade ich Dieter ins
Nobel-Restaurant „Hostaria L‘Orso 80“ ein. Ich esse zum ersten Mal köstliche
italienische Antipasti. Es ist sozusagen unser Abschiedsessen von Rom.
Heute ist unser Abreisetag. Es
regnet. Wir besuchen noch einmal die Kirche Santa Maria del Popolo, weil ich
Dieter die beiden Altartafeln von Caravaggio und die Chigi-Kapelle zeigen will.
Anschließend trinken wir in einem teuren Cafe am „Volksplatz“ einen letzten
Cappuccino. Er kostet sieben Euro. An der Ara Pacis und am Mausoleum des
Kaisers Augustus vorbei kehren wir, nicht ohne einen letzten Blick auf den
Propheten Jesaja in Sant Agostino geworfen zu haben, zurück zu unserem Hotel,
wo Dieter bezahlt. Wir nehmen unser Gepäck und fahren mit dem Bus zurück zum
Bahnhof Termini, wo unser Zug nach München pünktlich um 19.04 Uhr abfährt.
Abreise
Im Zug treffen wir einen
interessanten Mitreisenden, Martin Kiess. Er war Mathematiklehrer, fährt aber
jetzt durch ganz Italien und vermisst Kirchen. Ihn interessiert dabei vor allem
ihre Ausrichtung. Er hat festgestellt, dass die wenigsten Kirchen exakt nach
Osten ausgerichtet sind. Dieses Thema interessiert mich und wir kommen ins
Gespräch. Dabei erklärt er uns auch das Prinzip der Heiligen Tetraktys. Und
noch auf der Fahrt nach Hause begleitet uns so der geheimnisvolle Geist
Raphaels, als wir erfahren, dass er seine „Grablegung“ aus der Villa Borghese
nach diesem pythagoreischen Gesetz komponiert hat.
In München, wo wir am
Sonntagmorgen ankommen, trennen sich unsere Wege. Dieter fährt zurück nach
Braunschweig, ich zurück nach Ellwangen.
Diese Statue spielt in Dan
Browns Thriller „Angels & Demons“ (Illuminati) eine wichtige Rolle. In dem
Roman werden die vier Elemente „Earth“, „Air“ „Fire“ und „Water“, die hier in
einer Kapelle vereint sind, auf vier Werke Berninis an vier verschiedenen Orten
Roms verteilt, in denen jeweils ein hoher geistlicher Würdenträger ermordet
wird.
Zuerst wird ein deutscher
Kardinal tot in der Chigi-Kapelle (Erde) aufgefunden, dann ein französischer
auf dem Petersplatz (Luft), danach ein spanischer bei der „Verzückung der
Heiligen Theresa“ in der Kirche Santa Maria della Vittoria (Feuer) und
schließlich ein italienischer im „Vierströmebrunnen“ auf der Piazza Navona
(Wasser). Jeder der vier Kandidaten für die anstehende Papstwahl trägt ein
Brandzeichen auf dem Leib entsprechend dem Element, das ihn kennzeichnet.
Diesen mörderischen Gang durch die Elemente nennt Brown nach einem angeblich im
Geheimarchiv des Vatikans aufbewahrten Buch aus der Feder von Galileo Galilei
(Diagramma della Verita) einen „Pfad der Erleuchtung“. Dieser zweifelhafte
Initiationspfad endet im Roman am geheimen Treffpunkt der Illuminaten: in der
„Engelsburg“.