Montag, 11. Dezember 2017

"Wo ist Bethlehem?" - eine Führung durch die Haller Urbanskirche

Ich verließ am Freitag, den 08. Dezember gegen 15.00 Uhr das Haus mit zwei schweren Taschen voller Bücher: Ich hatte natürlich die Studie von Dr. Mechthild Clauss dabei, die im Jahre 2015 unter dem Titel „Wo ist Bethlehem?“ erschienen war. Auch meine Führung hatte ich unter diesen Titel gestellt.
Dann hatte ich natürlich meine Bibel dabei, denn die spätgotische Marienretabel in der Urbanskirche, die eigentlich eine Marienkirche ist, zeigt vor allem Szenen aus dem Lukas-Evangelium: Verkündigung, Heimsuchung, Beschneidung, Geburt mit den Hirten und Darstellung im Tempel. Dabei kommt die Verkündigung in der kleinen Kirche gleich zweimal vor: einmal als Fresko an der Nordwand und einmal als gemalter Flügel in der Altarretabel.
Ich habe aber auch die „Apokryphen“ mit dem Proto-Evangelium des Jakobus dabei, in dem Geburt und Tod der Maria erzählt werden. Das betrifft die erste und die letzte Tafel der Sonntagsseite der Retabel. Diese Geschichten sind nicht in den kanonischen Evangelien zu finden.
Und ich habe die „Legenda Aurea“ (Goldene Legende) dabei, in der die „Beschneidung“ (Concisio) ausführlich behandelt wird. Diese fand ja acht Tage nach der Geburt statt und zwar am Neujahrstag. Offenbar wurde der erste Januar, an dem der Knabe auch seinen Namen „Jesus“ erhielt, aus diesem Grunde an den Anfang des bürgerlichen Jahres gestellt. Das christliche oder Kirchenjahr beginnt ja mit dem 1. Dezember und endet mit dem 30. November, dem Tag des Apostels Andreas.


Die Beschneidung Jesu wurde in der mittelalterlichen Kunst eher selten dargestellt. Dass sie in Sankt Urban so zentral im Mittelschrein, symmetrisch zur Anbetung der Könige auf der rechten Seite links von der zentralen Geburtsdarstellung, gezeigt wird, hat einen möglichen Grund darin, dass der Meister Kontakt zu einer niederländischen Werkstatt hatte: Entweder er kam selbst aus den Niederlanden, wie manche Kunsthistoriker vermuten, oder er war Haller und ist dort bei einem Meister in die Schule gegangen.
Vom gemalten und geschnitzten Hauptaltar der Haller Stadtkirche Sankt Michael, der die Passion Christi zum Thema hat, ist bekannt, dass er von einem Meister aus Antwerpen geschaffen wurde.
Nun ist zu beachten, dass die Liebfrauenkirche in dieser belgischen Stadt, die im 15. Jahrhundert zum Heiligen Römischen Reich gehörte, eine besondere Christusreliquie besaß: die bei der Beschneidung „weggefallene“ Vorhaut des Jesusknaben. Jedenfalls geht so die Legende.
Diese Reliquie hatte im Mittelalter als einzige unmittelbare Christus-Reliquie eine ganz besondere  Bedeutung und einen großen Wert für die Gläubigen, die in ihre Nähe kamen. Da Christus mit seinem „Auferstehungsleib“ in den Himmel aufgefahren ist, kann es von ihm ansonsten keine Reliquien geben, ebenso wenig wie von Maria. Nur seinen „Heiligen Rock“ kann man zum Beispiel im Trierer Dom sehen, so wie die Tunika der Maria in der Notre Dame de Chartres – beides ganz besonders hervorragende „Heilsbringer“, an deren Wirkmacht die Menschen damals glaubten.
Die „Goldene Legende“ führt in ihrem Kapitel „Von der Beschneidung des Herrn“ aus, dass damals Jesus von Nazareth zum ersten Mal sein kostbares Blut „geopfert“ habe. Es heißt dort:
„Zu fünf Malen vergoss er sein Blut für uns; das erste an dem heutigen Tage seiner Beschneidung, das war ein Anfang unserer Erlösung; das andre in seinem Gebet, da er den blutigen Schweiß vergoss[1], in dem zeigte er ein Verlangen unsrer Erlösung; das dritte vergoss er, da man ihn geißelte, das war ein Verdienen unserer Erlösung, denn wir wurden durch seine Wunden geheilt; das vierte vergoss er am Kreuz, und das war der Preis unserer Erlösung, denn da büßte er, was er nicht verbrochen hatte; das fünfte vergoss er, da seine Seite mit dem Speer ward aufgeschlossen, das war das Sakrament unserer Erlösung; denn es floss Blut und Wasser heraus, zu einem Zeichen, dass wir durch das Wasser der heiligen Taufe sollten gereinigt werden von unseren Sünden; ihre Kraft aber sollte die Taufe von dem Blute Christi empfangen.“[2]
Ganz in der Nähe von Antwerpen liegen die Städte Gent und Brügge, zwei weitere wichtige Zentren mittelalterlicher Kunst und Reliquienverehrung. In Brügge wird bis heute eine Heilig-Blut-Reliquie aufbewahrt und bei alljährlichen Fronleichnams-Prozessionen mitgeführt.
Das mit Wasser vermischte Blut, das am Karfreitag durch den Lanzenstich des „Kriegsknechtes“[3] (Joh. 19, 34) aus der Seite Christi floss, gilt in der Gralstradition als wichtigste, lebenspendende Heilssubstanz. Dieses Blut fing Joseph von Arimathia, der in den Gralslegenden als Stammvater des Gralsgeschlechts gilt, in der silbernen Schale auf, die auch am Gründonnerstag als Abendmahlsschale gedient hatte.
Schale und Speer bzw. Lanze gehören damit als wichtigste „Requisiten“ fest ins Zentrum der zahlreichen Gralslegenden, wie es zum Beispiel Wolfram von Eschenbach im fünften Buch seines Versromans erzählt.
Die Geburt Mariens, die auf der ersten Tafel dargestellt wird, feiert die katholische Kirche am 8. September. Dieses Ereignis wird in der „Legenda Aurea“ unter dem Titel „Von der Geburt der seligen Jungfrau Maria“ geschildert.
Andererseits wird die „unbefleckte Empfängnis“ oder die „Conceptio Immaculata“, die die Kirche an diesem 8. Dezember feiert – in Italien und Österreich ist der 8. Dezember bis heute Feiertag, in Bayern war er es bis ins Jahr 1969 – weder im Evangelium des Jakobus noch in der „Legenda Aurea“ erwähnt.
Diese „Conceptio“ bezieht sich nicht, wie immer wieder vermutet wird, auf die Empfängnis der Maria, die am 25. März, also exakt neun Monate vor der Geburt des Lukasknaben stattfand, sondern auf die Empfängnis der Anna, die exakt neun Monate später, am 8. September, mit Maria nieder kam.
Die Conceptio Immaculata findet man in einer Darstellung Giottos in der Scrovegni-Kapelle in Padua. Auf dem Fresko sieht man Anna in einem Raum, zu dessen rechtem Fenster der Engel hereinschaut, während links außerhalb des Gebäudes eine Magd am Spinnrocken sitzt.
Dieses Bild entstand vermutlich etwa zur gleichen Zeit wie das wunderbare Fresko in der Urbanskirche, das Maria am Spinnrocken in einem tempelähnlichen Gebäude zeigt. Die Tempeljungfrau Maria spinnt die farbige Wolle für den Tempelvorhang, der das Allerheiligste verdeckt und der bei der Kreuzigung „von obenan bis untenaus“ (Math. 27, 51)in zwei Teile zerreißen wird.


Auf dem Unterlimpurger Fresko schwebt der Erzengel Gabriel links über dem Tempelchen, während Maria, die ihre Arbeit gerade unterbrochen hat – die Spindel liegt auf dem Boden – in die Gegenrichtung schaut. Sie scheint den Engel nicht zu sehen, sondern nur das „Ave Maria“ zu hören.
Es ist auf dem Fresko ein ganz innerliches Geschehen.
Der unbekannte Meister hat aber das, was wirklich passiert, ganz zart angedeutet: der goldene Faden, den die Tempeljungfrau Maria spinnt, kreuzt sich genau über ihrem Schoß mit der schwarzen Gürtelschleife, die in der Höhe ihres linken Unterschenkels im Kopf einer Schlange endet.
Eine Taube, das Symbol des Heiligen Geistes, ist auf dem Fresko nicht zu sehen, wohl aber auf der Verkündigungsszene der zweiten Tafel der Altarretabel.


Solch eine Taube kann man auch am Rundbogenfries der Außenseite des spätromanischen Chores erkennen, und zwar an der Südseite des dreiteiligen Chorabschlusses. Der gesamte Fries und die Lisenen werden geschmückt durch ein wunderbares Diamantband, wie wir es bei meiner letzten Führung am 29. September bereits am spätromanischen Triforium im Innenhof des Gasthauses zum „Goldenen Adler“ bewundern konnten, das zu einem abgegangenen Königshof in der Nachbarschaft der ebenfalls zerstörten „Marienkirche am Schuppach“ gehörte.
Das Diamantband ist ein spätromanisches Schmuckelement, das auch an einem Fenster der Burgruine der Schenken von Limpurg direkt oberhalb der Urbanskirche und an der sechseckigen spätromanischen Kapelle auf der Großcomburg zu bewundern ist. Neulich entdeckte ich ihn auch am romanischen Südportal der Basilika „Sankt Vitus“ in Ellwangen.
Die Taube an der Außenseite des um 1230 entstandenen Chores fliegt nach rechts unten und trägt eine Oblate im Schnabel.
Diese ungewöhnliche Darstellung erinnert an die Szene aus dem neunten Buch des „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach, das wohl um 1200 niedergeschrieben wurde. In diesem Buch klärt der Einsiedler Trevrizent und Bruder des Gralskönigs Amfortas den irrenden Jüngling über die Geheimnisse des Grals auf.
Es wird erzählt, wie der Gral – bei Wolfram ein Stein, der vom Himmel gefallen war („Lapis exillis“) –  jedes Jahr am Karfreitag enthüllt wird und wie dann jedes Mal eine Taube vom Himmel schwebt, die eine weiße Oblate herab trägt, um sie auf dem „Stein“ abzulegen.
Dieser Zusammenhang erscheint mir aus mehreren Gründen wichtig: erstens sehe ich in der mittelalterlichen Comburg tatsächlich eine Art Gralsburg. Sie bleibt den Blicken der von Osten auf der Haller Ebene von Ellwangen her Kommenden verborgen,  muss jedoch den Blicken der von Westen aus dem Kochertal Kommenden als imposante Burganlage erscheinen, weil sie auf einem Umlaufberg des Kochers errichtet wurde, der aus dem Tal herausragt.
Zweitens war auch der Schenk Konrad I. in jener Zeit, als Wolfram lebte und dichtete, ein bekannter Minnesänger, der als Ministeriale am Hofe der Staufer mit Sicherheit mit der damals allseits bekannten Gralssage vertraut war.
Es war der Großvater des Minnesängers, Walter I., der die Liebfrauenkirche am Fuße seiner Burg um das Jahr 1230 errichten ließ.
Ein dritter Hinweis auf die Gralssage ist schließlich die Hochzeit des Schenken Friedrich V. mit der hübschen Susanna von Thierstein. Friedrichs Mutter war Elisabeth von Hohenlohe. Sie hatte die Altarretabel in der Urbanskirche gestiftet. Da sie aber um 1450 bereits verstorben war, kümmerten sich Friedrich und seine Frau aus dem Adelsgeschlecht der Thiersteiner um die Realisierung des Bildwerkes durch einen Meister aus der niederländischen Schule.
Die Burg Thierstein ist heute nur noch eine Ruine und liegt etwa 15 Kilometer südlich von Dornach bei Basel im Kanton Solothurn. Wenn man dem anthroposophischen Gralsforscher Werner Greub („Wolfram von Eschenbach und die Wirklichkeit des Gral“, 1973) folgt, so ist die Gegend um Dornach Gralsgebiet.  Greub identifiziert die Eremitage bei Arlesheim, die auch der Adept Cagliostro aufgesucht hat, mit der Klause des Trevrizent.
Walter Johannes Stein verlegt die Gralsgeschichte nach einer Anregung von Rudolf Steiner ins neunte Jahrhundert („Das neunte Jahrhundert im Lichte des Heiligen Gral“, 1928). Vom neunten bis zum dreizehnten Jahrhundert sind fast 400 Jahre vergangen, in denen viel passiert ist. Warum kann es nicht sein, dass die Ritterschaft vom Heiligen Gral nicht nur eine – also die Gralsburg – sondern mehrere Dependancen hatte, die man sich als klösterliche Anlagen vorstellen muss?
Die imposante Großcomburg könnte eine davon sein.
Aber das möchte ich für meine nächste Führung, die in der kommenden Osterzeit sein wird, noch näher erforschen.
Ein Abt der Comburg war auch ein Verwandter der Kaiserin Adelheid, deren sterbliche Überreste in der Gruft der Stiftskirche von Öhringen, einer Residenzstadt der Grafen von Hohenlohe, liegen.
Die Grafen von Hohenlohe, ganz gleich, um welche Linie des weitverzweigten Geschlechtes es sich handelt, haben den Vogel Phönix als Wappentier. Diesem Vogel begegnet man in Waldenburg, in Öhringen, in Kocherstetten, in Langenburg und in Kirchberg an der Jagst, also praktisch im ganzen Hohenloher Land, das nördlich an das Limpurger Land, das sich zwischen Schwäbisch Hall, Schwäbisch Gmünd und Ellwangen ausbreitet, angrenzt.[4]
Von diesem Vogel Phönix spricht auch Trevrizent, um dem jungen Parzival eine Vorstellung vom Gral zu geben: Ich zitiere hier die Stelle aus dem neunten Buch in der Übersetzung von Wilhelm Stapel:
„Er fragte, wie es um den Gral stünde. Der Einsiedler sagte: ‚Ich weiß wohl, dass viele Ritter zu Munsalvaesche beim Gral wohnen. Wenn sie ausreiten, und das tun sie oft, geht es auf Abenteuer. Wo immer diese Templeisen Niederlage oder Sieg erjagen, tun sie das für ihre Sünden. Da wohnt also eine wehrhafte Schar. Ich will euch sagen, wovon sie leben: sie leben von einem Steine, der von ganz reiner Art ist. Wenn ihr ihn nicht kennt, so soll er euch hier genannt werden. Er heißt Lapsit exillis. Durch dieses Steines Kraft verbrennt der Phönix zu Asche. Die Asche aber macht ihn flugs wieder lebendig. Diese Erneuerung aus der Asche ist beim Phönix dasselbe, was bei anderen Vögeln die Mauserung ist. Danach beginnt er hell zu strahlen und wird wieder schön wie zuvor. Dieselbe Kraft wie beim Vogel Phönix bewährt der Gral bei den Menschen. Es mag einem Menschen noch so schlecht gehen, wenn er eines Tages den Stein sieht, so wird er in der Woche, die auf diesen Tag folgt, nicht sterben. Auch bleibt sein Aussehen dasselbe, das er hatte, als er den Stein erblickte, und zwar so, wie er in seiner besten Zeit aussah – Frau wie Mann – und wenn sie den Stein zweihundert Jahre sähen; nur das Haar wird grau. Solche Kraft gibt der Stein dem Menschen, dass Fleisch und Bein flugs Jugend empfängt. Der Stein wird auch genannt der Gral. Gerade heute erscheint auf dem Steine wieder eine Botschaft, und das ist seine höchste Kraft. Es ist ja heute Karfreitag, da erwartet man auf Munsalvaesche eine Taube, die sich vom Himmel herabschwingt. Sie bringt auf den Stein eine kleine, weiße Oblate herab. Die lässt sie auf dem Steine. Die Taube ist durchscheinend weiß.“
Ein letztes Argument für eine Nähe zum Gral ist die Tatsache, dass das Amt des Mundschenken, das die Grafen von Limpurg bei der Königs- und Kaiserkrönung auszuüben hatten, mit einer silbernen Schale verbunden war. Diese silberne Schale kann man auch als ein Bild für den Gral sehen, denn dieser ist bei Chrestien de Troyes die Schale des Joseph von Arimathia, der darin, wie erzählt wird, das Blut Christi aufgefangen hat. Die Silberne Schale zusammen mit der weißen Oblate: das ist die übliche Imagination des Grals.
Es gibt von Ludwig Uhland, dem schwäbischen Dichter, der im 19. Jahrhundert die Gralsgeschichten wieder entdeckt und in seinen Tübinger Vorlesungen nacherzählt hat, eine schöne Ballade über den „Schenk von Limpurg“, in dem eine Schale eine wichtige Rolle spielt. Sie entstand im Jahre 1816.[5]
Weil ich bei meiner Führung auch diesen Zusammenhang im Hinterkopf hatte, hatte ich auch den „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach mitgenommen. Aber ich bin bei der Führung nicht dazu gekommen, die Beziehung der Urbanskirche zum Gral aufzuzeigen, da die Zeit und die Aufnahmefähigkeit meiner Zuhörer begrenzt waren.
Dafür habe ich auf andere esoterische Zusammenhänge hinweisen können.
Auf der zentralen Geburtsszene nach Lukas sieht man hinter dem Jesuskinde, das in seinem Körbchen liegt, zwei Knaben in Anbetung begriffen. Einer ist blau, der andere rot gekleidet.


Obwohl Mechthild Crauss meint, dass es sich bei diesen beiden Knaben wohl um Engel handeln müsse, habe ich eine andere Vermutung. Engel werden gerne bei der Geburt des Lukasknaben dargestellt, so zum Beispiel auf dem Bladelin-Altar von Rogier van der Weiden. Da stehen zwei Engel anbetend vor dem auf dem blauen Mantel der Maria liegenden Kinde. Aber diese beiden Engel sind weiß gekleidet. Auch Maria hat ein weißes Gewand, von dem der blaue Mantel heruntergerutscht zu sein scheint. Josef ist in einen roten Mantel gehüllt.
Ich führe aus, dass die Farben im Mittelalter eine große Bedeutung hatten. Rot wies in der Regel auf königliches Geblüt hin, blau ist die Farbe des Himmels und deshalb auch der Priester; gemischt mit Rot erscheint das Blau als Violett. Weiß und noch mehr die Farbe Gold sind die höchsten und hellsten Farben und weisen auf das Göttliche hin. Der Goldgrund des Mittelalters, der auch noch auf den Tafeln und in dem geschnitzten Mittelschrein des Marienaltars der Urbanskirche erscheint, ist ein Symbol für die Geistige Welt, die hinter der sichtbaren irdischen Welt existiert und wirkt.
Hella Krause Zimmer hat in ihrem Buch „Die zwei Jesusknaben in der bildenden Kunst“ (1969) viele Belege aus der Kunstgeschichte dafür angeführt, dass die mittelalterlichen Künstler durchaus noch von dem Geheimnis der zwei Jesusknaben wussten, das heute immer noch die meisten Menschen irritiert.
Dabei muss man nur die Bibel gründlich lesen, insbesondere das Matthäus- und das Lukas-Evangelium.
Schon die beiden Stammtafeln, die die beiden Evangelisten aufgeschrieben haben, teilen sich bei König David in eine königliche Linie, die über Salomon, und in eine priesterliche Linie, die über Nathan zum Vater des Jesus, Josef, führt.[6]
Es müssen also zwei unterschiedliche Väter Josef gelebt haben, denn der eine kann nicht identisch sein mit dem anderen, weil er seit David andere Vorfahren hatte. So muss es auch unterschiedliche Mütter mit den Namen Maria gegeben haben.
Wenn man das Lukas- und das Matthäus-Evangelium vergleicht, so erfährt man, dass die eine Familie in Nazareth lebt und zur Volkszählung nach Bethlehem zieht, wo das lukanische Paar in einer „Herberge“ (Lat. diversorium = Zuflucht)[7] Unterkunft findet. Dort bringt Maria das Kind zur Welt und dort bleibt das Paar die 40 Tage der „Reinigung“ bis zur Darbringung im Tempel. Erst dann ziehen sie mit ihrem Sohn zurück in ihre Heimatstadt Nazareth. Von einer Flucht nach Ägypten ist keine Rede.
Die Geburtsszene nach Lukas steht im Mittelpunkt des Bildwerkes und ist auch doppelt so hoch wie die anderen.
Die Familie, die Matthäus schildert, hat immer in Bethlehem gewohnt, wo sie ein Haus (lat. „domus“)[8] besitzt. Dort kommt der Stern zu stehen, dem die drei „Sterndeuter“ (lat. „magi“) aus dem Morgenland gefolgt sind.
In dieses Haus und nicht in einen ärmlichen Stall treten die „Könige“ ein. Sie beten das königliche Kind aus der Abstammung von Salomon an, während die Hirten (und Engel) bei Lukas das priesterliche Kind aus der Abstammung von Nathan anbeten.
Nachdem die Könige wieder abgereist sind, fürchtet Herodes, der König der römischen Unterprovinz Judäa, die zur Provinz Syria gehört, um seinen Thron und lässt alle Knaben ermorden, die zwei Jahre alt und darunter sind.
Das Heilige Paar flieht nach Ägypten und bleibt dort, bis Herodes gestorben ist, also mehrere Jahre. Schließlich kommen sie zurück nach Bethlehem, aber Josef und Maria entschließen sich, nach Nazareth umzuziehen.
In Nazareth vereinen sich die beiden Familien nach dem Tod der nathanischen Mutter. Diese stirbt kurz, nachdem ihr Sohn zwölf Jahre alt geworden ist. Der nathanische Vater, der erst stirbt, als Jesus 24 Jahre alt ist, heiratet die salomonische Mutter. Auch der salomonische Jesusknabe, in dem in Wirklichkeit nach den Forschungen von Rudolf Steiner der wiedergeborene Zarathustra lebte, ist gestorben, nachdem der Geist des Zarathustra im Tempel von Jerusalem in den zwölfjährigen Lukasknaben eingezogen ist, worüber die Eltern, die ihren Sohn verloren hatten und ihn im Tempel wiederfanden, sehr erschrecken, wie es im Lukas-Evangelium heißt.
Es ist der nathanische Jesus, der in seinem 30. Lebensjahr bei der Taufe im Jordan den Heiligen Geist empfängt, welcher in Gestalt einer Taube auf ihn herabschwebt. Ab diesem Moment lebt der Christus im Jesus von Nazareth. Die Taufe im Jordan, Epiphanias genannt, wird ebenfalls am 6. Januar gefeiert. Das Markus- und Johannes-Evangelium, die keine Kindheitsgeschichte Jesu erzählen, beginnen mit diesem Ereignis.
Rudolf Steiner, der diese Zusammenhänge erstmals erforscht und öffentlich mitgeteilt hat, weist darauf hin, dass für die Menschwerdung Gottes solche differenzierten Vorbereitungen leiblicher und seelischer Art notwendig waren.
Jesus, der jetzt der Christus ist, hat also seit der Taufe keinen Vater mehr und nur noch seine Zieh- oder Stiefmutter. Sie ist es, die bei der Hochzeit von Kana anwesend ist und schließlich auch unter dem Kreuze steht und auf Geheiß des Gekreuzigten von dem Jünger, den der Herr lieb hatte, als Mutter angenommen wird. Diese Zusammenhänge schildert Rudolf Steiner ausführlich in seinen Vorträgen zum „Fünften Evangelium“ aus dem Jahr 1913.[9]


Ich sehe also in den beiden auffälligen Knaben in der zentralen Geburtsszene des Unterlimpurger Schreins einen versteckten Hinweis auf die beiden Jesusknaben, wie man ihn zum Beispiel auch in dem berühmten Gemälde der „Felsgrottenmadonna“ von Leonardo da Vinci im Louvre oder in der Darstellung der Schutzmantel-Madonna von Hans Holbein d.J. in der Haller Johanniterkirche („Alte Meister in der Sammlung Würth“)  entdecken kann.
Ich hatte während meiner Führung daran erinnert, dass die Menschen des ausgehenden Mittelalters, die ja in der Regel nicht lesen und schreiben konnten, noch ein ganz anderes Verhältnis zu den bildlichen Darstellungen in den Kirchen und außen an den Kirchen hatten.
Damals gab es – ganz im Gegensatz zu heute – eigentlich nur in diesen „Kulturzentren“ etwas Interessantes zu sehen. Wir, die wir Tag für Tag regelrecht von einer Bilderflut bedrängt werden, können uns gar nicht mehr vorstellen, wie stark die heiligen Bilder auf die Gläubigen wirkten.
Erst durch meine Russlandreise und die Begegnung mit den Ikonen der russisch-orthodoxen Kirche konnte ich ein Ahnung von dem Empfinden bekommen, das die Menschen noch vor 300 Jahren – also vor der Aufklärung – auch in Mitteleuropa hatten, wenn sie die Kirche betraten, insbesondere, um die katholische Messe zu feiern. Die Menschen waren im besten Sinne des Wortes fromm.
Sie waren sicher nicht so bewusst wie wir heute, aber sie konnten die Inhalte der Bilder wie Kinder in sich aufnehmen und erlebten in ihrem Inneren die entsprechende Resonanz.
Viele dieser Menschen waren ja schon mehrmals inkarniert, manche vielleicht sogar zur Zeit Christi. In den vorangegangenen Inkarnationen, so führt es Rudolf Steiner einmal aus, haben sie die Bilder des christlichen Glauben, das heißt vor allem das Wandeln Gottes auf Erden um die Zeitenwende, tief innerlich in sich aufgenommen. Die äußeren Bilder waren dann nur noch wie eine Bestätigung der inneren Erlebnisse. Christus Wort „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ ist ja keine Phrase, sondern geistige Wirklichkeit. Allerdings haben wir aufgeklärten Menschen dazu nicht mehr den unmittelbaren Zugang wie die Menschen jener Zeit, die noch staunen konnten.
Dieses Erleben, das insbesondere bei den in klösterlichen Gemeinschaften lebenden Männern und Frauen durch all die Gebete und Meditationen sehr intensiv werden konnte, versuchte ich meinen Zuhörern deutlich zu machen. Und dadurch konnte ich bereits indirekt eine Antwort auf die Ausgangsfrage geben: „Wo ist Bethlehem?“ Bethlehem ist, wie es Angelus Silesius so schön formuliert hat[10], nicht in der Außenwelt zu suchen, sondern vor allem in der Seele des frommen Gläubigen. In jener Zeit waren alle Menschen fromm, egal welchem Stand sie angehörten: von den einfachen Bauern („Hirten“) bis zu den Fürsten, Königen und Kaisern.
Ich wies auch daraufhin, dass laut Rudolf Steiner das „Mysterium von Geburt und Tod“ das zentrale „Thema“ der vierten nachatlantischen Kulturepoche gewesen war. Durch die Beschäftigung mit Jesu Geburt in Bethlehem und seinem Tod auf Golgatha waren die Menschen das ganze Mittelalter hindurch mit diesem Thema innerlich vertraut. In der Limpurger Altarretabel nun kommt auch noch Geburt und Tod Marias dazu: Das erste Bild der Retabel schildert, wie bereits besprochen, die Mariengeburt, das letzte den Marientod.



Nun zeugt es von der tiefen symbolischen Kraft dieses Altars, dass es neben dieser Erzählung, die sich horizontal auf den Bildern von links nach rechts ausbreitet, auch noch eine vertikale Achse gibt, die von unten nach oben führt: Von dem Jesusknaben ganz unten auf der zentralen Geburtsdarstellung kann man in einer senkrechten Achse über den Turm der „Limpurg“ auf dem Hügel hinauf zu Gottvater blicken. Aber der Blick wird noch weiter geführt: Fest verbunden mit der Retabel ist auch das spätgotische Kruzifix mit dem blutenden Christus, das als Abschluss der Retabel anzusehen ist.
So kreuzen sich die beiden Achsen sinnfällig und sinnvoll in dem leeren Raum über dem Jesuskind und über den beiden anbetenden Knaben. Der geheime Kreuzungspunkt, oder anders ausgedrückt: die Begegnung der beiden Geschichten, liegt also in einem „leeren“ Raum.
Es ist wie in der Musik: nicht die Töne bilden sie, sondern die Intervalle zwischen den Tönen. So ist es auch in der Malerei. Ich weise meine Zuhörer darauf hin, dass der bewusste Betrachter unserer Zeit möglichst auf solche „Zwischenräume“ achten sollte. Dort, im Zentrum des Bildes, „ereignet“ sich das Geistige.


Das kann man in der Altarretabel der Urbanskirche sehr schön auf der gemalten Tafel studieren, die die „Darstellung im Tempel“ erzählt: Der alte Simeon empfängt das Neugeborene und erkennt in ihm den Messias, auf den er sein ganzes Leben lang gewartet hat. Der Knabe, der vor dem weißen Tuch des Altars der Kirche, in der die Szene stattfindet, „schwebt“, streckt seine Arme nach der Mutter auf der linken Seite aus, dreht aber das Köpfchen nach rechts, um den alten Simeon anzuschauen: Die rechte Hand der Maria und das linke Händchen des Knaben berühren sich beinahe.
Aber nur beinahe.
Dabei entsteht zwischen den beiden Händen ein winziger Zwischenraum in der exakten Bildmitte. Zusammen mit dem Weiß des Altartuches ist dieser „leere“ Raum gleichzeitig das geistige Zentrum des Bildes, das seine „okkulte“ Wirksamkeit dann entfalten kann, wenn der meditierende Betrachter sich auf diesen Punkt konzentriert und durch ihn wie durch eine Tür in die Geistige Welt eintritt.
Rudolf Steiner führt in seinem Dornacher Vortrag zur „Geschichtlichen Symptomatologie“ (GA 185) vom 25. Oktober 1918 aus, dass das im Mittelalter innerlich erlebte „Mysterium von Geburt und Tod“ in unserer fünften nachatlantischen Kulturepoche, die im Jahre 1413 begann, zur Ausbildung der Bewusstseinsseele geführt hat (und noch führt).
Durch das Bewusstsein des „Stirb und Werde“, das man nur in einer durch das Diesseits geprägten Welt so stark erleben kann wie wir heutigen, wird das verinnerlichte Gefühl jener Zeit, in der sich die Menschen vor allem mit dem Jenseits „beschäftigten“, zu einem Anstoß, über die Endlichkeit unserer Existenz nachzudenken. Den Schmerz, dass der Mensch sterblich ist, haben bereits ausgewählte Heroen wie Orpheus, Ödipus  und Odysseus in der Antike, also am Beginn des vierten nachatlantischen Zeitalters, erfahren. Aber dieser Schmerz bringt heute jedermann zu der möglichen Erkenntnis, dass es etwas anderes jenseits des Todes geben muss, wenn das Leben nicht sinnlos gewesen sein soll.[11]  Der Schmerz bleibt auch dem konsequentesten Materialisten nicht erspart und jeder philosophisch gebildete Mensch weiß, dass es eben dieser Schmerz ist, der zur Erkenntnis führt.
Ein weiteres Rätsel der zentralen Darstellung im Mittelschrein kann ich bei meiner Führung auch nur berühren: Hinter Joseph erkennen wir eine Frau, die einen goldenen Mantel trägt und mit ihren Händen über dem Vater des Knaben eine behütende Gebärde ausführt, die der Mann, der beide Hände zu einer umhüllenden Geste zusammenführt, zu erwidern scheint. Jeder, der sich ein wenig mit mittelalterlicher Kunst auskennt, weiß, wie sprechend solche Gebärden sein können.



Mechthild Clauss interpretiert diese Person als Hebamme. Es gibt im Proto-Evangelium des Jakobus tatsächlich die Erzählung von zwei Hebammen, die unmittelbar nach der Niederkunft prüfen, ob Maria noch Jungfrau ist. Nur eine der beiden hat in dem apokryphen Evangelium einen Namen. Sie heißt wie die Mutter der Zebedäus-Söhne: Salome (siehe Math. 27, 56 und Markus 15, 40).
Auf einer Geburtsdarstellung des flämischen Meisters von Flemalle kann man tatsächlich die beiden Hebammen sehen, wie sie in eine Art Streitgespräch verwickelt sind. Auch sie „diskutieren“ im Rücken von Joseph über Marias Jungfräulichkeit. In der Urbanskirche fehlt die eine Hebamme. Die „übriggebliebene“ kann – wenn tatsächlich die Hebamme gemeint ist – nur die namenlose sein, die von Anfang an von der Jungfräulichkeit Marias überzeugt ist.[12]
Irritierend ist aber nicht nur, dass diese ungenannte Hebamme ausgerechnet hinter Joseph und nicht hinter Maria steht, sondern auch, dass sie so reich gekleidet ist und außerdem vor einem prächtigen, mit Zinnen bekrönten, goldenen Turm steht, der am rechten Bildrand am weitesten über die Landschaft im Hintergrund hinausragt.



Ich kann nicht glauben, dass es sich hier „nur“ um eine Hebamme handelt. Diese edle Frau hat – wie die beiden Hebammen auf der Tafel des Meisters von Flemalle – einen vornehmen Turban auf dem Haupt. Aber dieser „Turban“ lässt sie für mich eher verwandt erscheinen mit den drei „Königen“, die auf der Anbetungsszene nach Matthäus gleich rechts davon zu sehen sind und zum Teil ebenfalls Turbane tragen.
Wie schon durch die beiden blau und rot gekleideten Knaben an der „Krippe“ des Jesuskindes, erscheint mir diese als Hebamme gedeutete Gestalt auf ein Geheimnis hinzudeuten, das mit der Verschmelzung der beiden Familien zu einer hinweist.
Als die Lukas-Maria etwa zwölf Jahre nach ihrer Niederkunft stirbt, heiratet der Witwer, wie bereits angedeutet, die Matthäus-Maria, die auf der Retabel ja gleich in der anschließenden Darstellung zu sehen ist, sozusagen Rücken an Rücken mit ihrem zukünftigen Ehemann. Nicht eine reale Figur ist also meinem Empfinden nach die Frau hinter Joseph und vor dem Turm, sondern eine Imagination, eine Art Präfiguration dessen, was zwölf Jahre später geschehen wird.
Bei Gott, so will das Bild wohl sagen, sind alle Dinge möglich.
Gott ist hier auf dem zentralen Schrein gleich dreimal – einmal „real“ und zweimal symbolisch –abgebildet: deutlich erkennbar als Gottvater im Himmel über der Landschaft, gleichsam die fehlenden Engel vertretend, die das Gloria singen. Man kann aber Gott auch in dem goldenen Turm hinter der Frau in Anlehnung an den Psalm 61, Vers 4 sehen, wo es heißt: „Du bist meine Zuflucht[13], ein fester Turm gegen meine Feinde!“[14] Und schließlich ist vielleicht auch der Turm der Burg im Hintergrund ein Hinweis auf Gott, der damit wieder in seiner Trinität vertreten ist. Dieser mittlere Turm, der im Sinne der Dreifaltigkeit, bei der Gottvater im Himmel und Gottes Sohn auf Erden wirken, könnte dann ein Symbol für den Heiligen Geist sein, der zwischen Himmel und Erde vermittelt wie die Taube, die vom Himmel herabkommt.
Nun ist bekannt, dass mit der Burg auf dem Hügel die Schenkenburg gemeint ist, die sich direkt oberhalb der Urbanskirche erhob. Heute kann man sie nur noch als Ruine sehen. Zur Zeit der Entstehung der Altarretabel aber war die Stammburg der Schenken von Limpurg noch ein imposantes, die Landschaft dominierendes Gebäude mit Bergfried und Wohngebäuden. Auch der zentrale Bergfried war zinnenbekrönt, allerdings im Gegensatz zu dem goldenen Turm am rechten Bildrand nicht rund, sondern viereckig.
Durch diese Darstellung suggeriert also der Künstler, was damals durchaus üblich war, dass Bethlehem nicht nur eine Stadt im Heiligen Land ist, sondern dass auch im Limpurger Land ein Bethlehem zu finden ist. Die Heilsgeschichte wird dadurch für den gläubigen Christen aus der Ferne in die Nähe „geholt“.
Bethlehem ist also nicht nur im Innern der meditierenden Menschenseele, sondern überall da, wo sich auf der Erde fromme Christen zusammentun, um in ihren Gemeinden Gottesdienst zu feiern. In jeder Kirche des Landes kann das Jesuskind geboren werden, wenn der Heilige Geist wirkt. Deshalb feiert die Christenheit jedes Jahr von neuem Advent und Christgeburt.
Damit wäre die Frage, die über der Führung stand, in zweifacher Weise beantwortet worden.
Nun bleibt aber noch die Frage offen, warum es sich bei der Urbanskirche in Wahrheit um eine Marienkirche handelt, obwohl es durchaus einen Heiligen Urban gibt, dem Kirchen geweiht wurden.
Diese Namensgebung gehört meinem Empfinden nach zu einer Art Verschleierung des tieferen Geheimnisses, das diesen Platz und diese Kirche umgibt, als sollte der Unvorbereitete es nicht sofort enthüllen können.
Der Name der Kirche ist zunächst einmal ganz profan zu deuten, denn er geht hervor aus dem lateinischen Namen, der sich am Ende des 16. Jahrhunderts für die ursprüngliche Marienkirche eingebürgert hat. Die Kirche wurde damals gemäß der Quellen „Ecclesia sub urbana“, also „Vorstadtkirche“ genannt, weil sie in der Limpurger Vorstadt stand. Zusammen mit der Burg und dem dazugehörigen Dorf wurde das Kirchlein im Jahre 1541 an die Freie Reichsstadt Schwäbisch Hall verkauft. Von da an hieß die Kirche, abgeleitet von S(ub) Urban(a), „Sankt Urban“.
Marienkirchen waren im Mittelalter sehr beliebt. Rund um Paris erheben sich wie in einem Kranz solche großartigen Kirchen, die auf Erden das Sternbild „Virgo“ nachzubilden scheinen. Sie tragen in Frankreich den Namen „Notre Dame“. Viele deutsche Marienkirchen heißen, wie in Nürnberg oder München, einfach „Frauenkirchen“, oder wie zum Beispiel in Antwerpen oder Zürich Liebfrauenmünster beziehungsweise Liebfrauenkathedrale.
Die Marienverehrung war im Mittelalter sehr ausgeprägt. Insbesondere der Mystiker Bernhard von Clairvaux hat sehr dazu beigetragen. Alle Kirchen der Zisterzienser sind Marienkirchen.



Die Marienverehrung ist die geistliche Seite der Frauenminne, die im 12. Jahrhundert unter der Ritterschaft aufkam und bis ins 14. Jahrhundert in zahlreichen Minneliedern besungen wurde. Es gibt in der Großen Heidelberger Liederhandschrift, auch Codex Manesse, genannt, eine Abbildung des Minnesängers Konrad I. von Limpurg, der vor seine Dame kniet.[15]
Das 12. Und 13. Jahrhundert ist die große Zeit der Frauenverehrung. Erst im 16. Und 17. Jahrhundert wurden Frauen als Hexen verfolgt.
Unser Kirchlein steht sozusagen am Wendepunkt zwischen den beiden Zeitaltern, an der Schwelle zur Neuzeit.
Bei der Marienverehrung ging es immer um die mystische Läuterung der Seele. Maria war nicht nur die Mutter, sondern auch die Braut Christi, die den Betenden zum Bräutigam geleitete. Dabei war sie zugleich Magd, wie bei Lukas, und Madonna, wie bei Matthäus. Die Magd trug blau, die Madonna oft rot, wie zum Beispiel in dem Gemälde „Madonna im Rosenhag“ von Martin Schongauer, das in der Colmarer Dominikanerkirche bewundert werden kann.



Die Magd war das unschuldige Mädchen, die Madonna die Herrin im Haus.
Beide Seiten der Frau konnten zum Beispiel in den zahlreichen Darstellungen der Schutzmantelmadonnen zusammenkommen. So trägt die Haller Holbein-Madonna eine blaue Tunika und einen leuchtend  roten Gürtel, der über ihrem Schoß geknotet ist und so ein „Y“ bildet, ein altes hermetisches Symbol.[16]



Die mystische Marienverehrung hat sich im Laufe der Neuzeit gewandelt. Im 20. Jahrhundert zeigte Rudolf Steiner Wege auf, die auf moderne Weise zum „Bräutigam“ führen. Dabei spricht er von zwei Schulungswegen, die in jeweils sieben Stufen über die „Katharsis“ (Reinigung) und die „Erleuchtung“ zur „Einweihung“ führen können: der christliche[17] und der Rosenkreuzerweg[18].
Ich hatte in meiner letzten Führung ein Zitat zum christlichen Schulungsweg ans Ende gestellt, in dem Rudolf Steiner von dem verwandelten und geläutertem Astralleib spricht: am 5. November 1906 sagte er in München über „Die Theosophie anhand des Johannes-Evangeliums“ laut der Mitschrift:
„Jetzt war (der Adept) ein neuer Mensch geworden. Man nannte nun den ganz vergeistigten Astralleib aus einem ganz bestimmten Grunde mit einem ganz besonderen Namen: „Jungfräulich“ nannte man diesen Astralleib, die „Jungfrau Sophia“. Und den Ätherleib, der aufnimmt, was die Jungfrau Sophia in sich trug, nannte man den „Heiligen Geist“. Und das, was aus beiden entstand, das war der „Menschensohn“. Der Verkündigung und Geburt des Jesus von Nazareth liegen diese Mysterieninhalte zugrunde.“[19]





[1] Die Getsemaneh-oder Ölberg-Szene, wo Jesus Schweiß und Blut schwitzt, ist fast an jeder Kirche zu sehen.
[2] Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, 8. Auflage 1975, S 97
[3] Matthäus, Markus und Lukas sprechen nicht von einem „Kriegsknecht“ wie Johannes, sondern von einem Hauptmann, der blind war und durch einen Tropfen des Blutes, der auf seine Augen fiel, sehend wurde und ausrief: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (Markus 15, 39). Die Legende gibt dem Hauptmann sogar einen Namen: Longinus. Siehe Legenda Aurea „Von Sankt Longinus“, S 235. Die Kirche feiert ihn am 15. März.
[4] Über diese „Provinz“ berichtete am gestrigen Freitag Annette Krause in der Sendung „Expeditionen in die Heimat“ im dritten Programm (Südwest drei). In der Sendung kam natürlich auch der „Visionär“ Rudolf Bühler zu Wort, der erklärt, dass er seinen Namen von dem Flüsschen Bühler hat, die das Limpurger und das Hohenloher Land von Süden nach Norden durchfließt und bei Geislingen in den Kocher mündet.
[5] Es beginnt so: „Zu Limpurg auf der Feste/ Da wohnt ein edler Graf,/ Den keiner seiner Gäste/ Jemals zu Hause traf. / Er trieb sich allerwegen/ Gebirg und Wald entlang, /Kein Sturm und auch kein Regen/ Verleidet‘ ihm den Gang.“ Schließlich trifft der durch die Wälder streifende Graf auf den Hohenstaufen Kaiser, der ebenfalls auf der Jagd ist und ihm den Speer abnehmen will. Der Graf von Limpurg antwortet: „‘Herr Kaiser, wollt vergeben!/ Ihr macht das Herz mir schwer. Lasst mir mein freies Leben/ Und lasst mir meinen Speer!“ Darauf sagt der Kaiser: „Mit dir ist nicht zu streiten,/ Du bist mir allzu stolz,/ Doch führst du an der Seiten/ Ein Trinkgefäß aus Holz:/ Nun macht die Jagd mich dürsten,/ Drum tu mir das Gesell,/ Und gib mir eins zu bürsten/ Aus diesem Wasserquell!‘ Die Ballade endet versöhnlich, nachdem der Kaiser aus der Schale so köstliches Wasser getrunken hat, dass er vermeinte, es sei Wein: „Dann fasst der schlaue Zecher/ Den Grafen bei der Hand:/ ‚Du schwenktest mir den Becher/ Und fülltest ihn zum Rand,/ Du hieltest mir zum Munde/ Das labende Getränk:/ Du bist von dieser Stunde/ Des deutschen Reiches Schenk!‘“ Unschwer sind in diesem Gedicht die beiden Gralsreliquien, Speer und Schale, wieder zu erkennen.
[6]Es handelte sich also für die, die mehr schildern wollten den Jesus von Nazareth und auch nur ihn schildern konnten (Matthäus und Lukas), darum, zu zeigen, wie das Blut von Anfang an herrunterrann durch die Generationen. Wichtig war es ihnen, zu zeigen, dass im Joseph, dem Vater des Jesus von Nazareth, lebte das Blut, das durch die Generationen herunterfloss. Hier würde es natürlich, wenn wir ganz esoterisch sprechen könnten, notwendig sein, über den Begriff der sogenannten „Unbefleckten Empfängnis“ zu sprechen, der "Conceptio Immaculata“, der aber nur im allerengsten Kreise erörtert werden kann. Aber er gehört zu den tiefsten Mysterien, die es überhaupt gibt, und die Missverständnisse, die sich an diesen Begriff knüpfen, rühren davon her, dass die Menschen nicht wissen, was überhaupt unter der „Conceptio Immaculata“ verstanden werden muss. Die Menschen glauben, dass keine Vaterschaft da wäre. Das ist es nicht, sondern eine viel tiefere, geheimnisvolle Sache liegt dahinter; und mit dem, was dahinter liegt, ist gerade dasjenige vereinbar, was die anderen Evangelien zeigen wollen, dass Joseph der Vater ist.“
Rudolf Steiner, 12. Vortrag in „Das Johannes-Evangelium“ vom 31. Mai 1908 (Das Wesen der Jungfrau Maria und der Heilige Geist)

[7] Luk. 2, 7
[8] Math. 2, 11
[9] „Bevor aber dieses geschah, hatte der Jesus von Nazareth noch ein wichtiges Gespräch mit derjenigen Persönlichkeit, die wir als seine Zieh- oder Stiefmutter kennen. Wir wissen ja, dass die Mutter jenes nathanischen Jesus, der in seinem zwölften Jahre die Individualität des Zarathustra in sich aufgenommen hatte, das heißt also die wirkliche leibliche Mutter des nathanischen Jesus, gestorben war bald, nachdem dieser Jesusknabe den Zarathustra, der in dem anderen Jesusknaben verkörpert war, in sich aufgenommen hatte, so dass also deren Seele längst in der geistigen Welt war. Wir wissen auch aus früherern Vorträgen verflossener Jahre, dass der Vater des anderen, des salomonischen Jesusknaben, gestorben war, und dass aus den beiden Familien der beiden Jesusknaben eine einzige Familie in Nazareth geworden war, innerhalb welcher der Jesus mit seinen Geschwistern und mit der Zarathustra-Mutter zusammen war. Wir wissen, dass der Vater des Jesus von Nazareth, als dieser etwa im vierundzwanzigsten Jahre von einer größeren Wanderung zurückkam, gestorben war, und dass nun der Jesus von Nazareth allein mit seiner Mutter, der Zieh- oder Stiefmutter, lebte. Im Allgemeinen muss gesagt werden, dass diese Zieh- oder Stiefmutter sich nur langsam ein Gemütsverständnis, aber eben nach und nach ein tiefes Gemütsverständnis für alle die tiefen Erlebnisse aneignete, welche der Jesus von Nazareth durchmachte. Es wuchsen gewissermaßen im Laufe der Jahre die Seelen, die des Jesus von Nazareth und die der Zieh- oder Stiefmutter, ineinander.“
Rudolf Steiner, das Fünfte Evangelium, Berlin, 18. November 1913 (GA 148, S 138f)

[10] Der 61. Sinnspruch aus dem Ersten Band des „Cherubinischen Wandersmann“ lautet: „Wird Christus tausendmal zu Bethlehem gebohrn/ und nicht in dir; du bleibst doch ewiglich verlohrn.“
[11] „Daher ist es so unendlich wichtig, dass in diesem Zeitalter der Bewusstseinsseele der Mensch sich über Geburt und Tod im wahren Sinne, das heißt im Sinne der wiederholten Erdenleben, aufklärt …“ (R. Steiner am 25. Oktober 1918, GA 184, S 102)
[12] „Und die Hebamme ging mit ihm (Joseph) hin. Und sie standen an dem Platz, wo die Höhle war, und siehe, eine lichte Wolke hüllte die Höhle in Schatten. Da sagte die Hebamme: ‚Erhaben ist heute meine Seele. Denn meine Augen haben Wunderbares gesehen; denn für Israel ist Heil geboren worden.‘ Und sogleich verzog sich die Wolke aus der Höhle, und es erschien ein gewaltiges Licht in der Höhle, so dass unsere Augen es nicht ertragen konnten. Und nach kurzer Zeit verschwand jenes Licht, bis das Kind zu sehen war; und es kam und nahm die Brust seiner Mutter Maria. Und die Hebamme schrie auf und rief: ‚Groß ist der Tag heute für mich, dass ich dieses neue Schauspiel habe sehen dürfen!‘ Und die Hebamme verließ die Höhle. Da begegnete ihr Salome, und sie sagte zu ihr: ‚Salome, Salome! Ein neues Schauspiel habe ich dir zu erzählen: eine Jungfrau hat geboren, was doch ihre Natur gar nicht erlaubt!‘ Da sagte Salome: ‚So wahr der Herr, mein Gott, lebt, wenn ich meinen Finger nicht anlege und ihren Zustand untersuche, so glaube ich nicht, dass eine Jungfrau geboren hat.‘“ (Proto-Evangelium des Jakobus in: Erich Weidinger, Die Apokryphen – Verborgene Bücher der Bibel, Pattloch Verlag 1988, Nachdruck im Weltbild-Verlag, S 442 f)
[13] Siehe Anmerkung 7
[14] Rainer-Maria Rilke kann später in einem seiner bekanntesten Gedicht ebenfalls Gott mit einem Turm vergleichen, wenn er sagt: „Ich kreise um Gott, um den uralten Turm/ und ich kreise jahrtausendelang,/ und ich weiß noch nicht, /bin ich ein Falke, ein Sturm,/ oder ein großer Gesang“
[15] Auf dem grünen Umhang liest man, schön verteilt, den weißen Buchstaben A, der für Amor (=Liebe) steht. Die Haltung ist demütig. Das Wappen mit den drei silbernen Keulen auf blauem Grund hängt in einem Baum. Die Dame trägt über einem roten Untergewand einen blauen Mantel. Grün ist die Farbe der Hoffnung, Weiß die Farbe der Reinheit, und Blau die Farbe der Treue und des Glaubens.
[16] Es deutet auf eine „Scheideweg-Situation“ hin, wie sie zum Beispiel der Göttersohn Herkules antraf, als er seinen Lebensweg antrat. Er sollte wählen zwischen dem steilen und steinigen Weg, der zum Heil führt und dem leichten und flachen Weg, der zu den Vergnügungen des Lebens (ver-) leitet. Herkules hat natürlich den ersteren gewählt. Auch Jesus von Nazareth stand einst am Scheideweg zwischen rot und blau. Ihm allein konnte es – durch die Jordantaufe – gelingen, die königliche und die priesterliche Linie in seinem Leben zu vereinen. Seitdem gibt es, richtig betrachtet, nicht mehr das „Entweder – Oder“, sondern das „Sowohl – Als auch“. Oder wie es im „Parzival“ heißt: Gott und der Welt gefallen, Rittertum und Mönchtum vereinen.
[19] GA 94, Siebenter Vortrag. Ganz ähnlich und noch ausführlicher spricht Rudolf Steiner am 31. Mai 1908 im letzten Vortrag des Hamburger Zyklus über das Johannes-Evangelium, GA 148.

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