Ich verließ am Freitag, den 08.
Dezember gegen 15.00 Uhr das Haus mit zwei schweren Taschen voller Bücher: Ich
hatte natürlich die Studie von Dr. Mechthild Clauss dabei, die im Jahre 2015
unter dem Titel „Wo ist Bethlehem?“ erschienen war. Auch meine Führung hatte
ich unter diesen Titel gestellt.
Dann hatte ich natürlich meine
Bibel dabei, denn die spätgotische Marienretabel in der Urbanskirche, die eigentlich
eine Marienkirche ist, zeigt vor allem Szenen aus dem Lukas-Evangelium:
Verkündigung, Heimsuchung, Beschneidung, Geburt mit den Hirten und Darstellung
im Tempel. Dabei kommt die Verkündigung in der kleinen Kirche gleich zweimal
vor: einmal als Fresko an der Nordwand und einmal als gemalter Flügel in der
Altarretabel.
Ich habe aber auch die
„Apokryphen“ mit dem Proto-Evangelium des Jakobus dabei, in dem Geburt und Tod
der Maria erzählt werden. Das betrifft die erste und die letzte Tafel der
Sonntagsseite der Retabel. Diese Geschichten sind nicht in den kanonischen
Evangelien zu finden.
Und ich habe die „Legenda Aurea“
(Goldene Legende) dabei, in der die „Beschneidung“ (Concisio) ausführlich
behandelt wird. Diese fand ja acht Tage nach der Geburt statt und zwar am Neujahrstag.
Offenbar wurde der erste Januar, an dem der Knabe auch seinen Namen „Jesus“
erhielt, aus diesem Grunde an den Anfang des bürgerlichen Jahres gestellt. Das
christliche oder Kirchenjahr beginnt ja mit dem 1. Dezember und endet mit dem
30. November, dem Tag des Apostels Andreas.
Die Beschneidung Jesu wurde in
der mittelalterlichen Kunst eher selten dargestellt. Dass sie in Sankt Urban so
zentral im Mittelschrein, symmetrisch zur Anbetung der Könige auf der rechten
Seite links von der zentralen Geburtsdarstellung, gezeigt wird, hat einen
möglichen Grund darin, dass der Meister Kontakt zu einer niederländischen
Werkstatt hatte: Entweder er kam selbst aus den Niederlanden, wie manche
Kunsthistoriker vermuten, oder er war Haller und ist dort bei einem Meister in
die Schule gegangen.
Vom gemalten und geschnitzten
Hauptaltar der Haller Stadtkirche Sankt Michael, der die Passion Christi zum
Thema hat, ist bekannt, dass er von einem Meister aus Antwerpen geschaffen
wurde.
Nun ist zu beachten, dass die
Liebfrauenkirche in dieser belgischen Stadt, die im 15. Jahrhundert zum
Heiligen Römischen Reich gehörte, eine besondere Christusreliquie besaß: die
bei der Beschneidung „weggefallene“ Vorhaut des Jesusknaben. Jedenfalls geht so
die Legende.
Diese Reliquie hatte im
Mittelalter als einzige unmittelbare Christus-Reliquie eine ganz besondere Bedeutung und einen großen Wert für die
Gläubigen, die in ihre Nähe kamen. Da Christus mit seinem „Auferstehungsleib“
in den Himmel aufgefahren ist, kann es von ihm ansonsten keine Reliquien geben,
ebenso wenig wie von Maria. Nur seinen „Heiligen Rock“ kann man zum Beispiel im
Trierer Dom sehen, so wie die Tunika der Maria in der Notre Dame de Chartres –
beides ganz besonders hervorragende „Heilsbringer“, an deren Wirkmacht die
Menschen damals glaubten.
Die „Goldene Legende“ führt in
ihrem Kapitel „Von der Beschneidung des Herrn“ aus, dass damals Jesus von
Nazareth zum ersten Mal sein kostbares Blut „geopfert“ habe. Es heißt dort:
„Zu fünf Malen vergoss er sein
Blut für uns; das erste an dem heutigen Tage seiner Beschneidung, das war ein
Anfang unserer Erlösung; das andre in seinem Gebet, da er den blutigen Schweiß
vergoss[1],
in dem zeigte er ein Verlangen unsrer Erlösung; das dritte vergoss er, da man
ihn geißelte, das war ein Verdienen unserer Erlösung, denn wir wurden durch
seine Wunden geheilt; das vierte vergoss er am Kreuz, und das war der Preis
unserer Erlösung, denn da büßte er, was er nicht verbrochen hatte; das fünfte
vergoss er, da seine Seite mit dem Speer ward aufgeschlossen, das war das
Sakrament unserer Erlösung; denn es floss Blut und Wasser heraus, zu einem
Zeichen, dass wir durch das Wasser der heiligen Taufe sollten gereinigt werden
von unseren Sünden; ihre Kraft aber sollte die Taufe von dem Blute Christi
empfangen.“[2]
Ganz in der Nähe von Antwerpen
liegen die Städte Gent und Brügge, zwei weitere wichtige Zentren
mittelalterlicher Kunst und Reliquienverehrung. In Brügge wird bis heute eine
Heilig-Blut-Reliquie aufbewahrt und bei alljährlichen
Fronleichnams-Prozessionen mitgeführt.
Das mit Wasser vermischte Blut,
das am Karfreitag durch den Lanzenstich des „Kriegsknechtes“[3]
(Joh. 19, 34) aus der Seite Christi floss, gilt in der Gralstradition als
wichtigste, lebenspendende Heilssubstanz. Dieses Blut fing Joseph von
Arimathia, der in den Gralslegenden als Stammvater des Gralsgeschlechts gilt,
in der silbernen Schale auf, die auch am Gründonnerstag als Abendmahlsschale
gedient hatte.
Schale und Speer bzw. Lanze
gehören damit als wichtigste „Requisiten“ fest ins Zentrum der zahlreichen
Gralslegenden, wie es zum Beispiel Wolfram von Eschenbach im fünften Buch
seines Versromans erzählt.
Die Geburt Mariens, die auf der
ersten Tafel dargestellt wird, feiert die katholische Kirche am 8. September.
Dieses Ereignis wird in der „Legenda Aurea“ unter dem Titel „Von der Geburt der
seligen Jungfrau Maria“ geschildert.
Andererseits wird die
„unbefleckte Empfängnis“ oder die „Conceptio Immaculata“, die die Kirche an
diesem 8. Dezember feiert – in Italien und Österreich ist der 8. Dezember bis
heute Feiertag, in Bayern war er es bis ins Jahr 1969 – weder im Evangelium des
Jakobus noch in der „Legenda Aurea“ erwähnt.
Diese „Conceptio“ bezieht sich
nicht, wie immer wieder vermutet wird, auf die Empfängnis der Maria, die am 25.
März, also exakt neun Monate vor der Geburt des Lukasknaben stattfand, sondern
auf die Empfängnis der Anna, die exakt neun Monate später, am 8. September, mit
Maria nieder kam.
Die Conceptio Immaculata findet
man in einer Darstellung Giottos in der Scrovegni-Kapelle in Padua. Auf dem
Fresko sieht man Anna in einem Raum, zu dessen rechtem Fenster der Engel
hereinschaut, während links außerhalb des Gebäudes eine Magd am Spinnrocken
sitzt.
Dieses Bild entstand vermutlich
etwa zur gleichen Zeit wie das wunderbare Fresko in der Urbanskirche, das Maria
am Spinnrocken in einem tempelähnlichen Gebäude zeigt. Die Tempeljungfrau Maria
spinnt die farbige Wolle für den Tempelvorhang, der das Allerheiligste verdeckt
und der bei der Kreuzigung „von obenan bis untenaus“ (Math. 27, 51)in zwei
Teile zerreißen wird.
Auf dem Unterlimpurger Fresko
schwebt der Erzengel Gabriel links über dem Tempelchen, während Maria, die ihre
Arbeit gerade unterbrochen hat – die Spindel liegt auf dem Boden – in die
Gegenrichtung schaut. Sie scheint den Engel nicht zu sehen, sondern nur das
„Ave Maria“ zu hören.
Es ist auf dem Fresko ein ganz
innerliches Geschehen.
Der unbekannte Meister hat aber
das, was wirklich passiert, ganz zart angedeutet: der goldene Faden, den die
Tempeljungfrau Maria spinnt, kreuzt sich genau über ihrem Schoß mit der
schwarzen Gürtelschleife, die in der Höhe ihres linken Unterschenkels im Kopf
einer Schlange endet.
Eine Taube, das Symbol des
Heiligen Geistes, ist auf dem Fresko nicht zu sehen, wohl aber auf der
Verkündigungsszene der zweiten Tafel der Altarretabel.
Solch eine Taube kann man auch am
Rundbogenfries der Außenseite des spätromanischen Chores erkennen, und zwar an
der Südseite des dreiteiligen Chorabschlusses. Der gesamte Fries und die
Lisenen werden geschmückt durch ein wunderbares Diamantband, wie wir es bei
meiner letzten Führung am 29. September bereits am spätromanischen Triforium im
Innenhof des Gasthauses zum „Goldenen Adler“ bewundern konnten, das zu einem
abgegangenen Königshof in der Nachbarschaft der ebenfalls zerstörten „Marienkirche
am Schuppach“ gehörte.
Das Diamantband ist ein spätromanisches
Schmuckelement, das auch an einem Fenster der Burgruine der Schenken von
Limpurg direkt oberhalb der Urbanskirche und an der sechseckigen
spätromanischen Kapelle auf der Großcomburg zu bewundern ist. Neulich entdeckte
ich ihn auch am romanischen Südportal der Basilika „Sankt Vitus“ in Ellwangen.
Die Taube an der Außenseite des
um 1230 entstandenen Chores fliegt nach rechts unten und trägt eine Oblate im
Schnabel.
Diese ungewöhnliche Darstellung
erinnert an die Szene aus dem neunten Buch des „Parzival“ von Wolfram von
Eschenbach, das wohl um 1200 niedergeschrieben wurde. In diesem Buch klärt der
Einsiedler Trevrizent und Bruder des Gralskönigs Amfortas den irrenden Jüngling
über die Geheimnisse des Grals auf.
Es wird erzählt, wie der Gral –
bei Wolfram ein Stein, der vom Himmel gefallen war („Lapis exillis“) – jedes Jahr am Karfreitag enthüllt wird und wie
dann jedes Mal eine Taube vom Himmel schwebt, die eine weiße Oblate herab
trägt, um sie auf dem „Stein“ abzulegen.
Dieser Zusammenhang erscheint mir
aus mehreren Gründen wichtig: erstens sehe ich in der mittelalterlichen Comburg
tatsächlich eine Art Gralsburg. Sie bleibt den Blicken der von Osten auf der
Haller Ebene von Ellwangen her Kommenden verborgen, muss jedoch den Blicken der von Westen aus dem
Kochertal Kommenden als imposante Burganlage erscheinen, weil sie auf einem
Umlaufberg des Kochers errichtet wurde, der aus dem Tal herausragt.
Zweitens war auch der Schenk
Konrad I. in jener Zeit, als Wolfram lebte und dichtete, ein bekannter
Minnesänger, der als Ministeriale am Hofe der Staufer mit Sicherheit mit der
damals allseits bekannten Gralssage vertraut war.
Es war der Großvater des
Minnesängers, Walter I., der die Liebfrauenkirche am Fuße seiner Burg um das
Jahr 1230 errichten ließ.
Ein dritter Hinweis auf die
Gralssage ist schließlich die Hochzeit des Schenken Friedrich V. mit der
hübschen Susanna von Thierstein. Friedrichs Mutter war Elisabeth von Hohenlohe.
Sie hatte die Altarretabel in der Urbanskirche gestiftet. Da sie aber um 1450
bereits verstorben war, kümmerten sich Friedrich und seine Frau aus dem
Adelsgeschlecht der Thiersteiner um die Realisierung des Bildwerkes durch einen
Meister aus der niederländischen Schule.
Die Burg Thierstein ist heute nur
noch eine Ruine und liegt etwa 15 Kilometer südlich von Dornach bei Basel im
Kanton Solothurn. Wenn man dem anthroposophischen Gralsforscher Werner Greub
(„Wolfram von Eschenbach und die Wirklichkeit des Gral“, 1973) folgt, so ist
die Gegend um Dornach Gralsgebiet. Greub
identifiziert die Eremitage bei Arlesheim, die auch der Adept Cagliostro
aufgesucht hat, mit der Klause des Trevrizent.
Walter Johannes Stein verlegt die
Gralsgeschichte nach einer Anregung von Rudolf Steiner ins neunte Jahrhundert
(„Das neunte Jahrhundert im Lichte des Heiligen Gral“, 1928). Vom neunten bis
zum dreizehnten Jahrhundert sind fast 400 Jahre vergangen, in denen viel
passiert ist. Warum kann es nicht sein, dass die Ritterschaft vom Heiligen Gral
nicht nur eine – also die Gralsburg –
sondern mehrere Dependancen hatte, die man sich als klösterliche Anlagen
vorstellen muss?
Die imposante Großcomburg könnte
eine davon sein.
Aber das möchte ich für meine
nächste Führung, die in der kommenden Osterzeit sein wird, noch näher
erforschen.
Ein Abt der Comburg war auch ein
Verwandter der Kaiserin Adelheid, deren sterbliche Überreste in der Gruft der
Stiftskirche von Öhringen, einer Residenzstadt der Grafen von Hohenlohe,
liegen.
Die Grafen von Hohenlohe, ganz
gleich, um welche Linie des weitverzweigten Geschlechtes es sich handelt, haben
den Vogel Phönix als Wappentier. Diesem Vogel begegnet man in Waldenburg, in
Öhringen, in Kocherstetten, in Langenburg und in Kirchberg an der Jagst, also
praktisch im ganzen Hohenloher Land, das nördlich an das Limpurger Land, das
sich zwischen Schwäbisch Hall, Schwäbisch Gmünd und Ellwangen ausbreitet,
angrenzt.[4]
Von diesem Vogel Phönix spricht
auch Trevrizent, um dem jungen Parzival eine Vorstellung vom Gral zu geben: Ich
zitiere hier die Stelle aus dem neunten Buch in der Übersetzung von Wilhelm
Stapel:
„Er fragte, wie es um den Gral
stünde. Der Einsiedler sagte: ‚Ich weiß wohl, dass viele Ritter zu
Munsalvaesche beim Gral wohnen. Wenn sie ausreiten, und das tun sie oft, geht
es auf Abenteuer. Wo immer diese Templeisen Niederlage oder Sieg erjagen, tun
sie das für ihre Sünden. Da wohnt also eine wehrhafte Schar. Ich will euch
sagen, wovon sie leben: sie leben von einem Steine, der von ganz reiner Art ist.
Wenn ihr ihn nicht kennt, so soll er euch hier genannt werden. Er heißt Lapsit
exillis. Durch dieses Steines Kraft verbrennt der Phönix zu Asche. Die Asche
aber macht ihn flugs wieder lebendig. Diese Erneuerung aus der Asche ist beim
Phönix dasselbe, was bei anderen Vögeln die Mauserung ist. Danach beginnt er
hell zu strahlen und wird wieder schön wie zuvor. Dieselbe Kraft wie beim Vogel
Phönix bewährt der Gral bei den Menschen. Es mag einem Menschen noch so
schlecht gehen, wenn er eines Tages den Stein sieht, so wird er in der Woche,
die auf diesen Tag folgt, nicht sterben. Auch bleibt sein Aussehen dasselbe,
das er hatte, als er den Stein erblickte, und zwar so, wie er in seiner besten
Zeit aussah – Frau wie Mann – und wenn sie den Stein zweihundert Jahre sähen;
nur das Haar wird grau. Solche Kraft gibt der Stein dem Menschen, dass Fleisch
und Bein flugs Jugend empfängt. Der Stein wird auch genannt der Gral. Gerade
heute erscheint auf dem Steine wieder eine Botschaft, und das ist seine höchste
Kraft. Es ist ja heute Karfreitag, da erwartet man auf Munsalvaesche eine
Taube, die sich vom Himmel herabschwingt. Sie bringt auf den Stein eine kleine,
weiße Oblate herab. Die lässt sie auf dem Steine. Die Taube ist durchscheinend
weiß.“
Ein letztes Argument für eine
Nähe zum Gral ist die Tatsache, dass das Amt des Mundschenken, das die Grafen
von Limpurg bei der Königs- und Kaiserkrönung auszuüben hatten, mit einer
silbernen Schale verbunden war. Diese silberne Schale kann man auch als ein
Bild für den Gral sehen, denn dieser ist bei Chrestien de Troyes die Schale des
Joseph von Arimathia, der darin, wie erzählt wird, das Blut Christi aufgefangen
hat. Die Silberne Schale zusammen mit der weißen Oblate: das ist die übliche
Imagination des Grals.
Es gibt von Ludwig Uhland, dem
schwäbischen Dichter, der im 19. Jahrhundert die Gralsgeschichten wieder
entdeckt und in seinen Tübinger Vorlesungen nacherzählt hat, eine schöne
Ballade über den „Schenk von Limpurg“, in dem eine Schale eine wichtige Rolle
spielt. Sie entstand im Jahre 1816.[5]
Weil ich bei meiner Führung auch
diesen Zusammenhang im Hinterkopf hatte, hatte ich auch den „Parzival“ von Wolfram
von Eschenbach mitgenommen. Aber ich bin bei der Führung nicht dazu gekommen,
die Beziehung der Urbanskirche zum Gral aufzuzeigen, da die Zeit und die
Aufnahmefähigkeit meiner Zuhörer begrenzt waren.
Dafür habe ich auf andere
esoterische Zusammenhänge hinweisen können.
Auf der zentralen Geburtsszene
nach Lukas sieht man hinter dem Jesuskinde, das in seinem Körbchen liegt, zwei
Knaben in Anbetung begriffen. Einer ist blau, der andere rot gekleidet.
Obwohl Mechthild Crauss meint,
dass es sich bei diesen beiden Knaben wohl um Engel handeln müsse, habe ich
eine andere Vermutung. Engel werden gerne bei der Geburt des Lukasknaben
dargestellt, so zum Beispiel auf dem Bladelin-Altar von Rogier van der Weiden.
Da stehen zwei Engel anbetend vor dem auf dem blauen Mantel der Maria liegenden
Kinde. Aber diese beiden Engel sind weiß gekleidet. Auch Maria hat ein weißes
Gewand, von dem der blaue Mantel heruntergerutscht zu sein scheint. Josef ist
in einen roten Mantel gehüllt.
Ich führe aus, dass die Farben im
Mittelalter eine große Bedeutung hatten. Rot wies in der Regel auf königliches
Geblüt hin, blau ist die Farbe des Himmels und deshalb auch der Priester;
gemischt mit Rot erscheint das Blau als Violett. Weiß und noch mehr die Farbe
Gold sind die höchsten und hellsten Farben und weisen auf das Göttliche hin.
Der Goldgrund des Mittelalters, der auch noch auf den Tafeln und in dem
geschnitzten Mittelschrein des Marienaltars der Urbanskirche erscheint, ist ein
Symbol für die Geistige Welt, die hinter der sichtbaren irdischen Welt
existiert und wirkt.
Hella Krause Zimmer hat in ihrem
Buch „Die zwei Jesusknaben in der bildenden Kunst“ (1969) viele Belege aus der
Kunstgeschichte dafür angeführt, dass die mittelalterlichen Künstler durchaus
noch von dem Geheimnis der zwei Jesusknaben wussten, das heute immer noch die
meisten Menschen irritiert.
Dabei muss man nur die Bibel
gründlich lesen, insbesondere das Matthäus- und das Lukas-Evangelium.
Schon die beiden Stammtafeln, die
die beiden Evangelisten aufgeschrieben haben, teilen sich bei König David in
eine königliche Linie, die über Salomon, und in eine priesterliche Linie, die
über Nathan zum Vater des Jesus, Josef, führt.[6]
Es müssen also zwei
unterschiedliche Väter Josef gelebt haben, denn der eine kann nicht identisch
sein mit dem anderen, weil er seit David andere Vorfahren hatte. So muss es
auch unterschiedliche Mütter mit den Namen Maria gegeben haben.
Wenn man das Lukas- und das
Matthäus-Evangelium vergleicht, so erfährt man, dass die eine Familie in
Nazareth lebt und zur Volkszählung nach Bethlehem zieht, wo das lukanische Paar
in einer „Herberge“ (Lat. diversorium = Zuflucht)[7]
Unterkunft findet. Dort bringt Maria das Kind zur Welt und dort bleibt das Paar
die 40 Tage der „Reinigung“ bis zur Darbringung im Tempel. Erst dann ziehen sie
mit ihrem Sohn zurück in ihre Heimatstadt Nazareth. Von einer Flucht nach
Ägypten ist keine Rede.
Die Geburtsszene nach Lukas steht
im Mittelpunkt des Bildwerkes und ist auch doppelt so hoch wie die anderen.
Die Familie, die Matthäus
schildert, hat immer in Bethlehem gewohnt, wo sie ein Haus (lat. „domus“)[8]
besitzt. Dort kommt der Stern zu stehen, dem die drei „Sterndeuter“ (lat.
„magi“) aus dem Morgenland gefolgt sind.
In dieses Haus und nicht in einen ärmlichen Stall treten die „Könige“ ein.
Sie beten das königliche Kind aus der Abstammung von Salomon an, während die
Hirten (und Engel) bei Lukas das priesterliche Kind aus der Abstammung von
Nathan anbeten.
Nachdem die Könige wieder
abgereist sind, fürchtet Herodes, der König der römischen Unterprovinz Judäa,
die zur Provinz Syria gehört, um seinen Thron und lässt alle Knaben ermorden,
die zwei Jahre alt und darunter sind.
Das Heilige Paar flieht nach
Ägypten und bleibt dort, bis Herodes gestorben ist, also mehrere Jahre.
Schließlich kommen sie zurück nach Bethlehem, aber Josef und Maria entschließen
sich, nach Nazareth umzuziehen.
In Nazareth vereinen sich die
beiden Familien nach dem Tod der nathanischen Mutter. Diese stirbt kurz,
nachdem ihr Sohn zwölf Jahre alt geworden ist. Der nathanische Vater, der erst
stirbt, als Jesus 24 Jahre alt ist, heiratet die salomonische Mutter. Auch der
salomonische Jesusknabe, in dem in Wirklichkeit nach den Forschungen von Rudolf
Steiner der wiedergeborene Zarathustra lebte, ist gestorben, nachdem der Geist
des Zarathustra im Tempel von Jerusalem in den zwölfjährigen Lukasknaben
eingezogen ist, worüber die Eltern, die ihren Sohn verloren hatten und ihn im
Tempel wiederfanden, sehr erschrecken, wie es im Lukas-Evangelium heißt.
Es ist der nathanische Jesus, der
in seinem 30. Lebensjahr bei der Taufe im Jordan den Heiligen Geist empfängt, welcher
in Gestalt einer Taube auf ihn herabschwebt. Ab diesem Moment lebt der Christus
im Jesus von Nazareth. Die Taufe im Jordan, Epiphanias genannt, wird ebenfalls
am 6. Januar gefeiert. Das Markus- und Johannes-Evangelium, die keine
Kindheitsgeschichte Jesu erzählen, beginnen mit diesem Ereignis.
Rudolf Steiner, der diese
Zusammenhänge erstmals erforscht und öffentlich mitgeteilt hat, weist darauf
hin, dass für die Menschwerdung Gottes solche differenzierten Vorbereitungen
leiblicher und seelischer Art notwendig waren.
Jesus, der jetzt der Christus
ist, hat also seit der Taufe keinen Vater mehr und nur noch seine Zieh- oder
Stiefmutter. Sie ist es, die bei der Hochzeit von Kana anwesend ist und
schließlich auch unter dem Kreuze steht und auf Geheiß des Gekreuzigten von dem
Jünger, den der Herr lieb hatte, als Mutter angenommen wird. Diese
Zusammenhänge schildert Rudolf Steiner ausführlich in seinen Vorträgen zum „Fünften
Evangelium“ aus dem Jahr 1913.[9]
Ich sehe also in den beiden
auffälligen Knaben in der zentralen Geburtsszene des Unterlimpurger Schreins
einen versteckten Hinweis auf die beiden Jesusknaben, wie man ihn zum Beispiel
auch in dem berühmten Gemälde der „Felsgrottenmadonna“ von Leonardo da Vinci im
Louvre oder in der Darstellung der Schutzmantel-Madonna von Hans Holbein d.J.
in der Haller Johanniterkirche („Alte Meister in der Sammlung Würth“) entdecken kann.
Ich hatte während meiner Führung
daran erinnert, dass die Menschen des ausgehenden Mittelalters, die ja in der
Regel nicht lesen und schreiben konnten, noch ein ganz anderes Verhältnis zu
den bildlichen Darstellungen in den Kirchen und außen an den Kirchen hatten.
Damals gab es – ganz im Gegensatz
zu heute – eigentlich nur in diesen „Kulturzentren“ etwas Interessantes zu
sehen. Wir, die wir Tag für Tag regelrecht von einer Bilderflut bedrängt
werden, können uns gar nicht mehr vorstellen, wie stark die heiligen Bilder auf
die Gläubigen wirkten.
Erst durch meine Russlandreise
und die Begegnung mit den Ikonen der russisch-orthodoxen Kirche konnte ich ein
Ahnung von dem Empfinden bekommen, das die Menschen noch vor 300 Jahren – also
vor der Aufklärung – auch in Mitteleuropa hatten, wenn sie die Kirche betraten,
insbesondere, um die katholische Messe zu feiern. Die Menschen waren im besten
Sinne des Wortes fromm.
Sie waren sicher nicht so bewusst
wie wir heute, aber sie konnten die Inhalte der Bilder wie Kinder in sich
aufnehmen und erlebten in ihrem Inneren die entsprechende Resonanz.
Viele dieser Menschen waren ja
schon mehrmals inkarniert, manche vielleicht sogar zur Zeit Christi. In den
vorangegangenen Inkarnationen, so führt es Rudolf Steiner einmal aus, haben sie
die Bilder des christlichen Glauben, das heißt vor allem das Wandeln Gottes auf
Erden um die Zeitenwende, tief innerlich in sich aufgenommen. Die äußeren
Bilder waren dann nur noch wie eine Bestätigung der inneren Erlebnisse.
Christus Wort „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ ist ja keine
Phrase, sondern geistige Wirklichkeit. Allerdings haben wir aufgeklärten
Menschen dazu nicht mehr den unmittelbaren Zugang wie die Menschen jener Zeit,
die noch staunen konnten.
Dieses Erleben, das insbesondere
bei den in klösterlichen Gemeinschaften lebenden Männern und Frauen durch all
die Gebete und Meditationen sehr intensiv werden konnte, versuchte ich meinen
Zuhörern deutlich zu machen. Und dadurch konnte ich bereits indirekt eine
Antwort auf die Ausgangsfrage geben: „Wo ist Bethlehem?“ Bethlehem ist, wie es
Angelus Silesius so schön formuliert hat[10],
nicht in der Außenwelt zu suchen, sondern vor allem in der Seele des frommen
Gläubigen. In jener Zeit waren alle Menschen fromm, egal welchem Stand sie
angehörten: von den einfachen Bauern („Hirten“) bis zu den Fürsten, Königen und
Kaisern.
Ich wies auch daraufhin, dass
laut Rudolf Steiner das „Mysterium von Geburt und Tod“ das zentrale „Thema“ der
vierten nachatlantischen Kulturepoche gewesen war. Durch die Beschäftigung mit
Jesu Geburt in Bethlehem und seinem Tod auf Golgatha waren die Menschen das
ganze Mittelalter hindurch mit diesem Thema innerlich vertraut. In der
Limpurger Altarretabel nun kommt auch noch Geburt und Tod Marias dazu: Das
erste Bild der Retabel schildert, wie bereits besprochen, die Mariengeburt, das
letzte den Marientod.
Nun zeugt es von der tiefen
symbolischen Kraft dieses Altars, dass es neben dieser Erzählung, die sich
horizontal auf den Bildern von links nach rechts ausbreitet, auch noch eine
vertikale Achse gibt, die von unten nach oben führt: Von dem Jesusknaben ganz
unten auf der zentralen Geburtsdarstellung kann man in einer senkrechten Achse
über den Turm der „Limpurg“ auf dem Hügel hinauf zu Gottvater blicken. Aber der
Blick wird noch weiter geführt: Fest verbunden mit der Retabel ist auch das spätgotische
Kruzifix mit dem blutenden Christus, das als Abschluss der Retabel anzusehen ist.
So kreuzen sich die beiden Achsen
sinnfällig und sinnvoll in dem leeren Raum über dem Jesuskind und über den
beiden anbetenden Knaben. Der geheime Kreuzungspunkt, oder anders ausgedrückt:
die Begegnung der beiden Geschichten, liegt also in einem „leeren“ Raum.
Es ist wie in der Musik: nicht
die Töne bilden sie, sondern die Intervalle zwischen den Tönen. So ist es auch
in der Malerei. Ich weise meine Zuhörer darauf hin, dass der bewusste
Betrachter unserer Zeit möglichst auf solche „Zwischenräume“ achten sollte. Dort,
im Zentrum des Bildes, „ereignet“ sich das Geistige.
Das kann man in der Altarretabel
der Urbanskirche sehr schön auf der gemalten Tafel studieren, die die
„Darstellung im Tempel“ erzählt: Der alte Simeon empfängt das Neugeborene und
erkennt in ihm den Messias, auf den er sein ganzes Leben lang gewartet hat. Der
Knabe, der vor dem weißen Tuch des Altars der Kirche, in der die Szene
stattfindet, „schwebt“, streckt seine Arme nach der Mutter auf der linken Seite
aus, dreht aber das Köpfchen nach rechts, um den alten Simeon anzuschauen: Die
rechte Hand der Maria und das linke Händchen des Knaben berühren sich beinahe.
Aber nur beinahe.
Dabei entsteht zwischen den
beiden Händen ein winziger Zwischenraum in der exakten Bildmitte. Zusammen mit
dem Weiß des Altartuches ist dieser „leere“ Raum gleichzeitig das geistige
Zentrum des Bildes, das seine „okkulte“ Wirksamkeit dann entfalten kann, wenn
der meditierende Betrachter sich auf diesen Punkt konzentriert und durch ihn
wie durch eine Tür in die Geistige Welt eintritt.
Rudolf Steiner führt in seinem Dornacher
Vortrag zur „Geschichtlichen Symptomatologie“ (GA 185) vom 25. Oktober 1918
aus, dass das im Mittelalter innerlich erlebte „Mysterium von Geburt und Tod“
in unserer fünften nachatlantischen Kulturepoche, die im Jahre 1413 begann, zur
Ausbildung der Bewusstseinsseele geführt hat (und noch führt).
Durch das Bewusstsein des „Stirb
und Werde“, das man nur in einer durch das Diesseits geprägten Welt so stark
erleben kann wie wir heutigen, wird das verinnerlichte Gefühl jener Zeit, in
der sich die Menschen vor allem mit dem Jenseits „beschäftigten“, zu einem
Anstoß, über die Endlichkeit unserer Existenz nachzudenken. Den Schmerz, dass
der Mensch sterblich ist, haben bereits ausgewählte Heroen wie Orpheus,
Ödipus und Odysseus in der Antike, also
am Beginn des vierten nachatlantischen Zeitalters, erfahren. Aber dieser
Schmerz bringt heute jedermann zu der möglichen Erkenntnis, dass es etwas
anderes jenseits des Todes geben muss, wenn das Leben nicht sinnlos gewesen
sein soll.[11] Der Schmerz bleibt auch dem konsequentesten
Materialisten nicht erspart und jeder philosophisch gebildete Mensch weiß, dass
es eben dieser Schmerz ist, der zur Erkenntnis führt.
Ein weiteres Rätsel der zentralen
Darstellung im Mittelschrein kann ich bei meiner Führung auch nur berühren:
Hinter Joseph erkennen wir eine Frau, die einen goldenen Mantel trägt und mit
ihren Händen über dem Vater des Knaben eine behütende Gebärde ausführt, die der
Mann, der beide Hände zu einer umhüllenden Geste zusammenführt, zu erwidern
scheint. Jeder, der sich ein wenig mit mittelalterlicher Kunst auskennt, weiß,
wie sprechend solche Gebärden sein können.
Mechthild Clauss interpretiert
diese Person als Hebamme. Es gibt im Proto-Evangelium des Jakobus tatsächlich
die Erzählung von zwei Hebammen, die unmittelbar nach der Niederkunft prüfen,
ob Maria noch Jungfrau ist. Nur eine der beiden hat in dem apokryphen
Evangelium einen Namen. Sie heißt wie die Mutter der Zebedäus-Söhne: Salome
(siehe Math. 27, 56 und Markus 15, 40).
Auf einer Geburtsdarstellung des
flämischen Meisters von Flemalle kann man tatsächlich die beiden Hebammen
sehen, wie sie in eine Art Streitgespräch verwickelt sind. Auch sie
„diskutieren“ im Rücken von Joseph über Marias Jungfräulichkeit. In der
Urbanskirche fehlt die eine Hebamme. Die „übriggebliebene“ kann – wenn
tatsächlich die Hebamme gemeint ist – nur die namenlose sein, die von Anfang an
von der Jungfräulichkeit Marias überzeugt ist.[12]
Irritierend ist aber nicht nur,
dass diese ungenannte Hebamme ausgerechnet hinter Joseph und nicht hinter Maria
steht, sondern auch, dass sie so reich gekleidet ist und außerdem vor einem
prächtigen, mit Zinnen bekrönten, goldenen Turm steht, der am rechten Bildrand
am weitesten über die Landschaft im Hintergrund hinausragt.
Ich kann nicht glauben, dass es
sich hier „nur“ um eine Hebamme handelt. Diese edle Frau hat – wie die beiden
Hebammen auf der Tafel des Meisters von Flemalle – einen vornehmen Turban auf
dem Haupt. Aber dieser „Turban“ lässt sie für mich eher verwandt erscheinen mit
den drei „Königen“, die auf der Anbetungsszene nach Matthäus gleich rechts
davon zu sehen sind und zum Teil ebenfalls Turbane tragen.
Wie schon durch die beiden blau
und rot gekleideten Knaben an der „Krippe“ des Jesuskindes, erscheint mir diese
als Hebamme gedeutete Gestalt auf ein Geheimnis hinzudeuten, das mit der
Verschmelzung der beiden Familien zu einer hinweist.
Als die Lukas-Maria etwa zwölf
Jahre nach ihrer Niederkunft stirbt, heiratet der Witwer, wie bereits
angedeutet, die Matthäus-Maria, die auf der Retabel ja gleich in der anschließenden
Darstellung zu sehen ist, sozusagen Rücken an Rücken mit ihrem zukünftigen
Ehemann. Nicht eine reale Figur ist also meinem Empfinden nach die Frau hinter
Joseph und vor dem Turm, sondern eine Imagination, eine Art Präfiguration
dessen, was zwölf Jahre später geschehen wird.
Bei Gott, so will das Bild wohl
sagen, sind alle Dinge möglich.
Gott ist hier auf dem zentralen
Schrein gleich dreimal – einmal „real“ und zweimal symbolisch –abgebildet:
deutlich erkennbar als Gottvater im Himmel über der Landschaft, gleichsam die fehlenden
Engel vertretend, die das Gloria singen. Man kann aber Gott auch in dem
goldenen Turm hinter der Frau in Anlehnung an den Psalm 61, Vers 4 sehen, wo es
heißt: „Du bist meine Zuflucht[13],
ein fester Turm gegen meine Feinde!“[14]
Und schließlich ist vielleicht auch der Turm der Burg im Hintergrund ein
Hinweis auf Gott, der damit wieder in seiner Trinität vertreten ist. Dieser
mittlere Turm, der im Sinne der Dreifaltigkeit, bei der Gottvater im Himmel und
Gottes Sohn auf Erden wirken, könnte dann ein Symbol für den Heiligen Geist
sein, der zwischen Himmel und Erde vermittelt wie die Taube, die vom Himmel
herabkommt.
Nun ist bekannt, dass mit der
Burg auf dem Hügel die Schenkenburg gemeint ist, die sich direkt oberhalb der
Urbanskirche erhob. Heute kann man sie nur noch als Ruine sehen. Zur Zeit der
Entstehung der Altarretabel aber war die Stammburg der Schenken von Limpurg
noch ein imposantes, die Landschaft dominierendes Gebäude mit Bergfried und
Wohngebäuden. Auch der zentrale Bergfried war zinnenbekrönt, allerdings im
Gegensatz zu dem goldenen Turm am rechten Bildrand nicht rund, sondern
viereckig.
Durch diese Darstellung
suggeriert also der Künstler, was damals durchaus üblich war, dass Bethlehem
nicht nur eine Stadt im Heiligen Land ist, sondern dass auch im Limpurger Land
ein Bethlehem zu finden ist. Die Heilsgeschichte wird dadurch für den gläubigen
Christen aus der Ferne in die Nähe „geholt“.
Bethlehem ist also nicht nur im
Innern der meditierenden Menschenseele, sondern überall da, wo sich auf der
Erde fromme Christen zusammentun, um in ihren Gemeinden Gottesdienst zu feiern.
In jeder Kirche des Landes kann das Jesuskind geboren werden, wenn der Heilige
Geist wirkt. Deshalb feiert die Christenheit jedes Jahr von neuem Advent und
Christgeburt.
Damit wäre die Frage, die über
der Führung stand, in zweifacher Weise beantwortet worden.
Nun bleibt aber noch die Frage
offen, warum es sich bei der Urbanskirche in Wahrheit um eine Marienkirche handelt,
obwohl es durchaus einen Heiligen Urban gibt, dem Kirchen geweiht wurden.
Diese Namensgebung gehört meinem
Empfinden nach zu einer Art Verschleierung des tieferen Geheimnisses, das
diesen Platz und diese Kirche umgibt, als sollte der Unvorbereitete es nicht sofort
enthüllen können.
Der Name der Kirche ist zunächst
einmal ganz profan zu deuten, denn er geht hervor aus dem lateinischen Namen,
der sich am Ende des 16. Jahrhunderts für die ursprüngliche Marienkirche
eingebürgert hat. Die Kirche wurde damals gemäß der Quellen „Ecclesia sub
urbana“, also „Vorstadtkirche“ genannt, weil sie in der Limpurger Vorstadt
stand. Zusammen mit der Burg und dem dazugehörigen Dorf wurde das Kirchlein im
Jahre 1541 an die Freie Reichsstadt Schwäbisch Hall verkauft. Von da an hieß
die Kirche, abgeleitet von S(ub) Urban(a), „Sankt Urban“.
Marienkirchen waren im
Mittelalter sehr beliebt. Rund um Paris erheben sich wie in einem Kranz solche
großartigen Kirchen, die auf Erden das Sternbild „Virgo“ nachzubilden scheinen.
Sie tragen in Frankreich den Namen „Notre Dame“. Viele deutsche Marienkirchen heißen,
wie in Nürnberg oder München, einfach „Frauenkirchen“, oder wie zum Beispiel in
Antwerpen oder Zürich Liebfrauenmünster beziehungsweise Liebfrauenkathedrale.
Die Marienverehrung war im
Mittelalter sehr ausgeprägt. Insbesondere der Mystiker Bernhard von Clairvaux
hat sehr dazu beigetragen. Alle Kirchen der Zisterzienser sind Marienkirchen.
Die Marienverehrung ist die
geistliche Seite der Frauenminne, die im 12. Jahrhundert unter der Ritterschaft
aufkam und bis ins 14. Jahrhundert in zahlreichen Minneliedern besungen wurde.
Es gibt in der Großen Heidelberger Liederhandschrift, auch Codex Manesse,
genannt, eine Abbildung des Minnesängers Konrad I. von Limpurg, der vor seine
Dame kniet.[15]
Das 12. Und 13. Jahrhundert ist
die große Zeit der Frauenverehrung. Erst im 16. Und 17. Jahrhundert wurden
Frauen als Hexen verfolgt.
Unser Kirchlein steht sozusagen
am Wendepunkt zwischen den beiden Zeitaltern, an der Schwelle zur Neuzeit.
Bei der Marienverehrung ging es
immer um die mystische Läuterung der Seele. Maria war nicht nur die Mutter, sondern
auch die Braut Christi, die den Betenden zum Bräutigam geleitete. Dabei war sie
zugleich Magd, wie bei Lukas, und Madonna, wie bei Matthäus. Die Magd trug
blau, die Madonna oft rot, wie zum Beispiel in dem Gemälde „Madonna im
Rosenhag“ von Martin Schongauer, das in der Colmarer Dominikanerkirche
bewundert werden kann.
Die Magd war das unschuldige
Mädchen, die Madonna die Herrin im Haus.
Beide Seiten der Frau konnten zum
Beispiel in den zahlreichen Darstellungen der Schutzmantelmadonnen
zusammenkommen. So trägt die Haller Holbein-Madonna eine blaue Tunika und einen
leuchtend roten Gürtel, der über ihrem
Schoß geknotet ist und so ein „Y“ bildet, ein altes hermetisches Symbol.[16]
Die mystische Marienverehrung hat
sich im Laufe der Neuzeit gewandelt. Im 20. Jahrhundert zeigte Rudolf Steiner
Wege auf, die auf moderne Weise zum „Bräutigam“ führen. Dabei spricht er von
zwei Schulungswegen, die in jeweils sieben Stufen über die „Katharsis“
(Reinigung) und die „Erleuchtung“ zur „Einweihung“ führen können: der christliche[17]
und der Rosenkreuzerweg[18].
Ich hatte in meiner letzten
Führung ein Zitat zum christlichen Schulungsweg ans Ende gestellt, in dem
Rudolf Steiner von dem verwandelten und geläutertem Astralleib spricht: am 5.
November 1906 sagte er in München über „Die Theosophie anhand des
Johannes-Evangeliums“ laut der Mitschrift:
„Jetzt war (der Adept) ein neuer
Mensch geworden. Man nannte nun den ganz vergeistigten Astralleib aus einem
ganz bestimmten Grunde mit einem ganz besonderen Namen: „Jungfräulich“ nannte
man diesen Astralleib, die „Jungfrau Sophia“. Und den Ätherleib, der aufnimmt,
was die Jungfrau Sophia in sich trug, nannte man den „Heiligen Geist“. Und das,
was aus beiden entstand, das war der „Menschensohn“. Der Verkündigung und
Geburt des Jesus von Nazareth liegen diese Mysterieninhalte zugrunde.“[19]
[1]
Die Getsemaneh-oder Ölberg-Szene, wo Jesus Schweiß und Blut schwitzt, ist fast
an jeder Kirche zu sehen.
[2]
Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von
Richard Benz, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, 8. Auflage 1975, S 97
[3]
Matthäus, Markus und Lukas sprechen nicht von einem „Kriegsknecht“ wie
Johannes, sondern von einem Hauptmann, der blind war und durch einen Tropfen
des Blutes, der auf seine Augen fiel, sehend wurde und ausrief: „Wahrlich,
dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (Markus 15, 39). Die Legende gibt dem
Hauptmann sogar einen Namen: Longinus. Siehe Legenda Aurea „Von Sankt
Longinus“, S 235. Die Kirche feiert ihn am 15. März.
[4]
Über diese „Provinz“ berichtete am gestrigen Freitag Annette Krause in der
Sendung „Expeditionen in die Heimat“ im dritten Programm (Südwest drei). In der
Sendung kam natürlich auch der „Visionär“ Rudolf Bühler zu Wort, der erklärt,
dass er seinen Namen von dem Flüsschen Bühler hat, die das Limpurger und das
Hohenloher Land von Süden nach Norden durchfließt und bei Geislingen in den
Kocher mündet.
[5] Es
beginnt so: „Zu Limpurg auf der Feste/ Da wohnt ein edler Graf,/ Den keiner
seiner Gäste/ Jemals zu Hause traf. / Er trieb sich allerwegen/ Gebirg und Wald
entlang, /Kein Sturm und auch kein Regen/ Verleidet‘ ihm den Gang.“ Schließlich
trifft der durch die Wälder streifende Graf auf den Hohenstaufen Kaiser, der ebenfalls
auf der Jagd ist und ihm den Speer abnehmen will. Der Graf von Limpurg
antwortet: „‘Herr Kaiser, wollt vergeben!/ Ihr macht das Herz mir schwer. Lasst
mir mein freies Leben/ Und lasst mir meinen Speer!“ Darauf sagt der Kaiser:
„Mit dir ist nicht zu streiten,/ Du bist mir allzu stolz,/ Doch führst du an
der Seiten/ Ein Trinkgefäß aus Holz:/ Nun macht die Jagd mich dürsten,/ Drum tu
mir das Gesell,/ Und gib mir eins zu bürsten/ Aus diesem Wasserquell!‘ Die
Ballade endet versöhnlich, nachdem der Kaiser aus der Schale so köstliches
Wasser getrunken hat, dass er vermeinte, es sei Wein: „Dann fasst der schlaue
Zecher/ Den Grafen bei der Hand:/ ‚Du schwenktest mir den Becher/ Und fülltest
ihn zum Rand,/ Du hieltest mir zum Munde/ Das labende Getränk:/ Du bist von
dieser Stunde/ Des deutschen Reiches Schenk!‘“ Unschwer sind in diesem Gedicht
die beiden Gralsreliquien, Speer und Schale, wieder zu erkennen.
[6]
„Es handelte sich also für die,
die mehr schildern wollten den Jesus von Nazareth und auch nur ihn schildern
konnten (Matthäus und Lukas), darum, zu zeigen, wie das Blut von Anfang an
herrunterrann durch die Generationen. Wichtig war es ihnen, zu zeigen, dass im
Joseph, dem Vater des Jesus von Nazareth, lebte das Blut, das durch die
Generationen herunterfloss. Hier würde es natürlich, wenn wir ganz esoterisch
sprechen könnten, notwendig sein, über den Begriff der sogenannten
„Unbefleckten Empfängnis“ zu sprechen, der "Conceptio Immaculata“, der aber nur
im allerengsten Kreise erörtert werden kann. Aber er gehört zu den tiefsten
Mysterien, die es überhaupt gibt, und die Missverständnisse, die sich an diesen
Begriff knüpfen, rühren davon her, dass die Menschen nicht wissen, was
überhaupt unter der „Conceptio Immaculata“ verstanden werden muss. Die Menschen
glauben, dass keine Vaterschaft da wäre. Das ist es nicht, sondern eine viel
tiefere, geheimnisvolle Sache liegt dahinter; und mit dem, was dahinter liegt,
ist gerade dasjenige vereinbar, was die anderen Evangelien zeigen wollen, dass
Joseph der Vater ist.“
Rudolf Steiner, 12. Vortrag in „Das
Johannes-Evangelium“ vom 31. Mai 1908 (Das Wesen der Jungfrau Maria und der
Heilige Geist)
[7]
Luk. 2, 7
[8]
Math. 2, 11
[9]
„Bevor aber dieses geschah,
hatte der Jesus von Nazareth noch ein wichtiges Gespräch mit derjenigen
Persönlichkeit, die wir als seine Zieh- oder Stiefmutter kennen. Wir wissen ja,
dass die Mutter jenes nathanischen Jesus, der in seinem zwölften Jahre die
Individualität des Zarathustra in sich aufgenommen hatte, das heißt also die
wirkliche leibliche Mutter des nathanischen Jesus, gestorben war bald, nachdem
dieser Jesusknabe den Zarathustra, der in dem anderen Jesusknaben verkörpert
war, in sich aufgenommen hatte, so dass also deren Seele längst in der
geistigen Welt war. Wir wissen auch aus früherern Vorträgen verflossener Jahre,
dass der Vater des anderen, des salomonischen Jesusknaben, gestorben war, und
dass aus den beiden Familien der beiden Jesusknaben eine einzige Familie in
Nazareth geworden war, innerhalb welcher der Jesus mit seinen Geschwistern und
mit der Zarathustra-Mutter zusammen war. Wir wissen, dass der Vater des Jesus
von Nazareth, als dieser etwa im vierundzwanzigsten Jahre von einer größeren
Wanderung zurückkam, gestorben war, und dass nun der Jesus von Nazareth allein
mit seiner Mutter, der Zieh- oder Stiefmutter, lebte. Im Allgemeinen muss
gesagt werden, dass diese Zieh- oder Stiefmutter sich nur langsam ein
Gemütsverständnis, aber eben nach und nach ein tiefes Gemütsverständnis für
alle die tiefen Erlebnisse aneignete, welche der Jesus von Nazareth
durchmachte. Es wuchsen gewissermaßen im Laufe der Jahre die Seelen, die des
Jesus von Nazareth und die der Zieh- oder Stiefmutter, ineinander.“
Rudolf Steiner, das Fünfte Evangelium, Berlin, 18.
November 1913 (GA 148, S 138f)
[10]
Der 61. Sinnspruch aus dem Ersten Band des „Cherubinischen Wandersmann“ lautet:
„Wird Christus tausendmal zu Bethlehem gebohrn/ und nicht in dir; du bleibst
doch ewiglich verlohrn.“
[11]
„Daher ist es so unendlich wichtig, dass in diesem Zeitalter der
Bewusstseinsseele der Mensch sich über Geburt und Tod im wahren Sinne, das
heißt im Sinne der wiederholten Erdenleben, aufklärt …“ (R. Steiner am 25.
Oktober 1918, GA 184, S 102)
[12]
„Und die Hebamme ging mit ihm (Joseph) hin. Und sie standen an dem Platz, wo
die Höhle war, und siehe, eine lichte Wolke hüllte die Höhle in Schatten. Da
sagte die Hebamme: ‚Erhaben ist heute meine Seele. Denn meine Augen haben
Wunderbares gesehen; denn für Israel ist Heil geboren worden.‘ Und sogleich
verzog sich die Wolke aus der Höhle, und es erschien ein gewaltiges Licht in
der Höhle, so dass unsere Augen es nicht ertragen konnten. Und nach kurzer Zeit
verschwand jenes Licht, bis das Kind zu sehen war; und es kam und nahm die
Brust seiner Mutter Maria. Und die Hebamme schrie auf und rief: ‚Groß ist der
Tag heute für mich, dass ich dieses neue Schauspiel habe sehen dürfen!‘ Und die
Hebamme verließ die Höhle. Da begegnete ihr Salome, und sie sagte zu ihr:
‚Salome, Salome! Ein neues Schauspiel habe ich dir zu erzählen: eine Jungfrau
hat geboren, was doch ihre Natur gar nicht erlaubt!‘ Da sagte Salome: ‚So wahr
der Herr, mein Gott, lebt, wenn ich meinen Finger nicht anlege und ihren
Zustand untersuche, so glaube ich nicht, dass eine Jungfrau geboren hat.‘“
(Proto-Evangelium des Jakobus in: Erich Weidinger, Die Apokryphen – Verborgene
Bücher der Bibel, Pattloch Verlag 1988, Nachdruck im Weltbild-Verlag, S 442 f)
[13] Siehe
Anmerkung 7
[14]
Rainer-Maria Rilke kann später in einem seiner bekanntesten Gedicht ebenfalls
Gott mit einem Turm vergleichen, wenn er sagt: „Ich kreise um Gott, um den
uralten Turm/ und ich kreise jahrtausendelang,/ und ich weiß noch nicht, /bin
ich ein Falke, ein Sturm,/ oder ein großer Gesang“
[15]
Auf dem grünen Umhang liest man, schön verteilt, den weißen Buchstaben A, der
für Amor (=Liebe) steht. Die Haltung ist demütig. Das Wappen mit den drei
silbernen Keulen auf blauem Grund hängt in einem Baum. Die Dame trägt über
einem roten Untergewand einen blauen Mantel. Grün ist die Farbe der Hoffnung,
Weiß die Farbe der Reinheit, und Blau die Farbe der Treue und des Glaubens.
[16]
Es deutet auf eine „Scheideweg-Situation“ hin, wie sie zum Beispiel der
Göttersohn Herkules antraf, als er seinen Lebensweg antrat. Er sollte wählen
zwischen dem steilen und steinigen Weg, der zum Heil führt und dem leichten und
flachen Weg, der zu den Vergnügungen des Lebens (ver-) leitet. Herkules hat
natürlich den ersteren gewählt. Auch Jesus von Nazareth stand einst am Scheideweg
zwischen rot und blau. Ihm allein konnte es – durch die Jordantaufe – gelingen,
die königliche und die priesterliche Linie in seinem Leben zu vereinen. Seitdem
gibt es, richtig betrachtet, nicht mehr das „Entweder – Oder“, sondern das
„Sowohl – Als auch“. Oder wie es im „Parzival“ heißt: Gott und der Welt
gefallen, Rittertum und Mönchtum vereinen.
[19]
GA 94, Siebenter Vortrag. Ganz ähnlich und noch ausführlicher spricht Rudolf
Steiner am 31. Mai 1908 im letzten Vortrag des Hamburger Zyklus über das
Johannes-Evangelium, GA 148.
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