Montag, 11. Dezember 2017

"Wo ist Bethlehem?" - eine Führung durch die Haller Urbanskirche

Ich verließ am Freitag, den 08. Dezember gegen 15.00 Uhr das Haus mit zwei schweren Taschen voller Bücher: Ich hatte natürlich die Studie von Dr. Mechthild Clauss dabei, die im Jahre 2015 unter dem Titel „Wo ist Bethlehem?“ erschienen war. Auch meine Führung hatte ich unter diesen Titel gestellt.
Dann hatte ich natürlich meine Bibel dabei, denn die spätgotische Marienretabel in der Urbanskirche, die eigentlich eine Marienkirche ist, zeigt vor allem Szenen aus dem Lukas-Evangelium: Verkündigung, Heimsuchung, Beschneidung, Geburt mit den Hirten und Darstellung im Tempel. Dabei kommt die Verkündigung in der kleinen Kirche gleich zweimal vor: einmal als Fresko an der Nordwand und einmal als gemalter Flügel in der Altarretabel.
Ich habe aber auch die „Apokryphen“ mit dem Proto-Evangelium des Jakobus dabei, in dem Geburt und Tod der Maria erzählt werden. Das betrifft die erste und die letzte Tafel der Sonntagsseite der Retabel. Diese Geschichten sind nicht in den kanonischen Evangelien zu finden.
Und ich habe die „Legenda Aurea“ (Goldene Legende) dabei, in der die „Beschneidung“ (Concisio) ausführlich behandelt wird. Diese fand ja acht Tage nach der Geburt statt und zwar am Neujahrstag. Offenbar wurde der erste Januar, an dem der Knabe auch seinen Namen „Jesus“ erhielt, aus diesem Grunde an den Anfang des bürgerlichen Jahres gestellt. Das christliche oder Kirchenjahr beginnt ja mit dem 1. Dezember und endet mit dem 30. November, dem Tag des Apostels Andreas.


Die Beschneidung Jesu wurde in der mittelalterlichen Kunst eher selten dargestellt. Dass sie in Sankt Urban so zentral im Mittelschrein, symmetrisch zur Anbetung der Könige auf der rechten Seite links von der zentralen Geburtsdarstellung, gezeigt wird, hat einen möglichen Grund darin, dass der Meister Kontakt zu einer niederländischen Werkstatt hatte: Entweder er kam selbst aus den Niederlanden, wie manche Kunsthistoriker vermuten, oder er war Haller und ist dort bei einem Meister in die Schule gegangen.
Vom gemalten und geschnitzten Hauptaltar der Haller Stadtkirche Sankt Michael, der die Passion Christi zum Thema hat, ist bekannt, dass er von einem Meister aus Antwerpen geschaffen wurde.
Nun ist zu beachten, dass die Liebfrauenkirche in dieser belgischen Stadt, die im 15. Jahrhundert zum Heiligen Römischen Reich gehörte, eine besondere Christusreliquie besaß: die bei der Beschneidung „weggefallene“ Vorhaut des Jesusknaben. Jedenfalls geht so die Legende.
Diese Reliquie hatte im Mittelalter als einzige unmittelbare Christus-Reliquie eine ganz besondere  Bedeutung und einen großen Wert für die Gläubigen, die in ihre Nähe kamen. Da Christus mit seinem „Auferstehungsleib“ in den Himmel aufgefahren ist, kann es von ihm ansonsten keine Reliquien geben, ebenso wenig wie von Maria. Nur seinen „Heiligen Rock“ kann man zum Beispiel im Trierer Dom sehen, so wie die Tunika der Maria in der Notre Dame de Chartres – beides ganz besonders hervorragende „Heilsbringer“, an deren Wirkmacht die Menschen damals glaubten.
Die „Goldene Legende“ führt in ihrem Kapitel „Von der Beschneidung des Herrn“ aus, dass damals Jesus von Nazareth zum ersten Mal sein kostbares Blut „geopfert“ habe. Es heißt dort:
„Zu fünf Malen vergoss er sein Blut für uns; das erste an dem heutigen Tage seiner Beschneidung, das war ein Anfang unserer Erlösung; das andre in seinem Gebet, da er den blutigen Schweiß vergoss[1], in dem zeigte er ein Verlangen unsrer Erlösung; das dritte vergoss er, da man ihn geißelte, das war ein Verdienen unserer Erlösung, denn wir wurden durch seine Wunden geheilt; das vierte vergoss er am Kreuz, und das war der Preis unserer Erlösung, denn da büßte er, was er nicht verbrochen hatte; das fünfte vergoss er, da seine Seite mit dem Speer ward aufgeschlossen, das war das Sakrament unserer Erlösung; denn es floss Blut und Wasser heraus, zu einem Zeichen, dass wir durch das Wasser der heiligen Taufe sollten gereinigt werden von unseren Sünden; ihre Kraft aber sollte die Taufe von dem Blute Christi empfangen.“[2]
Ganz in der Nähe von Antwerpen liegen die Städte Gent und Brügge, zwei weitere wichtige Zentren mittelalterlicher Kunst und Reliquienverehrung. In Brügge wird bis heute eine Heilig-Blut-Reliquie aufbewahrt und bei alljährlichen Fronleichnams-Prozessionen mitgeführt.
Das mit Wasser vermischte Blut, das am Karfreitag durch den Lanzenstich des „Kriegsknechtes“[3] (Joh. 19, 34) aus der Seite Christi floss, gilt in der Gralstradition als wichtigste, lebenspendende Heilssubstanz. Dieses Blut fing Joseph von Arimathia, der in den Gralslegenden als Stammvater des Gralsgeschlechts gilt, in der silbernen Schale auf, die auch am Gründonnerstag als Abendmahlsschale gedient hatte.
Schale und Speer bzw. Lanze gehören damit als wichtigste „Requisiten“ fest ins Zentrum der zahlreichen Gralslegenden, wie es zum Beispiel Wolfram von Eschenbach im fünften Buch seines Versromans erzählt.
Die Geburt Mariens, die auf der ersten Tafel dargestellt wird, feiert die katholische Kirche am 8. September. Dieses Ereignis wird in der „Legenda Aurea“ unter dem Titel „Von der Geburt der seligen Jungfrau Maria“ geschildert.
Andererseits wird die „unbefleckte Empfängnis“ oder die „Conceptio Immaculata“, die die Kirche an diesem 8. Dezember feiert – in Italien und Österreich ist der 8. Dezember bis heute Feiertag, in Bayern war er es bis ins Jahr 1969 – weder im Evangelium des Jakobus noch in der „Legenda Aurea“ erwähnt.
Diese „Conceptio“ bezieht sich nicht, wie immer wieder vermutet wird, auf die Empfängnis der Maria, die am 25. März, also exakt neun Monate vor der Geburt des Lukasknaben stattfand, sondern auf die Empfängnis der Anna, die exakt neun Monate später, am 8. September, mit Maria nieder kam.
Die Conceptio Immaculata findet man in einer Darstellung Giottos in der Scrovegni-Kapelle in Padua. Auf dem Fresko sieht man Anna in einem Raum, zu dessen rechtem Fenster der Engel hereinschaut, während links außerhalb des Gebäudes eine Magd am Spinnrocken sitzt.
Dieses Bild entstand vermutlich etwa zur gleichen Zeit wie das wunderbare Fresko in der Urbanskirche, das Maria am Spinnrocken in einem tempelähnlichen Gebäude zeigt. Die Tempeljungfrau Maria spinnt die farbige Wolle für den Tempelvorhang, der das Allerheiligste verdeckt und der bei der Kreuzigung „von obenan bis untenaus“ (Math. 27, 51)in zwei Teile zerreißen wird.


Auf dem Unterlimpurger Fresko schwebt der Erzengel Gabriel links über dem Tempelchen, während Maria, die ihre Arbeit gerade unterbrochen hat – die Spindel liegt auf dem Boden – in die Gegenrichtung schaut. Sie scheint den Engel nicht zu sehen, sondern nur das „Ave Maria“ zu hören.
Es ist auf dem Fresko ein ganz innerliches Geschehen.
Der unbekannte Meister hat aber das, was wirklich passiert, ganz zart angedeutet: der goldene Faden, den die Tempeljungfrau Maria spinnt, kreuzt sich genau über ihrem Schoß mit der schwarzen Gürtelschleife, die in der Höhe ihres linken Unterschenkels im Kopf einer Schlange endet.
Eine Taube, das Symbol des Heiligen Geistes, ist auf dem Fresko nicht zu sehen, wohl aber auf der Verkündigungsszene der zweiten Tafel der Altarretabel.


Solch eine Taube kann man auch am Rundbogenfries der Außenseite des spätromanischen Chores erkennen, und zwar an der Südseite des dreiteiligen Chorabschlusses. Der gesamte Fries und die Lisenen werden geschmückt durch ein wunderbares Diamantband, wie wir es bei meiner letzten Führung am 29. September bereits am spätromanischen Triforium im Innenhof des Gasthauses zum „Goldenen Adler“ bewundern konnten, das zu einem abgegangenen Königshof in der Nachbarschaft der ebenfalls zerstörten „Marienkirche am Schuppach“ gehörte.
Das Diamantband ist ein spätromanisches Schmuckelement, das auch an einem Fenster der Burgruine der Schenken von Limpurg direkt oberhalb der Urbanskirche und an der sechseckigen spätromanischen Kapelle auf der Großcomburg zu bewundern ist. Neulich entdeckte ich ihn auch am romanischen Südportal der Basilika „Sankt Vitus“ in Ellwangen.
Die Taube an der Außenseite des um 1230 entstandenen Chores fliegt nach rechts unten und trägt eine Oblate im Schnabel.
Diese ungewöhnliche Darstellung erinnert an die Szene aus dem neunten Buch des „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach, das wohl um 1200 niedergeschrieben wurde. In diesem Buch klärt der Einsiedler Trevrizent und Bruder des Gralskönigs Amfortas den irrenden Jüngling über die Geheimnisse des Grals auf.
Es wird erzählt, wie der Gral – bei Wolfram ein Stein, der vom Himmel gefallen war („Lapis exillis“) –  jedes Jahr am Karfreitag enthüllt wird und wie dann jedes Mal eine Taube vom Himmel schwebt, die eine weiße Oblate herab trägt, um sie auf dem „Stein“ abzulegen.
Dieser Zusammenhang erscheint mir aus mehreren Gründen wichtig: erstens sehe ich in der mittelalterlichen Comburg tatsächlich eine Art Gralsburg. Sie bleibt den Blicken der von Osten auf der Haller Ebene von Ellwangen her Kommenden verborgen,  muss jedoch den Blicken der von Westen aus dem Kochertal Kommenden als imposante Burganlage erscheinen, weil sie auf einem Umlaufberg des Kochers errichtet wurde, der aus dem Tal herausragt.
Zweitens war auch der Schenk Konrad I. in jener Zeit, als Wolfram lebte und dichtete, ein bekannter Minnesänger, der als Ministeriale am Hofe der Staufer mit Sicherheit mit der damals allseits bekannten Gralssage vertraut war.
Es war der Großvater des Minnesängers, Walter I., der die Liebfrauenkirche am Fuße seiner Burg um das Jahr 1230 errichten ließ.
Ein dritter Hinweis auf die Gralssage ist schließlich die Hochzeit des Schenken Friedrich V. mit der hübschen Susanna von Thierstein. Friedrichs Mutter war Elisabeth von Hohenlohe. Sie hatte die Altarretabel in der Urbanskirche gestiftet. Da sie aber um 1450 bereits verstorben war, kümmerten sich Friedrich und seine Frau aus dem Adelsgeschlecht der Thiersteiner um die Realisierung des Bildwerkes durch einen Meister aus der niederländischen Schule.
Die Burg Thierstein ist heute nur noch eine Ruine und liegt etwa 15 Kilometer südlich von Dornach bei Basel im Kanton Solothurn. Wenn man dem anthroposophischen Gralsforscher Werner Greub („Wolfram von Eschenbach und die Wirklichkeit des Gral“, 1973) folgt, so ist die Gegend um Dornach Gralsgebiet.  Greub identifiziert die Eremitage bei Arlesheim, die auch der Adept Cagliostro aufgesucht hat, mit der Klause des Trevrizent.
Walter Johannes Stein verlegt die Gralsgeschichte nach einer Anregung von Rudolf Steiner ins neunte Jahrhundert („Das neunte Jahrhundert im Lichte des Heiligen Gral“, 1928). Vom neunten bis zum dreizehnten Jahrhundert sind fast 400 Jahre vergangen, in denen viel passiert ist. Warum kann es nicht sein, dass die Ritterschaft vom Heiligen Gral nicht nur eine – also die Gralsburg – sondern mehrere Dependancen hatte, die man sich als klösterliche Anlagen vorstellen muss?
Die imposante Großcomburg könnte eine davon sein.
Aber das möchte ich für meine nächste Führung, die in der kommenden Osterzeit sein wird, noch näher erforschen.
Ein Abt der Comburg war auch ein Verwandter der Kaiserin Adelheid, deren sterbliche Überreste in der Gruft der Stiftskirche von Öhringen, einer Residenzstadt der Grafen von Hohenlohe, liegen.
Die Grafen von Hohenlohe, ganz gleich, um welche Linie des weitverzweigten Geschlechtes es sich handelt, haben den Vogel Phönix als Wappentier. Diesem Vogel begegnet man in Waldenburg, in Öhringen, in Kocherstetten, in Langenburg und in Kirchberg an der Jagst, also praktisch im ganzen Hohenloher Land, das nördlich an das Limpurger Land, das sich zwischen Schwäbisch Hall, Schwäbisch Gmünd und Ellwangen ausbreitet, angrenzt.[4]
Von diesem Vogel Phönix spricht auch Trevrizent, um dem jungen Parzival eine Vorstellung vom Gral zu geben: Ich zitiere hier die Stelle aus dem neunten Buch in der Übersetzung von Wilhelm Stapel:
„Er fragte, wie es um den Gral stünde. Der Einsiedler sagte: ‚Ich weiß wohl, dass viele Ritter zu Munsalvaesche beim Gral wohnen. Wenn sie ausreiten, und das tun sie oft, geht es auf Abenteuer. Wo immer diese Templeisen Niederlage oder Sieg erjagen, tun sie das für ihre Sünden. Da wohnt also eine wehrhafte Schar. Ich will euch sagen, wovon sie leben: sie leben von einem Steine, der von ganz reiner Art ist. Wenn ihr ihn nicht kennt, so soll er euch hier genannt werden. Er heißt Lapsit exillis. Durch dieses Steines Kraft verbrennt der Phönix zu Asche. Die Asche aber macht ihn flugs wieder lebendig. Diese Erneuerung aus der Asche ist beim Phönix dasselbe, was bei anderen Vögeln die Mauserung ist. Danach beginnt er hell zu strahlen und wird wieder schön wie zuvor. Dieselbe Kraft wie beim Vogel Phönix bewährt der Gral bei den Menschen. Es mag einem Menschen noch so schlecht gehen, wenn er eines Tages den Stein sieht, so wird er in der Woche, die auf diesen Tag folgt, nicht sterben. Auch bleibt sein Aussehen dasselbe, das er hatte, als er den Stein erblickte, und zwar so, wie er in seiner besten Zeit aussah – Frau wie Mann – und wenn sie den Stein zweihundert Jahre sähen; nur das Haar wird grau. Solche Kraft gibt der Stein dem Menschen, dass Fleisch und Bein flugs Jugend empfängt. Der Stein wird auch genannt der Gral. Gerade heute erscheint auf dem Steine wieder eine Botschaft, und das ist seine höchste Kraft. Es ist ja heute Karfreitag, da erwartet man auf Munsalvaesche eine Taube, die sich vom Himmel herabschwingt. Sie bringt auf den Stein eine kleine, weiße Oblate herab. Die lässt sie auf dem Steine. Die Taube ist durchscheinend weiß.“
Ein letztes Argument für eine Nähe zum Gral ist die Tatsache, dass das Amt des Mundschenken, das die Grafen von Limpurg bei der Königs- und Kaiserkrönung auszuüben hatten, mit einer silbernen Schale verbunden war. Diese silberne Schale kann man auch als ein Bild für den Gral sehen, denn dieser ist bei Chrestien de Troyes die Schale des Joseph von Arimathia, der darin, wie erzählt wird, das Blut Christi aufgefangen hat. Die Silberne Schale zusammen mit der weißen Oblate: das ist die übliche Imagination des Grals.
Es gibt von Ludwig Uhland, dem schwäbischen Dichter, der im 19. Jahrhundert die Gralsgeschichten wieder entdeckt und in seinen Tübinger Vorlesungen nacherzählt hat, eine schöne Ballade über den „Schenk von Limpurg“, in dem eine Schale eine wichtige Rolle spielt. Sie entstand im Jahre 1816.[5]
Weil ich bei meiner Führung auch diesen Zusammenhang im Hinterkopf hatte, hatte ich auch den „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach mitgenommen. Aber ich bin bei der Führung nicht dazu gekommen, die Beziehung der Urbanskirche zum Gral aufzuzeigen, da die Zeit und die Aufnahmefähigkeit meiner Zuhörer begrenzt waren.
Dafür habe ich auf andere esoterische Zusammenhänge hinweisen können.
Auf der zentralen Geburtsszene nach Lukas sieht man hinter dem Jesuskinde, das in seinem Körbchen liegt, zwei Knaben in Anbetung begriffen. Einer ist blau, der andere rot gekleidet.


Obwohl Mechthild Crauss meint, dass es sich bei diesen beiden Knaben wohl um Engel handeln müsse, habe ich eine andere Vermutung. Engel werden gerne bei der Geburt des Lukasknaben dargestellt, so zum Beispiel auf dem Bladelin-Altar von Rogier van der Weiden. Da stehen zwei Engel anbetend vor dem auf dem blauen Mantel der Maria liegenden Kinde. Aber diese beiden Engel sind weiß gekleidet. Auch Maria hat ein weißes Gewand, von dem der blaue Mantel heruntergerutscht zu sein scheint. Josef ist in einen roten Mantel gehüllt.
Ich führe aus, dass die Farben im Mittelalter eine große Bedeutung hatten. Rot wies in der Regel auf königliches Geblüt hin, blau ist die Farbe des Himmels und deshalb auch der Priester; gemischt mit Rot erscheint das Blau als Violett. Weiß und noch mehr die Farbe Gold sind die höchsten und hellsten Farben und weisen auf das Göttliche hin. Der Goldgrund des Mittelalters, der auch noch auf den Tafeln und in dem geschnitzten Mittelschrein des Marienaltars der Urbanskirche erscheint, ist ein Symbol für die Geistige Welt, die hinter der sichtbaren irdischen Welt existiert und wirkt.
Hella Krause Zimmer hat in ihrem Buch „Die zwei Jesusknaben in der bildenden Kunst“ (1969) viele Belege aus der Kunstgeschichte dafür angeführt, dass die mittelalterlichen Künstler durchaus noch von dem Geheimnis der zwei Jesusknaben wussten, das heute immer noch die meisten Menschen irritiert.
Dabei muss man nur die Bibel gründlich lesen, insbesondere das Matthäus- und das Lukas-Evangelium.
Schon die beiden Stammtafeln, die die beiden Evangelisten aufgeschrieben haben, teilen sich bei König David in eine königliche Linie, die über Salomon, und in eine priesterliche Linie, die über Nathan zum Vater des Jesus, Josef, führt.[6]
Es müssen also zwei unterschiedliche Väter Josef gelebt haben, denn der eine kann nicht identisch sein mit dem anderen, weil er seit David andere Vorfahren hatte. So muss es auch unterschiedliche Mütter mit den Namen Maria gegeben haben.
Wenn man das Lukas- und das Matthäus-Evangelium vergleicht, so erfährt man, dass die eine Familie in Nazareth lebt und zur Volkszählung nach Bethlehem zieht, wo das lukanische Paar in einer „Herberge“ (Lat. diversorium = Zuflucht)[7] Unterkunft findet. Dort bringt Maria das Kind zur Welt und dort bleibt das Paar die 40 Tage der „Reinigung“ bis zur Darbringung im Tempel. Erst dann ziehen sie mit ihrem Sohn zurück in ihre Heimatstadt Nazareth. Von einer Flucht nach Ägypten ist keine Rede.
Die Geburtsszene nach Lukas steht im Mittelpunkt des Bildwerkes und ist auch doppelt so hoch wie die anderen.
Die Familie, die Matthäus schildert, hat immer in Bethlehem gewohnt, wo sie ein Haus (lat. „domus“)[8] besitzt. Dort kommt der Stern zu stehen, dem die drei „Sterndeuter“ (lat. „magi“) aus dem Morgenland gefolgt sind.
In dieses Haus und nicht in einen ärmlichen Stall treten die „Könige“ ein. Sie beten das königliche Kind aus der Abstammung von Salomon an, während die Hirten (und Engel) bei Lukas das priesterliche Kind aus der Abstammung von Nathan anbeten.
Nachdem die Könige wieder abgereist sind, fürchtet Herodes, der König der römischen Unterprovinz Judäa, die zur Provinz Syria gehört, um seinen Thron und lässt alle Knaben ermorden, die zwei Jahre alt und darunter sind.
Das Heilige Paar flieht nach Ägypten und bleibt dort, bis Herodes gestorben ist, also mehrere Jahre. Schließlich kommen sie zurück nach Bethlehem, aber Josef und Maria entschließen sich, nach Nazareth umzuziehen.
In Nazareth vereinen sich die beiden Familien nach dem Tod der nathanischen Mutter. Diese stirbt kurz, nachdem ihr Sohn zwölf Jahre alt geworden ist. Der nathanische Vater, der erst stirbt, als Jesus 24 Jahre alt ist, heiratet die salomonische Mutter. Auch der salomonische Jesusknabe, in dem in Wirklichkeit nach den Forschungen von Rudolf Steiner der wiedergeborene Zarathustra lebte, ist gestorben, nachdem der Geist des Zarathustra im Tempel von Jerusalem in den zwölfjährigen Lukasknaben eingezogen ist, worüber die Eltern, die ihren Sohn verloren hatten und ihn im Tempel wiederfanden, sehr erschrecken, wie es im Lukas-Evangelium heißt.
Es ist der nathanische Jesus, der in seinem 30. Lebensjahr bei der Taufe im Jordan den Heiligen Geist empfängt, welcher in Gestalt einer Taube auf ihn herabschwebt. Ab diesem Moment lebt der Christus im Jesus von Nazareth. Die Taufe im Jordan, Epiphanias genannt, wird ebenfalls am 6. Januar gefeiert. Das Markus- und Johannes-Evangelium, die keine Kindheitsgeschichte Jesu erzählen, beginnen mit diesem Ereignis.
Rudolf Steiner, der diese Zusammenhänge erstmals erforscht und öffentlich mitgeteilt hat, weist darauf hin, dass für die Menschwerdung Gottes solche differenzierten Vorbereitungen leiblicher und seelischer Art notwendig waren.
Jesus, der jetzt der Christus ist, hat also seit der Taufe keinen Vater mehr und nur noch seine Zieh- oder Stiefmutter. Sie ist es, die bei der Hochzeit von Kana anwesend ist und schließlich auch unter dem Kreuze steht und auf Geheiß des Gekreuzigten von dem Jünger, den der Herr lieb hatte, als Mutter angenommen wird. Diese Zusammenhänge schildert Rudolf Steiner ausführlich in seinen Vorträgen zum „Fünften Evangelium“ aus dem Jahr 1913.[9]


Ich sehe also in den beiden auffälligen Knaben in der zentralen Geburtsszene des Unterlimpurger Schreins einen versteckten Hinweis auf die beiden Jesusknaben, wie man ihn zum Beispiel auch in dem berühmten Gemälde der „Felsgrottenmadonna“ von Leonardo da Vinci im Louvre oder in der Darstellung der Schutzmantel-Madonna von Hans Holbein d.J. in der Haller Johanniterkirche („Alte Meister in der Sammlung Würth“)  entdecken kann.
Ich hatte während meiner Führung daran erinnert, dass die Menschen des ausgehenden Mittelalters, die ja in der Regel nicht lesen und schreiben konnten, noch ein ganz anderes Verhältnis zu den bildlichen Darstellungen in den Kirchen und außen an den Kirchen hatten.
Damals gab es – ganz im Gegensatz zu heute – eigentlich nur in diesen „Kulturzentren“ etwas Interessantes zu sehen. Wir, die wir Tag für Tag regelrecht von einer Bilderflut bedrängt werden, können uns gar nicht mehr vorstellen, wie stark die heiligen Bilder auf die Gläubigen wirkten.
Erst durch meine Russlandreise und die Begegnung mit den Ikonen der russisch-orthodoxen Kirche konnte ich ein Ahnung von dem Empfinden bekommen, das die Menschen noch vor 300 Jahren – also vor der Aufklärung – auch in Mitteleuropa hatten, wenn sie die Kirche betraten, insbesondere, um die katholische Messe zu feiern. Die Menschen waren im besten Sinne des Wortes fromm.
Sie waren sicher nicht so bewusst wie wir heute, aber sie konnten die Inhalte der Bilder wie Kinder in sich aufnehmen und erlebten in ihrem Inneren die entsprechende Resonanz.
Viele dieser Menschen waren ja schon mehrmals inkarniert, manche vielleicht sogar zur Zeit Christi. In den vorangegangenen Inkarnationen, so führt es Rudolf Steiner einmal aus, haben sie die Bilder des christlichen Glauben, das heißt vor allem das Wandeln Gottes auf Erden um die Zeitenwende, tief innerlich in sich aufgenommen. Die äußeren Bilder waren dann nur noch wie eine Bestätigung der inneren Erlebnisse. Christus Wort „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ ist ja keine Phrase, sondern geistige Wirklichkeit. Allerdings haben wir aufgeklärten Menschen dazu nicht mehr den unmittelbaren Zugang wie die Menschen jener Zeit, die noch staunen konnten.
Dieses Erleben, das insbesondere bei den in klösterlichen Gemeinschaften lebenden Männern und Frauen durch all die Gebete und Meditationen sehr intensiv werden konnte, versuchte ich meinen Zuhörern deutlich zu machen. Und dadurch konnte ich bereits indirekt eine Antwort auf die Ausgangsfrage geben: „Wo ist Bethlehem?“ Bethlehem ist, wie es Angelus Silesius so schön formuliert hat[10], nicht in der Außenwelt zu suchen, sondern vor allem in der Seele des frommen Gläubigen. In jener Zeit waren alle Menschen fromm, egal welchem Stand sie angehörten: von den einfachen Bauern („Hirten“) bis zu den Fürsten, Königen und Kaisern.
Ich wies auch daraufhin, dass laut Rudolf Steiner das „Mysterium von Geburt und Tod“ das zentrale „Thema“ der vierten nachatlantischen Kulturepoche gewesen war. Durch die Beschäftigung mit Jesu Geburt in Bethlehem und seinem Tod auf Golgatha waren die Menschen das ganze Mittelalter hindurch mit diesem Thema innerlich vertraut. In der Limpurger Altarretabel nun kommt auch noch Geburt und Tod Marias dazu: Das erste Bild der Retabel schildert, wie bereits besprochen, die Mariengeburt, das letzte den Marientod.



Nun zeugt es von der tiefen symbolischen Kraft dieses Altars, dass es neben dieser Erzählung, die sich horizontal auf den Bildern von links nach rechts ausbreitet, auch noch eine vertikale Achse gibt, die von unten nach oben führt: Von dem Jesusknaben ganz unten auf der zentralen Geburtsdarstellung kann man in einer senkrechten Achse über den Turm der „Limpurg“ auf dem Hügel hinauf zu Gottvater blicken. Aber der Blick wird noch weiter geführt: Fest verbunden mit der Retabel ist auch das spätgotische Kruzifix mit dem blutenden Christus, das als Abschluss der Retabel anzusehen ist.
So kreuzen sich die beiden Achsen sinnfällig und sinnvoll in dem leeren Raum über dem Jesuskind und über den beiden anbetenden Knaben. Der geheime Kreuzungspunkt, oder anders ausgedrückt: die Begegnung der beiden Geschichten, liegt also in einem „leeren“ Raum.
Es ist wie in der Musik: nicht die Töne bilden sie, sondern die Intervalle zwischen den Tönen. So ist es auch in der Malerei. Ich weise meine Zuhörer darauf hin, dass der bewusste Betrachter unserer Zeit möglichst auf solche „Zwischenräume“ achten sollte. Dort, im Zentrum des Bildes, „ereignet“ sich das Geistige.


Das kann man in der Altarretabel der Urbanskirche sehr schön auf der gemalten Tafel studieren, die die „Darstellung im Tempel“ erzählt: Der alte Simeon empfängt das Neugeborene und erkennt in ihm den Messias, auf den er sein ganzes Leben lang gewartet hat. Der Knabe, der vor dem weißen Tuch des Altars der Kirche, in der die Szene stattfindet, „schwebt“, streckt seine Arme nach der Mutter auf der linken Seite aus, dreht aber das Köpfchen nach rechts, um den alten Simeon anzuschauen: Die rechte Hand der Maria und das linke Händchen des Knaben berühren sich beinahe.
Aber nur beinahe.
Dabei entsteht zwischen den beiden Händen ein winziger Zwischenraum in der exakten Bildmitte. Zusammen mit dem Weiß des Altartuches ist dieser „leere“ Raum gleichzeitig das geistige Zentrum des Bildes, das seine „okkulte“ Wirksamkeit dann entfalten kann, wenn der meditierende Betrachter sich auf diesen Punkt konzentriert und durch ihn wie durch eine Tür in die Geistige Welt eintritt.
Rudolf Steiner führt in seinem Dornacher Vortrag zur „Geschichtlichen Symptomatologie“ (GA 185) vom 25. Oktober 1918 aus, dass das im Mittelalter innerlich erlebte „Mysterium von Geburt und Tod“ in unserer fünften nachatlantischen Kulturepoche, die im Jahre 1413 begann, zur Ausbildung der Bewusstseinsseele geführt hat (und noch führt).
Durch das Bewusstsein des „Stirb und Werde“, das man nur in einer durch das Diesseits geprägten Welt so stark erleben kann wie wir heutigen, wird das verinnerlichte Gefühl jener Zeit, in der sich die Menschen vor allem mit dem Jenseits „beschäftigten“, zu einem Anstoß, über die Endlichkeit unserer Existenz nachzudenken. Den Schmerz, dass der Mensch sterblich ist, haben bereits ausgewählte Heroen wie Orpheus, Ödipus  und Odysseus in der Antike, also am Beginn des vierten nachatlantischen Zeitalters, erfahren. Aber dieser Schmerz bringt heute jedermann zu der möglichen Erkenntnis, dass es etwas anderes jenseits des Todes geben muss, wenn das Leben nicht sinnlos gewesen sein soll.[11]  Der Schmerz bleibt auch dem konsequentesten Materialisten nicht erspart und jeder philosophisch gebildete Mensch weiß, dass es eben dieser Schmerz ist, der zur Erkenntnis führt.
Ein weiteres Rätsel der zentralen Darstellung im Mittelschrein kann ich bei meiner Führung auch nur berühren: Hinter Joseph erkennen wir eine Frau, die einen goldenen Mantel trägt und mit ihren Händen über dem Vater des Knaben eine behütende Gebärde ausführt, die der Mann, der beide Hände zu einer umhüllenden Geste zusammenführt, zu erwidern scheint. Jeder, der sich ein wenig mit mittelalterlicher Kunst auskennt, weiß, wie sprechend solche Gebärden sein können.



Mechthild Clauss interpretiert diese Person als Hebamme. Es gibt im Proto-Evangelium des Jakobus tatsächlich die Erzählung von zwei Hebammen, die unmittelbar nach der Niederkunft prüfen, ob Maria noch Jungfrau ist. Nur eine der beiden hat in dem apokryphen Evangelium einen Namen. Sie heißt wie die Mutter der Zebedäus-Söhne: Salome (siehe Math. 27, 56 und Markus 15, 40).
Auf einer Geburtsdarstellung des flämischen Meisters von Flemalle kann man tatsächlich die beiden Hebammen sehen, wie sie in eine Art Streitgespräch verwickelt sind. Auch sie „diskutieren“ im Rücken von Joseph über Marias Jungfräulichkeit. In der Urbanskirche fehlt die eine Hebamme. Die „übriggebliebene“ kann – wenn tatsächlich die Hebamme gemeint ist – nur die namenlose sein, die von Anfang an von der Jungfräulichkeit Marias überzeugt ist.[12]
Irritierend ist aber nicht nur, dass diese ungenannte Hebamme ausgerechnet hinter Joseph und nicht hinter Maria steht, sondern auch, dass sie so reich gekleidet ist und außerdem vor einem prächtigen, mit Zinnen bekrönten, goldenen Turm steht, der am rechten Bildrand am weitesten über die Landschaft im Hintergrund hinausragt.



Ich kann nicht glauben, dass es sich hier „nur“ um eine Hebamme handelt. Diese edle Frau hat – wie die beiden Hebammen auf der Tafel des Meisters von Flemalle – einen vornehmen Turban auf dem Haupt. Aber dieser „Turban“ lässt sie für mich eher verwandt erscheinen mit den drei „Königen“, die auf der Anbetungsszene nach Matthäus gleich rechts davon zu sehen sind und zum Teil ebenfalls Turbane tragen.
Wie schon durch die beiden blau und rot gekleideten Knaben an der „Krippe“ des Jesuskindes, erscheint mir diese als Hebamme gedeutete Gestalt auf ein Geheimnis hinzudeuten, das mit der Verschmelzung der beiden Familien zu einer hinweist.
Als die Lukas-Maria etwa zwölf Jahre nach ihrer Niederkunft stirbt, heiratet der Witwer, wie bereits angedeutet, die Matthäus-Maria, die auf der Retabel ja gleich in der anschließenden Darstellung zu sehen ist, sozusagen Rücken an Rücken mit ihrem zukünftigen Ehemann. Nicht eine reale Figur ist also meinem Empfinden nach die Frau hinter Joseph und vor dem Turm, sondern eine Imagination, eine Art Präfiguration dessen, was zwölf Jahre später geschehen wird.
Bei Gott, so will das Bild wohl sagen, sind alle Dinge möglich.
Gott ist hier auf dem zentralen Schrein gleich dreimal – einmal „real“ und zweimal symbolisch –abgebildet: deutlich erkennbar als Gottvater im Himmel über der Landschaft, gleichsam die fehlenden Engel vertretend, die das Gloria singen. Man kann aber Gott auch in dem goldenen Turm hinter der Frau in Anlehnung an den Psalm 61, Vers 4 sehen, wo es heißt: „Du bist meine Zuflucht[13], ein fester Turm gegen meine Feinde!“[14] Und schließlich ist vielleicht auch der Turm der Burg im Hintergrund ein Hinweis auf Gott, der damit wieder in seiner Trinität vertreten ist. Dieser mittlere Turm, der im Sinne der Dreifaltigkeit, bei der Gottvater im Himmel und Gottes Sohn auf Erden wirken, könnte dann ein Symbol für den Heiligen Geist sein, der zwischen Himmel und Erde vermittelt wie die Taube, die vom Himmel herabkommt.
Nun ist bekannt, dass mit der Burg auf dem Hügel die Schenkenburg gemeint ist, die sich direkt oberhalb der Urbanskirche erhob. Heute kann man sie nur noch als Ruine sehen. Zur Zeit der Entstehung der Altarretabel aber war die Stammburg der Schenken von Limpurg noch ein imposantes, die Landschaft dominierendes Gebäude mit Bergfried und Wohngebäuden. Auch der zentrale Bergfried war zinnenbekrönt, allerdings im Gegensatz zu dem goldenen Turm am rechten Bildrand nicht rund, sondern viereckig.
Durch diese Darstellung suggeriert also der Künstler, was damals durchaus üblich war, dass Bethlehem nicht nur eine Stadt im Heiligen Land ist, sondern dass auch im Limpurger Land ein Bethlehem zu finden ist. Die Heilsgeschichte wird dadurch für den gläubigen Christen aus der Ferne in die Nähe „geholt“.
Bethlehem ist also nicht nur im Innern der meditierenden Menschenseele, sondern überall da, wo sich auf der Erde fromme Christen zusammentun, um in ihren Gemeinden Gottesdienst zu feiern. In jeder Kirche des Landes kann das Jesuskind geboren werden, wenn der Heilige Geist wirkt. Deshalb feiert die Christenheit jedes Jahr von neuem Advent und Christgeburt.
Damit wäre die Frage, die über der Führung stand, in zweifacher Weise beantwortet worden.
Nun bleibt aber noch die Frage offen, warum es sich bei der Urbanskirche in Wahrheit um eine Marienkirche handelt, obwohl es durchaus einen Heiligen Urban gibt, dem Kirchen geweiht wurden.
Diese Namensgebung gehört meinem Empfinden nach zu einer Art Verschleierung des tieferen Geheimnisses, das diesen Platz und diese Kirche umgibt, als sollte der Unvorbereitete es nicht sofort enthüllen können.
Der Name der Kirche ist zunächst einmal ganz profan zu deuten, denn er geht hervor aus dem lateinischen Namen, der sich am Ende des 16. Jahrhunderts für die ursprüngliche Marienkirche eingebürgert hat. Die Kirche wurde damals gemäß der Quellen „Ecclesia sub urbana“, also „Vorstadtkirche“ genannt, weil sie in der Limpurger Vorstadt stand. Zusammen mit der Burg und dem dazugehörigen Dorf wurde das Kirchlein im Jahre 1541 an die Freie Reichsstadt Schwäbisch Hall verkauft. Von da an hieß die Kirche, abgeleitet von S(ub) Urban(a), „Sankt Urban“.
Marienkirchen waren im Mittelalter sehr beliebt. Rund um Paris erheben sich wie in einem Kranz solche großartigen Kirchen, die auf Erden das Sternbild „Virgo“ nachzubilden scheinen. Sie tragen in Frankreich den Namen „Notre Dame“. Viele deutsche Marienkirchen heißen, wie in Nürnberg oder München, einfach „Frauenkirchen“, oder wie zum Beispiel in Antwerpen oder Zürich Liebfrauenmünster beziehungsweise Liebfrauenkathedrale.
Die Marienverehrung war im Mittelalter sehr ausgeprägt. Insbesondere der Mystiker Bernhard von Clairvaux hat sehr dazu beigetragen. Alle Kirchen der Zisterzienser sind Marienkirchen.



Die Marienverehrung ist die geistliche Seite der Frauenminne, die im 12. Jahrhundert unter der Ritterschaft aufkam und bis ins 14. Jahrhundert in zahlreichen Minneliedern besungen wurde. Es gibt in der Großen Heidelberger Liederhandschrift, auch Codex Manesse, genannt, eine Abbildung des Minnesängers Konrad I. von Limpurg, der vor seine Dame kniet.[15]
Das 12. Und 13. Jahrhundert ist die große Zeit der Frauenverehrung. Erst im 16. Und 17. Jahrhundert wurden Frauen als Hexen verfolgt.
Unser Kirchlein steht sozusagen am Wendepunkt zwischen den beiden Zeitaltern, an der Schwelle zur Neuzeit.
Bei der Marienverehrung ging es immer um die mystische Läuterung der Seele. Maria war nicht nur die Mutter, sondern auch die Braut Christi, die den Betenden zum Bräutigam geleitete. Dabei war sie zugleich Magd, wie bei Lukas, und Madonna, wie bei Matthäus. Die Magd trug blau, die Madonna oft rot, wie zum Beispiel in dem Gemälde „Madonna im Rosenhag“ von Martin Schongauer, das in der Colmarer Dominikanerkirche bewundert werden kann.



Die Magd war das unschuldige Mädchen, die Madonna die Herrin im Haus.
Beide Seiten der Frau konnten zum Beispiel in den zahlreichen Darstellungen der Schutzmantelmadonnen zusammenkommen. So trägt die Haller Holbein-Madonna eine blaue Tunika und einen leuchtend  roten Gürtel, der über ihrem Schoß geknotet ist und so ein „Y“ bildet, ein altes hermetisches Symbol.[16]



Die mystische Marienverehrung hat sich im Laufe der Neuzeit gewandelt. Im 20. Jahrhundert zeigte Rudolf Steiner Wege auf, die auf moderne Weise zum „Bräutigam“ führen. Dabei spricht er von zwei Schulungswegen, die in jeweils sieben Stufen über die „Katharsis“ (Reinigung) und die „Erleuchtung“ zur „Einweihung“ führen können: der christliche[17] und der Rosenkreuzerweg[18].
Ich hatte in meiner letzten Führung ein Zitat zum christlichen Schulungsweg ans Ende gestellt, in dem Rudolf Steiner von dem verwandelten und geläutertem Astralleib spricht: am 5. November 1906 sagte er in München über „Die Theosophie anhand des Johannes-Evangeliums“ laut der Mitschrift:
„Jetzt war (der Adept) ein neuer Mensch geworden. Man nannte nun den ganz vergeistigten Astralleib aus einem ganz bestimmten Grunde mit einem ganz besonderen Namen: „Jungfräulich“ nannte man diesen Astralleib, die „Jungfrau Sophia“. Und den Ätherleib, der aufnimmt, was die Jungfrau Sophia in sich trug, nannte man den „Heiligen Geist“. Und das, was aus beiden entstand, das war der „Menschensohn“. Der Verkündigung und Geburt des Jesus von Nazareth liegen diese Mysterieninhalte zugrunde.“[19]





[1] Die Getsemaneh-oder Ölberg-Szene, wo Jesus Schweiß und Blut schwitzt, ist fast an jeder Kirche zu sehen.
[2] Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, 8. Auflage 1975, S 97
[3] Matthäus, Markus und Lukas sprechen nicht von einem „Kriegsknecht“ wie Johannes, sondern von einem Hauptmann, der blind war und durch einen Tropfen des Blutes, der auf seine Augen fiel, sehend wurde und ausrief: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (Markus 15, 39). Die Legende gibt dem Hauptmann sogar einen Namen: Longinus. Siehe Legenda Aurea „Von Sankt Longinus“, S 235. Die Kirche feiert ihn am 15. März.
[4] Über diese „Provinz“ berichtete am gestrigen Freitag Annette Krause in der Sendung „Expeditionen in die Heimat“ im dritten Programm (Südwest drei). In der Sendung kam natürlich auch der „Visionär“ Rudolf Bühler zu Wort, der erklärt, dass er seinen Namen von dem Flüsschen Bühler hat, die das Limpurger und das Hohenloher Land von Süden nach Norden durchfließt und bei Geislingen in den Kocher mündet.
[5] Es beginnt so: „Zu Limpurg auf der Feste/ Da wohnt ein edler Graf,/ Den keiner seiner Gäste/ Jemals zu Hause traf. / Er trieb sich allerwegen/ Gebirg und Wald entlang, /Kein Sturm und auch kein Regen/ Verleidet‘ ihm den Gang.“ Schließlich trifft der durch die Wälder streifende Graf auf den Hohenstaufen Kaiser, der ebenfalls auf der Jagd ist und ihm den Speer abnehmen will. Der Graf von Limpurg antwortet: „‘Herr Kaiser, wollt vergeben!/ Ihr macht das Herz mir schwer. Lasst mir mein freies Leben/ Und lasst mir meinen Speer!“ Darauf sagt der Kaiser: „Mit dir ist nicht zu streiten,/ Du bist mir allzu stolz,/ Doch führst du an der Seiten/ Ein Trinkgefäß aus Holz:/ Nun macht die Jagd mich dürsten,/ Drum tu mir das Gesell,/ Und gib mir eins zu bürsten/ Aus diesem Wasserquell!‘ Die Ballade endet versöhnlich, nachdem der Kaiser aus der Schale so köstliches Wasser getrunken hat, dass er vermeinte, es sei Wein: „Dann fasst der schlaue Zecher/ Den Grafen bei der Hand:/ ‚Du schwenktest mir den Becher/ Und fülltest ihn zum Rand,/ Du hieltest mir zum Munde/ Das labende Getränk:/ Du bist von dieser Stunde/ Des deutschen Reiches Schenk!‘“ Unschwer sind in diesem Gedicht die beiden Gralsreliquien, Speer und Schale, wieder zu erkennen.
[6]Es handelte sich also für die, die mehr schildern wollten den Jesus von Nazareth und auch nur ihn schildern konnten (Matthäus und Lukas), darum, zu zeigen, wie das Blut von Anfang an herrunterrann durch die Generationen. Wichtig war es ihnen, zu zeigen, dass im Joseph, dem Vater des Jesus von Nazareth, lebte das Blut, das durch die Generationen herunterfloss. Hier würde es natürlich, wenn wir ganz esoterisch sprechen könnten, notwendig sein, über den Begriff der sogenannten „Unbefleckten Empfängnis“ zu sprechen, der "Conceptio Immaculata“, der aber nur im allerengsten Kreise erörtert werden kann. Aber er gehört zu den tiefsten Mysterien, die es überhaupt gibt, und die Missverständnisse, die sich an diesen Begriff knüpfen, rühren davon her, dass die Menschen nicht wissen, was überhaupt unter der „Conceptio Immaculata“ verstanden werden muss. Die Menschen glauben, dass keine Vaterschaft da wäre. Das ist es nicht, sondern eine viel tiefere, geheimnisvolle Sache liegt dahinter; und mit dem, was dahinter liegt, ist gerade dasjenige vereinbar, was die anderen Evangelien zeigen wollen, dass Joseph der Vater ist.“
Rudolf Steiner, 12. Vortrag in „Das Johannes-Evangelium“ vom 31. Mai 1908 (Das Wesen der Jungfrau Maria und der Heilige Geist)

[7] Luk. 2, 7
[8] Math. 2, 11
[9] „Bevor aber dieses geschah, hatte der Jesus von Nazareth noch ein wichtiges Gespräch mit derjenigen Persönlichkeit, die wir als seine Zieh- oder Stiefmutter kennen. Wir wissen ja, dass die Mutter jenes nathanischen Jesus, der in seinem zwölften Jahre die Individualität des Zarathustra in sich aufgenommen hatte, das heißt also die wirkliche leibliche Mutter des nathanischen Jesus, gestorben war bald, nachdem dieser Jesusknabe den Zarathustra, der in dem anderen Jesusknaben verkörpert war, in sich aufgenommen hatte, so dass also deren Seele längst in der geistigen Welt war. Wir wissen auch aus früherern Vorträgen verflossener Jahre, dass der Vater des anderen, des salomonischen Jesusknaben, gestorben war, und dass aus den beiden Familien der beiden Jesusknaben eine einzige Familie in Nazareth geworden war, innerhalb welcher der Jesus mit seinen Geschwistern und mit der Zarathustra-Mutter zusammen war. Wir wissen, dass der Vater des Jesus von Nazareth, als dieser etwa im vierundzwanzigsten Jahre von einer größeren Wanderung zurückkam, gestorben war, und dass nun der Jesus von Nazareth allein mit seiner Mutter, der Zieh- oder Stiefmutter, lebte. Im Allgemeinen muss gesagt werden, dass diese Zieh- oder Stiefmutter sich nur langsam ein Gemütsverständnis, aber eben nach und nach ein tiefes Gemütsverständnis für alle die tiefen Erlebnisse aneignete, welche der Jesus von Nazareth durchmachte. Es wuchsen gewissermaßen im Laufe der Jahre die Seelen, die des Jesus von Nazareth und die der Zieh- oder Stiefmutter, ineinander.“
Rudolf Steiner, das Fünfte Evangelium, Berlin, 18. November 1913 (GA 148, S 138f)

[10] Der 61. Sinnspruch aus dem Ersten Band des „Cherubinischen Wandersmann“ lautet: „Wird Christus tausendmal zu Bethlehem gebohrn/ und nicht in dir; du bleibst doch ewiglich verlohrn.“
[11] „Daher ist es so unendlich wichtig, dass in diesem Zeitalter der Bewusstseinsseele der Mensch sich über Geburt und Tod im wahren Sinne, das heißt im Sinne der wiederholten Erdenleben, aufklärt …“ (R. Steiner am 25. Oktober 1918, GA 184, S 102)
[12] „Und die Hebamme ging mit ihm (Joseph) hin. Und sie standen an dem Platz, wo die Höhle war, und siehe, eine lichte Wolke hüllte die Höhle in Schatten. Da sagte die Hebamme: ‚Erhaben ist heute meine Seele. Denn meine Augen haben Wunderbares gesehen; denn für Israel ist Heil geboren worden.‘ Und sogleich verzog sich die Wolke aus der Höhle, und es erschien ein gewaltiges Licht in der Höhle, so dass unsere Augen es nicht ertragen konnten. Und nach kurzer Zeit verschwand jenes Licht, bis das Kind zu sehen war; und es kam und nahm die Brust seiner Mutter Maria. Und die Hebamme schrie auf und rief: ‚Groß ist der Tag heute für mich, dass ich dieses neue Schauspiel habe sehen dürfen!‘ Und die Hebamme verließ die Höhle. Da begegnete ihr Salome, und sie sagte zu ihr: ‚Salome, Salome! Ein neues Schauspiel habe ich dir zu erzählen: eine Jungfrau hat geboren, was doch ihre Natur gar nicht erlaubt!‘ Da sagte Salome: ‚So wahr der Herr, mein Gott, lebt, wenn ich meinen Finger nicht anlege und ihren Zustand untersuche, so glaube ich nicht, dass eine Jungfrau geboren hat.‘“ (Proto-Evangelium des Jakobus in: Erich Weidinger, Die Apokryphen – Verborgene Bücher der Bibel, Pattloch Verlag 1988, Nachdruck im Weltbild-Verlag, S 442 f)
[13] Siehe Anmerkung 7
[14] Rainer-Maria Rilke kann später in einem seiner bekanntesten Gedicht ebenfalls Gott mit einem Turm vergleichen, wenn er sagt: „Ich kreise um Gott, um den uralten Turm/ und ich kreise jahrtausendelang,/ und ich weiß noch nicht, /bin ich ein Falke, ein Sturm,/ oder ein großer Gesang“
[15] Auf dem grünen Umhang liest man, schön verteilt, den weißen Buchstaben A, der für Amor (=Liebe) steht. Die Haltung ist demütig. Das Wappen mit den drei silbernen Keulen auf blauem Grund hängt in einem Baum. Die Dame trägt über einem roten Untergewand einen blauen Mantel. Grün ist die Farbe der Hoffnung, Weiß die Farbe der Reinheit, und Blau die Farbe der Treue und des Glaubens.
[16] Es deutet auf eine „Scheideweg-Situation“ hin, wie sie zum Beispiel der Göttersohn Herkules antraf, als er seinen Lebensweg antrat. Er sollte wählen zwischen dem steilen und steinigen Weg, der zum Heil führt und dem leichten und flachen Weg, der zu den Vergnügungen des Lebens (ver-) leitet. Herkules hat natürlich den ersteren gewählt. Auch Jesus von Nazareth stand einst am Scheideweg zwischen rot und blau. Ihm allein konnte es – durch die Jordantaufe – gelingen, die königliche und die priesterliche Linie in seinem Leben zu vereinen. Seitdem gibt es, richtig betrachtet, nicht mehr das „Entweder – Oder“, sondern das „Sowohl – Als auch“. Oder wie es im „Parzival“ heißt: Gott und der Welt gefallen, Rittertum und Mönchtum vereinen.
[19] GA 94, Siebenter Vortrag. Ganz ähnlich und noch ausführlicher spricht Rudolf Steiner am 31. Mai 1908 im letzten Vortrag des Hamburger Zyklus über das Johannes-Evangelium, GA 148.

Freitag, 20. Oktober 2017

Besuch auf der Burgruine "Trifels"



Im Nachhinein erlebe ich noch einmal die schönen Momente mit meiner Tochter auf der Burg Trifels. Dabei gelange ich auch zu einer – noch ganz zarten – Wahrnehmung der besonderen Aura dieses Ortes. Ich weiß nichts darüber, da ich mich noch nicht besonders mit der Äthergeographie beschäftigt habe. Als „wissenschaftlicher“ Geograph fällt mir das noch ein wenig schwer. Ich möchte nicht ins „Spekulieren“ kommen. Und dennoch war die besondere Atmosphäre in diesem südlichen Teil des Pfälzer Waldes, der auch das „Dahner Felsenland“ genannt wird, zu spüren.
Die Äcker und die Felsen sind dunkel- bis rostrot.
Die anstehende Buntsandstein-Formation deutet auf ein erdgeschichtlich weit zurückliegendes Wüstenklima hin. Wie heute noch üblich, muss es auch damals in dem vorwiegend ariden Klima heftige Regengüsse gegeben haben, die den Sand oberflächlich wegspülten und an anderen, tiefer gelegenen Stellen deltaförmig wieder ablagerten. Es handelt sich also um eine flächenhafte Erosion.
Deshalb sind die einzelnen Fazies der Buntsandsteinformation nicht wie im Jura oder Muschelkalk – beides Meeresablagerungen – regelmäßig geschichtet oder „gebankt“, sondern sie wechseln sich in diagonalen Strukturen ab und schneiden sich häufig gegenseitig an, wie man es noch heute im Kleinen bei Delta-Aufschüttungen beobachten kann, wenn sich die Geschwindigkeit des fließenden Wassers in der Nähe der Mündung deutlich verlangsamt und das mitgebrachte Material ablagert.



Unter dem mesozoischem Buntsandstein lag das paläozoische Grundgebirge, der als erster verhärtete Gebirgssockel aus Urgesteinen.
Schwarzwald und Odenwald auf der rechten Rheinseite und Vogesen und Pfälzer Wald auf der linken Rheinseite haben sich wegen der dort im Erdinneren aufsteigenden Konvektionsströmen und der entstehenden Plattengrenze gehoben. Später ist der Scheitel dieses Gebirges eingebrochen und hat die Oberrheinische Tiefebene gebildet. Diese gehört zu dem weltweiten Grabenbruchsystem, das die sieben großen und die etwa zwölf kleinen Erdplatten auseinanderdriften oder zusammenstoßen lässt, wie Alfred Wegener vor etwas mehr als hundert Jahren herausgefunden hat.
Der damals zerbrochene Teil des variskischen Gebirges war zur Zeit der Landhebung schon bedeckt von weiteren mesozoischen Schichten: außer von der Buntsandsteinformation von den Formationen des Muschelkalks, des Keupers und des Jura, im Pariser Becken sogar auch von der Formation der Kreide.
Nach der Hebung bildete sich östlich des Rheingrabens das süddeutsche und westlich des Rheingrabens das nordfranzösische Schichtstufenland heraus. Schwäbisch Hall liegt am Rande zwischen dem eher unfruchtbaren und bewaldeten Keuperbergland und den Muchelkalk-Ebenen mit ihren fruchtbaren Lettenkeuper-Auflagen. Karlsruhe liegt inmitten der Oberrheinebene und ist eine sehr späte, barocke Fürsten-Gründung, ähnlich wie Sankt Petersburg nur etwas mehr als 300 Jahre alt.
Die zahlreichen Burgen auf den Felsen des Pfälzer Waldes dagegen sind wesentlich älter, die meisten entstanden vor etwa tausend Jahren. Mit Sicherheit befanden sich auf einigen auch bereits vorchristliche Kultstätten, worauf zum Beispiel die Namen „Lug“[1], „Höllenberg“ oder ganz in der Nähe der „Kleine Rauhberg“ und der „Große Rauhberg“[2], alle bei Spirkelbach, hinweisen. Immer wieder lese ich auch den Namen „Wasgau“ und ich erinnere mich daran, dass die Vogesen einst als Waskenwald bezeichnet wurden. Als Wasgau wird der südliche Teil des Pfälzer Waldes mit dem Dahner Felsenland und der nördliche Teil der Vogesen bezeichnet. Er geht etwa von Annweiler im Norden bis nach Zabern im Süden.
Während Elsass und Lothringen zum Deutschen Reich gehörten, das im Westen bis an die Maas reichte, nannte man die Vogesen in deutscher Sprache „Waskenwald“. Dieser Name ist verwandt mit dem Name der „Basken“ und weist darauf hin, dass vor der Besiedlung weiter Teile Süddeutschlands durch die Kelten eine ältere Siedlergemeinschaft festzustellen ist, auf die viele der Flussnamen („Jagst“) und Bergnamen („Ipf“) zurückgehen.
Diese ältesten nacheiszeitlichen Volkschaften waren vermutlich Atlantier, die ihren untergehenden Kontinent rechtzeitig verlassen konnten. Allerdings wurde diese Urbevölkerung von den nachfolgenden Völkern nach Westen vertrieben, wo sie jetzt noch eine kleine Enklave im spanisch-französischen Grenzgebiet bewohnen, das Baskenland. Auch das war einst wesentlich größer, worauf der verwandte Name „Gascogne“ hindeutet, der südliche Teil Südwestfrankreichs, aus dem zum Beispiel D’Artagnan, der Held des Romans „Die drei Musketiere“ von Alexandre Dumas stammt. Die Gascogne war einst ein Teil Aquitaniens und gehörte zum Stammbesitz der Eleonore von Aquitanien, der Mutter von Richard Löwenherz, auf dessen Spuren wir uns seit ca. drei Wochen bewegen.
Ich war vollkommen verblüfft, als mir am Mittwochmorgen plötzlich mein Traum aus der vorangegangenen Nacht wieder einfiel: Ich hielt einer Gruppe von Menschen eine Art Vortrag über die Eiszeit. Ich erklärte meinen Zuhörern im Traum wissenschaftlich exakt, dass der Meeresspiegel während der Eiszeit wegen der Bindung des Wassers in den vereisten Polkappen und Gebirgsgletschern um etwa 120 Meter tiefer lag als heute. Als die Gletscher, die bis zu vier Kilometer mächtig waren, wieder abtauten, stieg der Meeresspiegel wieder an und der sagenhafte Kontinent, der sich einst zwischen Europa-Afrika und Amerika befand, ging unter.
Im Grunde war unsere erste Reise nach Santiago de Compostella, die wir im Sommer 1975 zusammen mit David Auerbach unternahmen, der uns damals auf unvergessliche Weise in die Sternbilder einführte, eine Reise an die Orte, wo einst die ersten Boote der Atlantier landeten, als sie merkten, dass ihr Kontinent im Ozean zu versinken drohte. Damals kamen wir im äußersten Nordwesten Spaniens an einen Ort namens „Noya“ und zu einem Berg, der „Pico Aro“ heißt, nach Louis Charpentier („Les Jacques et le mystere de Compostelle“, Robert Lafont, Paris 1971) sprachliche Anlehnungen an die biblische Sage, nach der ein Mann namens Noah nach der Sintflut auf einem Berg mit Namen Ararat gelandet sein soll.[3]
Durch Rudolf Steiner wissen wir, dass der biblische Noah mit dem indischen Manu gleichzusetzen ist, dem Leiter des atlantischen Sonnen-Orakels, der seine Schüler, die sieben heiligen Rishis, rechtzeitig aus dem untergehenden Land nach Westen führte und sie dabei mit zahlreichen Schiffen auf einer nördlichen Route über Europa und auf einer südlichen Route über Nordafrika bis zum indischen Subkontinent, ja bis zur Wüste Gobi leitete, wo sie dann die erste nachatlantische Kultur, die die Theosophen die „urindische“ nannten, begründeten.
Nun ist für mich interessant, dass der Berg, auf dem die Burg „Trifels“ steht, „Sonnenberg“ heißt. Der Name „Trifels“ deutet auf die drei hintereinander liegenden Bergkegel hin, die alle drei eine Burgruine tragen. Die bedeutendste ist die Burg, auf der einst die Reichskleinodien aufbewahrt wurden, die heute in der Wiener Hofburg zu bewundern sind.



Schon diese Tatsache gibt dem Ort eine besondere Bedeutung und er wird deshalb von Menschen aus aller Welt besucht. Wir hörten mehrere unterschiedliche Sprachen in den Gemäuern, unter anderem Englisch. Die Touristen waren an jenem Mittwoch, als wir die Burg besuchten voller Respekt für den Ort und störten die beinahe heilige Atmosphäre nicht.




[1] Vermutlich nach dem keltischen Lichtgott benannt, siehe auch all die römischen „Lugdonom“ (Lyon)
[2] Das könnte etwas mit den sogenannten „Rauhnächten“ zu tun haben, in denen das Gefolge des germanischen Gottes Wotan durch die Lande fuhr.
[3] Erst vor ein paar Wochen kam John Hustons vollkommen misslungener Monumentalfilm „Die Bibel“ (USA 1965) auf Arte, den ich mir anschaute. Die Szenen vom Bau der Arche und der anschließenden Sintflut sind absolut kindisch und so unglaubwürdig, dass kein Mensch sie ernst nehmen kann.

Freitag, 25. August 2017

Drei Tage in Sankt Petersburg. Aus meinem Tagebuch

Sankt Petersburg, der 15. August 2017 (Dienstag, 9.40/10.40 Uhr)
Mariä Himmelfahrt und Geburtstag Napoleons (15. August 1769)
Meinen ersten Gang durch die Stadt habe ich bereits unternommen – allein. Lena hat schlecht geschlafen und wollte sich noch ausruhen.
Bis sie sich richtet, will ich schnell zusammenfassen, wo ich auf meinem ersten Rundgang war.
Unser kleines Hotel liegt am nördlichen Ufer der Fontanka, eines der drei Kanäle, die die Stadt in ost-westlicher Richtung durchschneiden. Der Kanal ist der Querstrich des großen „A“, das die drei von der Admiralität nach Süden ausstrahlenden Achsen bilden. Die mittlere, die Gorochowaja, liegt nur wenige Meter von unserem Hotel entfernt.
Das Malteser-Tor bildet sozusagen den Zugang zur Stadt. Diese zentrale Achse bin ich nach Norden gegangen, bis ich auf die erste große Querstraße, die Sadowaja, stieß. In diese bog ich nach links ab und gelangte so auf den Heumarkt, einen sehr belebten Platz mit Metro-Station. Hier soll Dostowjewskis Roman „Schuld und Sühne“ spielen, wie ich meinem Polyglott-Reiseführer entnehme. Meine nächste Station ist die Nikolaus-Marine-Kathedrale (1753 – 1762 erbaut von Sawa Tschewakinskij auf dem ehemaligen Marine-Exerzierplatz) mit ihren fünf goldenen Kuppeln. Rings an den Außenwänden ist der blau-weiße Bau umgeben von Putto-Köpfen aus Stuck, so als würde er von Engeln über dem Erdboden schwebend gehalten.[1] Innen gibt es eine Unzahl von Ikonen, die ich aber wegen des gedämpften Lichtes nicht lesen kann.


Meine nächste Station ist das berühmte Mariinski-Theater, dessen südlicher Teil jedoch gerade von einer Baustelle verdeckt wird. Gegenüber steht die Kolossal-Statue des russischen Komponisten Rimsky-Korsakow. An der Mojka entlang, einem weiteren Kanal der Stadt, komme ich zum Jussopow-Palast, in dem am 17. Dezember 1916 Grigorij Rasputin ermordet wurde. Weiter gehe ich an der Mojka entlang, bis ich die Isaak-Kathedrale und das Reiterstandbild Zar Nikolaus I. vor mir habe. Auf dem riesigen Isaakplatz, zu dem die „Blaue Brücke“ über die Moika führt, parken unzählige Autos und Busse.
Ich gehe weiter an der Moika bis zur Roten Brücke und folge dann der Gorochowaja zurück zur Fontanka und zu unserem Hotel.
20.35/21.35 Uhr
Jetzt sind wir gut müde. Lena und ich sind zusammen von etwa 12.00 Uhr bis um 20.30 Uhr (russischer Zeit) durch Sankt Petersburg gelaufen. Zum Schluss habe ich noch für Frieden und Völkerverständigung vor dem Winterpalais mitgetanzt. Nun spüre ich Füße und Beine und bin, nach dem Abendbrot, das wir in unserem Hotelzimmer eingenommen haben, einer Flasche Bier und einem Tee recht müde, zumal da ich in der vergangenen Nacht nicht wirklich ausgeschlafen habe.
Ich wollte mit Lena zu den Ursprüngen von Sankt Petersburg zurück, also zu dem Haus von Peter dem Großen und zur Peter- und Paul-Festung. Wir haben auch die „Aurora“ angeschaut und waren in der Villa, die Zar Nikolaus für die Ballerina Mathilde Kschessinskaja gebaut hat. Dort war eine sehr instruktive Ausstellung über die Russische Revolution und 70 Jahre Sowjetunion, die wir uns ausführlich angeschaut haben. Auch Lenins Arbeitszimmer und den Balkon, von dem aus er zu seinen Anhängern gesprochen hat, haben wir gesehen. Es waren sehr viele Eindrücke und ich werde später ausführlicher darüber berichten.
Sankt Petersburg, der 16. Aug. 2017 (Mittwoch, 5.15/6.15 Uhr)
In dieser Stadt fand vor 100 Jahren die bolschewistische Revolution statt.
Hierher gelangte Lenin, der über Deutschland, Schweden und Finnland in einem plombierten Zug aus seinem Schweizer Exil zurückkehrte und versammelte seine Anhänger um sich. Hier kämpften russische Soldaten unter Zar Peter I. 21 Jahre lang gegen die Schweden im „Großen Nordischen Krieg“, der mit dem „Frieden von Nystad“ endete, von dem Rudolf Steiner als einem der wichtigsten Ereignisse der Neuzeit spricht.
Im Grunde wurde die Stadt an der Neva von Peter dem Großen gegründet, um Russland vor den Schweden zu schützen. Durch den Sieg über die nordischen Angreifer stieg Russland zur Großmacht auf, etwa gleichzeitig mit Preußen. Es begann damit das Spiel der fünf europäischen Großmächte, die Otto von Bismark bis zu seiner Abdankung als Reichskanzler im Gleichgewicht zu halten versuchte. Das Bild von den fünf Bällen, mit denen er zu „jonglieren“ versuchte, ist mir als eins der wenigen aus dem Geschichtsunterricht aus meiner Schulzeit geblieben.
Dass ausgerechnet ein Russe dieses Zarenreich vor 100 Jahren zerstörte, die Zarenfamilie exekutieren und Millionen von russischen Bauern, die „Christiani“, töten ließ, war das Ende des „alten Russland“, wie es noch Leo Tolstoi beschrieben hat. Bis heute leidet das Land auch unter der Vernichtung seiner „Intelligentia“ während des „Roten Terrors“.[2]
Wir gelangten gestern auf der Dreieinigkeitsbrücke auf die nördliche, die „Petrograder Seite“ von Sankt Petersburg. Dazu mussten wir den Fluss Newa überqueren. Nach diesem Fluss hat der erste große russische Fürst und Nationalheld Alexander Newski seinen Namen, nachdem er als erster im Jahre 1240 die Schweden in der „Schlacht an der Newa“ besiegt hat.
Alle diese historischen Ereignisse treten vor mein inneres Auge, als wir die Newa auf der Troizka überqueren. Auf dieser Brücke höre ich auch zum ersten Mal seit unserem Ankommen in Russland die deutsche Sprache wieder. Ein Mann und eine Frau kommen uns entgegen und ich schnappe ein paar Brocken ihres Gesprächs auf. Unmittelbar davor hatte ich zu Lena gesagt: „Den ersten Deutschen, den wir hier treffen, werde ich umarmen.“ Das tat ich dann auch: zuerst umarmte ich den Mann, dann die junge Frau. Und sie erwiderten herzlich meine Umarmungen.
Als erstes steuerten wir das Haus Peters des Großen in unmittelbarer Nähe des Nordufers der Newa an. Wir konnten es nur von außen anschauen, da es dienstags geschlossen ist. Das in nur drei Tagen 1703 „aus Fichtenholzbalken im Stil eines altrussischen Bauernhauses“ gezimmerte Gebäude, in dem der 2.03 Meter große Hüne Peter der Große bescheiden gewohnt hat, ließ Katharina II., die Große, 1784 mit Steinmauern umgeben, um es vor der Feuchtigkeit zu schützen.


In unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Haus gibt es ein japanisches Restaurant, in dem wir zu Mittag essen.
Von Peters Holzhaus aus nahm Sankt Petersburg allmählich Gestalt an. Die ersten drei Inseln, auf denen sich die Stadt seit 1703 ausbreitete, heißen Petrograd, Hasen-Insel und Wassiljewski-Insel. Alle drei besuchen wir an diesem Tag. Dabei springen wir in Gedanken immer wieder hin und her zwischen der alten und neuen Geschichte der Stadt.
Unsere nächste Station ist der historische Panzerkreuzer „Aurora“, der am Ufer der Newa an der Ostseite der Insel ankert. Der Polyglott-Führer schreibt: „Zu seinen revolutionären Ehren kam das Schlachtschiff, dessen Besatzung zu den Bolschewiki übergelaufen war, am Abend des 25. Oktober (7. November) 1917, als sich folgende Ereignisse zutrugen: vor der Nikolaiewskij-Brücke, die heute als Leutnant-Schmidt-Brücke bekannt ist, bezog das Schiff Position und wartete auf das verabredete rote Signalfeuer von der Peter-Paul-Festung. Um 21.45 Uhr gab die „Aurora“ den legendären Blindschuss aus einer Bugkanone ab – das Signal  zur Erstürmung des Winterpalasts, in dem die Provisorische Regierung ihren Sitz genommen hatte. Die Geschichtsbücher der Sowjetunion lehrten noch lange Zeit, dass die „Aurora“ scharf geschossen habe und die Massen den Winterpalast mit brachialer Gewalt erstürmen mussten. Tatsächlich stammt jenes berühmte Bild des Massensturmes aus dem Film „Oktober“ von Sergej Eisenstein.“ (S 62)


20.35/21.35 Uhr:
Wir sind erfüllt von all den heutigen Eindrücken, aber gleichzeitig „fix und fertig“. Ich bin heute bestimmt 25 Kilometer gelaufen, Helena vielleicht 15. Ich habe ungefähr 100 Euro, das heißt 70000 Rubel ausgegeben.
Sankt Petersburg, der 17. Aug. 2017 (Donnerstag, 5.00/6.00 Uhr)
Ich könnte zwar noch schlafen, aber heute ist unser letzter Tag in Sankt Petersburg und ich habe gestern via Internet zwei Eintrittskarten für die Eremitage gekauft (je 20 Euro) und wir wollen rechtzeitig zur Öffnung (10.30 Uhr) dort sein. Vorher müssen wir noch packen.
Gestern wurde mir bewusst, wie wenig ich von russischer Geschichte, Literatur und Kunst bisher wusste. Da ist mir Lena eine wirklich kundige Begleiterin.
Als wir am Dienstag im Museum der Villa Kschessinskaja waren, haben wir uns mit den historischen Umständen, die 1917 zur Russischen Revolution führten, mit dieser selbst, dem roten Terror und siebzig Jahren kommunistischer Sowjetunion beschäftigt. Ich hatte mir ein Gerät ausgeliehen, das mir die einzelnen Stationen in deutscher Sprache erläuterte. Außerdem waren die meisten Bildunterschriften auch in englischer Sprache übersetzt. So konnte ich mich ganz gut orientieren. Die Ausstellung war museumspädagogisch perfekt gestaltet. Ich habe einige Stationen oder Dokumente fotografiert. Lena, die sich vor allem für die Deportationen während der Stalin-Zeit interessierte, sagte, dass sie mindestens zehn Mal geweint hätte während des Lesens der Dokumente und des Sehens der Bilder, bei denen sie an ihre Familie denken musste, insbesondere an ihre Großeltern.
Wir waren nach ca. zweieinhalb Stunden so erschöpft, dass wir nur noch den Rückweg über die Festung auf der Haseninsel und die Spitze der Wassiljewski-Insel auf die Moskauer Seite antreten konnten, ohne die besonderen Sehenswürdigkeiten der Polyglott-Tour „Nummer 1“ auf der Petrograder Seite zu beachten wie die „Akademie der Wissenschaften“, die „Zwölf Kollegien“, den Menschikow-Palast mit seinem Museum und einer Ausstellung zu Peter dem Großen und seiner Zeit oder die Kirche der Heiligen Katharina.
Schon allein die russischen Namen sind für mich noch schwierig zu merken: Kschessinskaja, Wassiliewski (Basilius), Menschikow, ganz zu schweigen von den Straßennamen und den Aufschriften an denkmalgeschützten Häusern in kyrillischer Schrift. Ich bin schon ein wenig „eingearbeitet“, aber ich lese noch Buchstabe für Buchstabe wie ein Erstklässler, der lesen lernt.
Alles ist für mich „Neuland“. Ich fühle mich ein wenig wie der „Papalagi“.
Mein mangelhaftes Wissen hängt auch damit zusammen, dass ich in einer Zeit aufgewachsen bin, als der „Eiserne Vorhang“ die Welt in zwei „Blöcke“ unterteilte, die sich im „Kalten Krieg“ feindlich gegenüberstanden. Alles, was jenseits der „Mauer“ war, war wie „Terra Incognita“, wie ein „Weißer Fleck“ auf der Landkarte für mich.
Die Welt jenseits gab es nicht wirklich in unseren westlichen Bewusstseinen. Unser Blick ging nach Westen, mein Blick insbesondere nach Hollywood. Der Osten interessierte mich nicht wirklich, jedenfalls nicht der sowjetische Teil des Ostens. Ich blendete ihn aus, insbesondere, weil ich wenig mit Kommunismus und Stalinismus anfangen konnte. Ich war nie ein Kommunist, auch wenn ich anfänglich ein wenig mit manchen Ideen des Kommunismus sympathisierte. Aber ich hatte nie Lust, „Das Kapital“ von Karl Marx zu lesen, geschweige denn die Werke von Lenin. Das interessierte mich einfach nicht.
Nun bin ich – mit meiner russischen Freundin – zum ersten Mal in diese Welt „eingedrungen“ – etwa 25 Jahre nach dem endgültigen Untergang der Sowjetunion und genau 100 Jahre nach der Russischen Revolution“. Lena ist wenige Wochen vor dem Einmarsch der „Roten Armee“ in die Tschechoslowakei im August 1968 geboren, vor nun bald 50 Jahren.
Gestern Vormittag bin ich von 8.00 bis 10.00 Uhr wieder alleine auf Tour gegangen. Ich habe mich dabei an „Tour 3 – Wege der Kunst“ –  des Polyglott-Führers orientiert. Ich ging durch die vollkommen erhaltene etwa 220 Meter lange sogenannte „Rossi-Straße“ auf das Alexandrinski-Theater zu, das frühere Puschkin-Theater, das ebenfalls von dem italienischen Architekten Carl Rossi in rein klassizistischen Formen erbaut wurde. Vom anschließenden Ostrowski-Platz hatte ich einen wunderbaren Blick auf die Eingangsfassade des Theaters mit der Attika und dem Wagen des Apollo als Führer der Musen.
Als ich mich genau in die Achse stellte, die in nordnordöstlich – südsüdwestlicher Richtung verläuft, sah ich genau eine Handbreit über dem Giebel der Attika im Südsüdwesten den abnehmenden Halbmond, der bereits das dritte Viertel überschritten hatte und sich nun allmählich zu einer immer dünner werdenden Sichel formte.
Als ich weiter gehe und auf die monumentale Statue Katharinas II. treffe, steht der Mond, allerdings nun drei Handbreit hoch, auch über der aus deutschem Hause stammenden Zarin. Auf dem Piedestal sind die „Adler der Zarin“, die bedeutendsten Vertreter ihrer Politik von Graf Pjotomkin bis zum Grafen Orloff dargestellt.


Ich umkreise das faszinierende Denkmal  und fotografiere es von jeder Seite. Es ist der erste Höhepunkt dieses Vormittags. Vom Ostrowski-Park trete ich direkt hinaus auf den Newskij-Prospekt, die berühmte Einkaufsstraße von Sankt Petersburg, die die östlichste der drei nach Süden weisenden Achsen bildet. Diese Straße gehe ich nach Südosten und bewundere den Anitschkof-Palast, das älteste erhaltene Gebäude am Newskij-Prospekt, den Zarin Elisabeth I. für ihren Favoriten, Graf Rasumowski erbauen ließ. Später schenkte Katharina II. den umgebauten Palast mehrmals ihrem Liebhaber Graf Pjotomkin, der durch seinen ausschweifenden Lebenswandel immer wieder in Geldnöte kam und das Geschenk verkaufte. Katharina hat es zurückgekauft und ihm abermals geschenkt.
Gleich nach dem gigantischen Palast führt die Anitschkof Brücke mit den vier bronzenen Rossebändigern über die Fontanka und ich gelange schließlich rechts in den Wladimirski-Prospekt und komme an der Wladimir-Kirche vorbei in das sogenannte „Kutscherviertel“, in dem der berühmte russische Schriftsteller Fjodor Dostojewskij viele Jahre lebte und 1881 auch gestorben ist.

Sosnovy Bor, der 18. August 2017 (Freitag, 17.13/18.13 Uhr)
Seit gestern Abend sind wir wieder zu Hause bei Lenas Eltern in Sosnovy Bor. Ich habe mich ausgeruht. Lena hat die neue Geschirrspülmaschine in Betrieb genommen, die sie ihren Eltern gekauft hat und die ein Handwerker am Montagabend angeschlossen hat, als wir nach Sankt Petersburg aufbrachen.
Eben schaut sie mit ihren Eltern den Band über die Eremitage an, den ich gestern gekauft habe. Ich habe mich in den vergangenen 90 Minuten in die Geschichte der Romanov-Zaren von Peter dem Großen bis Katharina der Großen vertieft. Allerdings ist die deutsche Übersetzung des Bandes, den ich am Dienstag in einem Souvenirladen auf der Hasen-Insel gekauft hatte, schlecht und überhaupt kann ich mich auf den sehr populär aufgemachten Inhalt nicht richtig verlassen, weswegen ich noch vieles vertiefen will.[3] Es ist nur ein erstes Antasten an die russische Geschichte von der Gründung Sankt Petersburgs an bis heute.
Sosnovy Bor, der 19. August 2017 (Samstag, 7.14/8.14 Uhr)
An der Wladimir-Kathedrale bog ich am Mittwochvormittag in die Kusnetschnyij-Straße ein und entdeckte die berühmte Markthalle, in der „Händler aus dem Kaukasus, aus Usbekistan und Tadschikistan, aus Aserbeidschan und aus Armenien“ allerlei Köstlichkeiten anbieten: „Kräuter und Gewürze, Trockenfrüchte, Honig aus dem Altai-Gebirge, Nüsse, Rauchfleisch aus Armenien oder geräucherte Pflaumen aus Georgien“ (Polyglott-Führer, S 89).
Da es noch früh am Vormittag ist, sind nur wenig Kunden unterwegs. Die Fischfrau richtet gerade die eisgefüllte Fischtheke mit ganzen Lachsen. Am Honigstand soll ich Kostproben nehmen, aber ich verstehe zunächst gar nicht, dass die farbigen Massen, die dort cremig in rechteckigen Schalen liegen, verschiedene Honigsorten sind und sage „danke“ auf Deutsch. Die Markthalle, die auf dem Eingangsgiebel eine Art steinerne Uhr mit den zwölf Tierkreiszeichen zeigt, stammt offensichtlich aus der sowjetischen Zeit, wenn man von der monumentalen Architektur ausgeht. Davor sitzen ältere Frauen mit Kopftuch, die Blumen, einen Bund Frühlingszwiebeln oder verschiedene Beeren anbieten, die sie aus den Gärten ihrer Datschen hierher gebracht haben, um sich zu ihrer geringen staatlichen Rente (ca. 200.- Euro) noch etwas dazu zu verdienen. Dabei muss ich an Lenas Oma Vera denken.
Ich gehe etwas weiter und komme schließlich zu dem Haus, in dem Fjodor Dostojewski einige Jahre lebte und in dem heute ein Museum eingerichtet ist. Leider habe ich noch nicht viel von dem russischen Dichter gelesen, aber ich werde es gewiss nachholen, nachdem ich nun sein Haus, sein Viertel und den Heumarkt mit eigenen Augen gesehen habe, Straßen und Orte, die in seinen Romanen vorkommen. Immerhin habe ich mir bereits vor ein paar Jahren die Gesamtausgabe aus dem Piper-Verlag gekauft.
Ich hatte Lena versprochen, um 10.00 Uhr zurück im Hotel zu sein. So gehe ich jetzt auf dem Sagorodnyi-Prospekt bis zu der T-Kreuzung, an der die zentrale Gorochowaja endet. Nun laufe ich bis zum Malteser Tor und komme fünf nach zehn in unserem kleinen Hotel an, das in einem rötlichen Rokoko-Palast am südlichen Ufer der Fontanka liegt.
Lena hat mit der Dame von der Rezeption gesprochen und erfahren, dass dieser Palast einmal der Frau des Fürsten Felix Jussopow (1887 – 1967) und Nichte von Zar Nikolaus II., der für ihre außergewöhnliche Schönheit bekannten Irina Alexandrowna Romanowa (1885 – 1970), gehört habe. Die Familie besaß mehrere Paläste in Sankt Petersburg und Moskau, Landbesitz und Minen und gehörte zu den reichsten Familien Russlands vor der Revolution. Nach der Revolution lebten sie bis zu ihrem Tode im Exil in Paris und finanzierten ihren luxuriösen Lebensstil mit den Diamanten, die sie aus Russland mitgebracht hatten.[4]
Ich weiß nicht, wieso mich diese Schicksale so anziehen. Auch Lena ist von der Tatsache berührt, dass wir ausgerechnet im Palast von Jussupows Frau unser erstes Sankt Petersburger Quartier genommen hatten.
Bei meinen Recherchen erfahre ich auch etwas über Boris Vladimirowitsch Stürmer, einen entfernten Verwandten, der seit dem 2. Februar 1916 der sechste Premierminister des Zaren Nikolaus II. war. Er war gut bekannt mit Grigory Rasputin, der unter der Protektion der Zarina stand, und vermutlich auch mit Fürst Jussopow, der sich zunächst auch als Freund von Rasputin zeigte. Aber dieser hatte offenbar auch eine dunkle Seite. Neben seinen homoerotischen Neigungen gilt Fürst Jussopow bis heute als „Drahtzieher“ für die Ermordung des Wanderpredigers.
Stürmer wurde nach der Februar-Revolution 1917 von der Provisorischen Regierung verhaftet und starb am 9. September 1917 im Alter von 69 Jahren[5] an Unterernährung im Krankenhaus auf der Peter-Paul-Festung.
Auch über diesen Mann möchte ich noch gründliche Nachforschungen anstellen. Als ich am Dienstag in der Ausstellung über die Russische Revolution in der Kschessinskaja-Villa einen älteren Museumswärter (auf Englisch) nach Boris Stürmer fragte, konnte er mir keinen Hinweis geben.
Im Internet finde ich die Memoiren des französischen Botschafters Maurice Paleologue (1859 – 1944) aus dem Jahre 1922, die aus französischer Sicht – der französische Botschafter war ein Vertrauter (und ehemaliger Klassenkamerad im Pariser Elite-Gymnasium „Louis Le Grand“) von Staatspräsident Raymond Poincare und deswegen streng antideutsch eingestellt – auch von Boris Stürmer berichten. Zu Hause werde ich der Sache weiter nachgehen.
Es ist einfach atemberaubend, welche Einblicke mir unser dreitägiger Aufenthalt in der russischen Metropole in die ältere und neuere europäische Geschichte gewährt und welche Bezüge plötzlich entstehen!
Nachdem ich in unserem Hotel gefrühstückt habe, brechen wir gegen 11.00 Uhr zu unserer nächsten Tour auf. Zuerst führe ich Lena die Gorochovaja zurück, auf der ich gekommen bin. Das Ende der zentralen Achse wird durch ein modernes Gebäude markiert, das eines der vielen Theater von Sankt Petersburg beherbergt. Es ist das bereits 1922 eröffnete Kindertheater Bryantsev.
Davor sitzt die Bronzestatue eines Schriftstellers, der auch Lena bisher nicht bekannt war. Es handelt sich um den russischen Diplomaten und Dramatiker Alexander Sergejewitsch Gribojedow (1795 – 1829), dessen Komödie „Wehe dem Verstand“ (Gore ut Uma, 1823), eine beißende Satire auf die russische Aristokratie, die gleich nach ihrem Erscheinen verboten wurde, heute das meistaufgeführte Theaterspiel Russlands ist. Der Schriftsteller kam zusammen mit 43 anderen russischen Botschaftsangehörigen bei der Stürmung der Russischen Botschaft in Teheran ums Leben und wurde auf seinen Wunsch hin in Tiflis begraben. Laut Wikipedia pilgerten viele spätere russische Schriftsteller an sein Grab. Michael Bulgakow (1891 – 1940) hat später die Hauptschauplätze seines satirischen Romans  „Der Meister und Margarita“ (1928 – 1940) nach Gribojedow benannt. Auch dieser Roman, offenbar einer der wichtigsten Romane der Sowjetzeit, der nur in Abschriften im Untergrund (Samisdat) weitergereicht wurde, bis er im Jahre 1966 in einer gekürzten Version zum ersten Mal gedruckt wurde, steht schon lange in meiner Bibliothek und wartet darauf, gelesen zu werden.
Nun gehen wir auf dem Sagorodny Prospekt nach Osten auf den Turm der Wladimir-Kirche mit seiner goldenen Kuppel zu und statten der Markthalle, die ich Lena zeigen will, einen Besuch ab. Dabei entdecken wir einen Stand, in dem es echte handgemalte Matruschkas gibt. Ich kaufe bei dem netten Händler, der mir seine Facebook-Adresse gibt, zwei von Michael Bjakun handbemalte Mini-Matruschkas für zusammen 3600 Rubel (etwa 52.- Euro), eine tiefblaue und eine bordeaux-rote. Wir probieren auch verschiedene Honigsorten und sprechen mit einer armenischen ändlerinHändlerin. Die Fischtheke ist inzwischen komplett aufgefüllt.
Ich zeige Lena dann auch das Haus, in dem Dostojewski „Die Brüder Karamasow“ geschrieben und am 9. Februar 1881 gestorben ist.
Nachdem ich mir nun auf Wikipedia einen ersten Überblick über das Leben des Dichters verschafft habe, ist er mir etwas vertrauter. Besonders berührt mich, dass er mit dem russischen Philosophen Wladimir Solowjow (1853 – 1900), von dem Rudolf Steiner so oft spricht und dessen „Kurze Erzählung vom Antichristen“ ich mehrmals gelesen habe, befreundet war. Solowjow hat auch die Trauerrede bei seiner Beerdigung im Alexander Newsky-Kloster gehalten. Auf dem Friedhof des Klosters, das wir leider nicht mehr besucht haben, ist der Dichter auch begraben. Auf seinem Grabstein steht das Wort aus dem Johannes-Evangelium: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht“ (Joh. 12, 24).
An der Ecke Kusnetschniyj-Straße-Wladimir-Prospekt steht die Wladimir-Kirche, in die „der eifrige Kirchgänger“ Dostojewski oft zum Beten ging, wie es in meinem Polyglott-Führer heißt. In dieser Kirche wurde auch eine Totenmesse für ihn verlesen. Die Kirche ist geöffnet und ich beschließe, sie – zu Ehren Dostojewskis – zu besuchen.
Lena, die ihren kurzen Jeansrock an und kein Kopftuch dabei hat, wartet draußen.
In der Kirche singt ein Pope an einem Seitenaltar. Schöne, meist junge Frauen mit Schleier bewegen sich von Ikone zu Ikone und küssen die dargestellten Heiligen.
Ich stelle mich vor die Vierung des auf einem griechischen Kreuz aufgebauten Gotteshauses und bewundere die Ikonoklaste mit der verschlossenen Tür, die der Priester während des Gottesdienstes mehrmals öffnet und durchschreitet.
Viele große Heiligendarstellungen zieren die Wand, darunter auch eine Ikone des am 17. Juli 1918 ermordeten und am 20. August 2000 von der orthodoxen Kirche heiliggesprochenen Zaren Nikolaus II. (1868 - 1918) und seiner Frau Alexandra Fjodorowna, einer deutschen Prinzessin aus dem Hause Hessen-Darmstadt[6].
In den Zwickeln der Vierungskuppel entdecke ich die vier Evangelisten mit ihren Symbolen. Der Evangelist Johannes mit dem Adler ist im südöstlichen Zwickel – entgegen der westlichen Tradition – bärtig dargestellt.
Als ich ein Foto machen möchte, stürmt ein junger Wächter auf mich zu und winkt energisch ab. Ich dachte schon, er wolle mir meine Kamera abnehmen.
Ich merke, die orthodoxen Christen nehmen ihren Glauben noch sehr ernst. Die Kirchen sind nicht, wie im Westen, zu Museen eines toten Glaubens, dem nur noch ein paar „alte Weiber“ anhängen, geworden, sondern Orte eines praktizierten und hoffentlich lebendigen Christentums. Aber vielleicht ist das bei vielen auch nur äußere Tradition und die Rituale erstarrt. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall erlebe ich persönlich in dieser orthodoxen Kirche etwas von dem christlichen Geist, der hier noch weht.
17.30/18.30 Uhr:
Nach dem Besuch der Wladimir-Kirche gehen wir weiter auf dem Wladimirski Prospekt. Wir kommen an dem „Sankt Petersburg Lensowjet-Theater“[7] vorbei, in dem für den 23. September Anton Tschechows „Drei Schwestern“ angekündigt werden. Das Stück wurde am 31. Januar 1901 in Moskau unter der Regie von Konstantin Stanislawski uraufgeführt. Die Rolle der Mascha spielte damals Olga Knipper (1868 – 1958), Tschechows spätere Frau. Meine Klassenkameradin Charlotte hat mir den Briefwechsel des Liebespaares[8] ausgeliehen und ich habe vor zwei Jahren, als wir Jaki und sie in Seefeld besuchten, darin gelesen.
Es handelt sich bei dem Theater, in dem auch ein „Brecht-Cabaret“ aufgeführt wird, um ein Überbleibsel aus der Sowjetunion, das nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums von der Stadt Sankt Petersburg unterstützt und vor dem Verkauf an skrupellose Grundstücksmakler bewahrt wurde.
Damit habe ich an diesem Tag schon das dritte Sankt Petersburger Theater gesehen.
Auf der anderen Straßenseite entdeckt Lena zwei ausgesprochene Luxus-Geschäfte. Zum einen das „Imperatorski“, in dem wir das wunderschöne Tee-Service wieder entdecken, das ich bei Mariage- Freres in Paris bereits bewundert hatte. Eine Teetasse mit Untertasse im kobaltblauen Flechtbandmuster der Zaren kostet hier umgerechnet ungefähr 35.- Euro. Es ist für uns unerschwinglich, auch wenn unsre beiden Herzen bei seinem Anblick höher schlagen. Ganz anders geht es mir, als wir an einem Kaviar-Geschäft vorbeikommen, in das wir ebenfalls eintreten und die teuren Beluga-Kaviar-Döschen für 300.- Euro anschauen. Interessant ist für mich das Aquarium, in dem junge Störe schwimmen.


Unser Weg führt uns auf den Newski-Prospekt, den wir bis zur Anitschkov-Brücke hinauflaufen, um dann am südlichen Fontanka-Ufer zum Scheremetjew-Palais zu gelangen.
Der Feldmarschall Boris Schermetjew gehörte wie der erste Gouverneur von Sankt Petersburg, Alexander Menschikow, dessen prunkvoller Palast auf der Wassiljewsky-Insel steht, zu den engsten Freunden Peters des Großen.
"Berühmt wurde dieser barocke Prachtbau aber erst Jahrhunderte später, als ihn Anna Achmatowa als ‚Fontänenhaus‘ in der Literatur verewigte. Die bekannte russische Dichterin lebte mit ihrem zweiten Mann, dem Kunsthistoriker Nikolai Punin, 1918 – 1950 in einem Seitenflügel des Palais“ (Polyglott-Führer, S 92). 
Anna Achmatowa (1889 – 1966) war eine an Alexander Puschkin geschulte und von Modigliani gezeichnete Persönlichkeit der russischen Literatur des „Silbernen Zeitalters“. Sie gehörte mit ihrem ersten Mann Nikolai Gumilow und Ossip Mandelstam zur Literaturbewegung der Akmeisten, die eine Gegenströmung zu den russischen Symbolisten bildeten. Dennoch hatte sie zu dem Symbolisten und Sophiologen Alexander Block (1880 – 1921), der neben seinem Freund Andrej Bely (1880 – 1934)[9] der Hauptvertreter dieser Strömung war, eine enge, vielleicht sogar intime Beziehung.
Das wichtigste Werk Anna Achmatowas ist ihr „Poem ohne Held“, ein Versepos, an dem sie über 20 Jahre lang gearbeitet hat, bis es 1967 in New York und erst 1974 vollständig in der Sowjetunion veröffentlicht werden konnte. Es orientiert sich formal stark an Puschkins Versepos „Eugen Onegin“ und „beschwört in Form eines Karnevalszuges, in dem maskierte Gestalten mitlaufen, eine ganze Generation verschwundener Freunde und Gestalten aus dem Petersburg“ (Wikipedia), die vor ihr im „Fontänenhaus“ erscheinen. Die Schriftstellerin hatte während der Stalin-Ära persönlich zu leiden. Ihr Mann Nikolai Punin wurde verhaftet und starb 1953 im Arbeitslager Workuta. Auch ihr Sohn kam ins Arbeitsalger und wurde erst 1956, drei Jahre nach Stalins Tod entlassen.
Vor dem Palast sind auf einem Rasenstück acht schwarze Stühle aufgestellt. Wenn man sich auf einen dieser Stühle setzt, erklingt ein Stück von Mozarts „Allegro“, und zwar jeweils mit einem anderen Instrument dargeboten. In dem Palast kann man neben dem Anna-Achmatova-Literatur-Museum auch eine Instrumentensammlung besuchen.
Wir gehen weiter. Unser nächstes Ziel ist die Michaelsburg, eine Art Wasserburg, die Zar Paul I. erbauen ließ, weil er sich vor Mordanschlägen fürchtete. Tatsächlich wurde er in dieser Burg am 24. März 1801 im Bett erwürgt. Auch der Erzengel Michael, dem er die Burg weihte, konnte ihn nicht schützen. 
Paul I. war als Sohn Katharinas II. und Peters III. ein eher unbeliebter Zar, der aus Hass gegen seine Mutter, die ihn bei jeder Gelegenheit gedemütigt hatte, versuchte, deren Reformen rückgängig zu machen. Ein Jahr vor seinem Tod ließ der einzige nichtkatholische Großmeister des Malteserordens[10], der eigentlich aus dem Hause Holstein-Gottorf stammte, vor der Michaelsburg ein Standbild Peters des Großen, das der italienische Bildhauer und Baumeister Rastrelli geschaffen hatte, aufstellen, für das er die lakonische Widmung wählte:  „Dem Urgroßvater vom Urenkel“.


Das Schloss ist von Wasser umgeben und liegt zwischen dem Fontanka- und dem Moika-Kanal.
1823 wurde in dem Schloss, das viele Jahre leer stand, eine Ingenieursschule eingerichtet, auf die unter anderen seit 1837 auch der junge Dostojewski ging. Hier wurde er zum „Militäringenieur“ ausgebildet und erreichte den Rang eines Leutnants.
Nun ist es schon nach 14.00 Uhr und wir sind hungrig.
Ich entdecke in meinem Polyglott-Führer die Adresse eines nahegelegenen vegetarischen Restaurants in der Pestelja Uliza, genau gegenüber der Barock-Kirche des Heiligen Pantelejmon. Das Restaurant heißt „Botanika“ und wir essen ein sehr gutes, mehrteiliges Menü für einen relativ niedrigen Preis. Neben dem Restaurant liegt das Haus Nr. 5, in dem Alexander Puschkin seine berühmte Novelle „Der eherne Reiter“ geschrieben hat.
Unser nächstes Ziel ist der wunderbare Sommergarten Peters des Großen.
Der älteste Park der Stadt Sankt Petersburg wurde bis 2012 aufwendig restauriert.  Wir kommen auch am kleinen Sommerpalast Peters vorbei. Die Hauptallee ist gesäumt von allegorischen Marmor-Statuen.
Mein Polyglott-Führer erläutert: „Der Reformzar Peter der Große, der seine Untertanen bis in die persönlichsten Angelegenheiten hinein bevormundete, der die traditionelle russische Kleidung verbot, über das Tragen von Bärten bestimmte, die Höhe von Kaminen entschied und sogar das Holz von Särgen vorschrieb, verfolgte mit dem Sommergarten ein ausgeklügeltes pädagogisches Konzept. All die unzähligen Faune, Götter, Nymphen und Jünglinge, die Peter bei venezianischen Meistern bestellte, sollten seine Untertanen auf spielerische Weise mit westeuropäischem Kulturgut und der antiken Götterwelt vertraut machen. Denn der Zar hatte mehr als nur eine wirtschaftliche Öffnung nach Westen im Auge“ (S. 95).
Der Höhepunkt des Tages ist aber das Russische Museum im von Carlo Rossi 1819 – 1825 für den Großfürsten Michail Pawlowitsch, einem Bruder von Zar Alexander I., dem Sohn und Nachfolger von Zar Paul I. und seiner aus dem Haus Württemberg stammenden Frau, im rein klassizistischen Stil erbauten Michaelspalais.
Das Museum stand eigentlich gar nicht auf unserem Programm. Wir entschieden uns jedoch spontan, obwohl wir nur noch knapp 90 Minuten bis 18.00 Uhr hatten, dem Zeitpunkt, an dem das Museum pünktlich schließen würde.
Besonders begeistert war ich von den großformatigen alten Ikonen, die wir in drei Sälen bewundern konnten, dann aber auch von den russischen Realisten, die mir bisher dem Namen nach völlig unbekannt waren, die Lena jedoch aus der Schulzeit, als sie ihre Bilder beschreiben musste, sehr gut kannte und bis heute liebt.
Bei den Ikonen fallen mir besonders zwei immer wiederkehrende Themen auf: einmal die „Auferweckung des Lazarus“, zum anderen der „Hinabstieg Christi in den Limbus“ (auch „Höllenfahrt Christi“ genannt). Das Thema Lazarus hat die orthodoxe Kirche offenbar mehr beschäftigt als die katholische.
Als wir den Saal mit den Ikonen betreten, sehen wir rechts und links der Tür zwei Johannes-Darstellungen: einmal den Täufer (rechts) und zum anderen Lazarus-Johannes (links). Bei den Lazarus-Darstellungen liegen immer die beiden Schwestern Maria Magdalena und Martha Christus zu Füßen. Dabei dreht sich Martha immer zurück zu ihrem Bruder Lazarus, der in den weißen Binden aus der Gruft heraustritt, während Maria Magdalena sich ganz auf den Herrn vor ihr konzentriert.
Auch die berühmte Nowgoroder Sankt Georgs-Ikone und die berühmte Nowgoroder Engel-Gabriel-Ikone bewundern wir. Unter anderen entdecke ich auch zwei Ikonen des berühmten russischen Ikonenmalers Andrej Rubljew: Der Heilige Petrus und der Heilige Paulus aus Moskau (um 1408).
Ich merke dabei, wie stark Lena auf diese heiligen Bildnisse reagiert, wie wenig sie aber von ihrem Inhalt kennt: die Themen „Opferung Isaaks“, „der Kampf Jakobs mit dem Engel“ oder „Jakobs Traum“ sind ihr völlig unbekannt. Alle religiösen Themen waren in ihrer Schulzeit von den Kommunisten konsequent aus dem Unterricht verbannt worden.
Ich bin absolut begeistert von den monumentalen Werken der russischen Meister Karl Pavlowitsch Brüllow (1799 – 1852) und Iwan Konstantinowitsch Aiwasowskij (1817 – 1900), die mir Lena nun vorstellt.
Brüllows Bild „Die letzten Tage von Pompej“ aus dem Jahre 1833 ziert das Titelbild meiner Ausgabe des Romans von Bulwer-Lytton. Ich bin völlig erstaunt, als ich es im Original in seinen monumentalen Ausmaßen sehe.
Noch mehr begeistern mich jedoch die Wasserbilder Aiwasowskij, „Die neunte Woge“ (1850) und „Die Woge“ (1889). Sie wären sicherlich die absoluten Höhepunkte in der gegenwärtigen Wind-Wasser-Wolken-Ausstellung in der Würth-Kunsthalle in Schwäbisch Hall gewesen.
Auf dem Rückweg sehen wir die im altrussischen Stil erbaute bunte „Auferstehungskirche“.
„Anlass für den Bau einer altrussischen Kirche in der ansonsten klassizistisch geprägten Stadt war der Mord an Alexander II. am 1. März[11] 1881. Die Stelle, an der ihn die Bombe der revolutionären ‚Narodnia Wolja‘ (Wille des Volkes) traf, liegt im Innern der Kirche. (…) aufgrund ihrer blutigen Vorgeschichte wird das Gotteshaus im Volksmund ‚Erlöserkirche auf dem Blut‘ genannt“ (Polyglott-Führer, S 104).
Das Reiter-Standbild dieses Zaren aus dem Hause Romanow-Holstein-Gottorp, der ein großer Reformator Russlands war, haben wir bereits in Helsinki auf dem Domplatz bewundert.
Mir gefällt die in den Jahren 1883 – 1907 erbaute Auferstehungskirche mit ihren fünf Turmkrönungen, um die herum zahlreiche Souvenirstände ihre bunten Russland-Souvenirs anbieten, auf den ersten Blick nicht so sehr. Sie lässt mich eher an ein russisches "Disney-Land“ denken. Die Kirche ist zum Teil eingerüstet und wird zur Zeit restauriert. Scharen von meist asiatischen Touristen umkreisen sie.
Entlang des Gribojedowa-Kanals kehren wir, am Jugendstil-Cafe „Singer“ und der gegenüberliegenden Kasaner Kathedrale vorbei – beide am Newski-Prospekt gelegen – allmählich zurück auf die Gorochowaja, wo wir bereits am Vortag zwei Bio-Läden entdeckt hatten. Dort besorgen wir Dinkel-Brot, Kekse und Joghurt und gelangen gegen 20.00 Uhr schließlich zurück zu unserem Hotel.

Sosnovy Bor, der 20. August 2017 (Sonntag, 3.05/4.05 Uhr)
Ich liege seit einer Stunde wach und kann nicht mehr schlafen. Der gestrige Tag war innerlich sehr bewegend für mich. Ich habe mich fast den ganzen Tag – nur unterbrochen durch einen Einkaufsbummel mit Lenas Vater und durch das Mittagessenkochen (Ratatouille mit Barilla-Spaghetti) – mit russischer Literatur und Geschichte beschäftigt. Zum Mittagessen, das wir ungefähr um 16.00 Uhr im Wohnzimmer einnahmen, reichte uns Lenas Vater geschälte Apfelschnitze. Ich erfuhr, dass an diesem Tag die orthodoxe Kirche einen Heiligen feiert und dass man deswegen vor dem Essen einen Apfel essen soll.
Nach dem alten russischen Kalender wurde an diesem Tag das Fest der Verklärung Christi gefeiert, genau 13 Tage nach der Feier im Westen, die am 6. August ist. Ich erfuhr aber zudem von einem Sergeji Tichomirov, der am 19. August seinen Festtag hat. Er war – nach meinen Recherchen – Metropolit. Aber klug bin ich daraus bisher nicht geworden und niemand konnte mir erklären, warum wir gestern vor dem Essen Apfelschnitze gegessen haben.
Was mir wichtiger erscheint, ist, dass genau heute vor 17 Jahren Zar Nikolaus II. und seine Familie von der russisch-orthodoxen Kirche heiliggesprochen wurden. Dieser Zar ist mir irgendwie vertraut, seitdem ich den Bericht Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke über seinen Besuch in Sankt Petersburg gelesen habe. Lena sagt, er sei ein schwacher Zar, aber ein guter Mensch gewesen. Ich habe das Gefühl, die Russen verehren ihn heute, und empfinden Abscheu über das grauenhafte Verbrechen vom 17. Juli 1918 in Jekatarinenburg.

(Bemerkung: Die Fortsetzung dieses Tagebuchberichtes befindet sich auf meinem Weblog "Kommentare zum Zeitgeschehen" unter dem Titel "Erfahrungen an einem Sonntag in Russland". Dort findet man auch eine weitere Fortsetzung meines Berichtes.)


[1] Die Fratzen der gotischen Wasserspeier dienten nach Auffassung des Mittelalters dazu, die Windgeister, die sich in ihnen wie gespiegelt sahen, abzuschrecken. Bei den russisch-orthodoxen Kirchen scheint es so zu sein, dass die Engel an den Außenwänden die Engel im Kosmos begrüßen möchten.
[2] Diesen Terror beschreibt der russische Literaturnobelpreisträger Ivan Bunin in seinem 1936 vollständig in Berlin, aber erst 1988 in Moskau publizierten „Cursed Days“ (Verfluchte Tage). https://en.wikipedia.org/wiki/Cursed_Days
[3] „Russlands Zaren – Die Rurikiden, die Romanows“ von Boris Antonow (Übersetzerin: Susanne Brammerloh), Kunstverlag „P-2“, Sankt Petersburg, 2011
[4] In diesem Zusammenhang fällt mir Ernst Lubitschs Komödie „Ninotschka“ ein, in der auch eine reiche russische Fürstin auftritt, die im Pariser Exil lebt und von der die streng linientreue Sowjet-Emissärin Ninotschka (Greta Garbo) die Zaren-Juwelen zurückfordert.
[5] Interessanterweise starb auch mein Vater mit 69 Jahren, und zwar genau gestern (18. August) vor 30 Jahren (1987).
[6] Alix von Darmstadt Hessen wurde am 6. Juni 1872 im „Neuen Palais“ in Darmstadt geboren. Eigentlich sollte sie „Alice“ heißen, aber ihre Mutter, die auf diesen Namen hörte, meinte, diesen Namen würde man „umbringen“, weil man ihn ständig – mit einem langen „i“ – aussprechen würde.
[7] !929 am gleichen Platz als „Junges Theater“ gegründet.
[8] „Mein ferner, lieber Mensch - Liebesbriefe“, herausgegeben von Jean Benedetti, S. Fischer-Verlag, Frankfurt/Main 1998
[9] Vladimir Nabokov hielt Andrej Belys Roman „Petersburg“, wie ich eben auf Wikipedia lese, für einen der größten Romane des 20. Jahrhunderts.
[10] Die Malteserritter setzten 1798 aus Dankbarkeit für ihre Zuflucht in den Schutz Russlands vor Napoleon, der ihren Stützpunkt und Ordenssitz Malta eingenommen hatte, ihren regierenden Großmeister Ferdinand von Hompesch (1744 – 1805) ab und erklärten Paul I. zum neuen Großmeister (Wikipedia).
[11] Am 1. März 1918 wurde mein Vater geboren.