Endlich komme ich dazu, ein wenig
von den wunderbaren Erlebnissen zu erzählen, die Andrea und ich in diesen
Sommerferien haben durften. Es waren eigentlich nur sieben Tage, aber die waren
so intensiv, dass ich mehr oder weniger die ganze restliche Zeit, also vier
Wochen, brauchte, um diese Erlebnisse zu verarbeiten.
Wir waren hauptsächlich auf den
Spuren der drei mittelalterlichen Kaiserdynastien unterwegs, der sächsischen
Ottonen, der fränkischen Salier und der schwäbischen Staufer.
Im Mittelpunkt aber stand die
Landesausstellung des Bundeslandes Sachsen-Anhalt in Naumburg über den „Naumburger Meister“. Wir tauchten in 350
Jahre mittelalterlicher Geschichte ein, in eine Geschichte, die im Jahre 919
begann und im Jahre 1268 endete.
Am 31. Juli 2011 machten wir
einen Tagesausflug zum Kloster Lorch und auf die Stammburg Hohenstaufen.
Vom 14. bis 17. August waren wir
in Wethau bei Naumburg bei Andreas Bruder Michael und seiner Lebensgefährtin
Kathrin zu Gast, besuchten die Landesausstellung und machten eine Rundreise zum
Kyffhäuser südlich und nach Quedlinburg nördlich des Harzes.
Am Wochenende vom 27. zum 28.
August waren wir in Ludwigshafen bei Fritz und Marianne zu Gast und besuchten
mit ihnen die beiden Kaiserdome zu Worms und Speyer am Oberrhein.
Um die Reiseeindrücke zu
vertiefen, las ich im Ausstellungskatalog über den Naumburger Meister, bei
Johannes Fried (Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 1) über die Ottonen, bei
Stefan Weinfurter über „Das Jahrhundert der Salier“ und in Johannes Lehmanns
„Die Staufer“. Keines der drei Bücher habe ich bisher ganz gelesen, immer nur
etwa das erste Drittel beziehungsweise die erste Hälfte (Salier), aber wenn ich
jetzt nicht schreibe, sondern weiter lese, sind die Ferien um und all die
schönen inneren und äußeren Erlebnisse werden vom Staub des Alltags zugedeckt.
Als Andrea und ich am
Sonntagnachmittag, den 14. August im Cafe im Domgarten eine kleine Pause von
unserem Besichtigungsmarathon im Naumburger Dom einlegten, kamen wir zunächst
ins Gespräch mit einem Dozenten für christliche Archäologie von der Universität
Marburg und später mit einem Pensionär, der an der Universität Münster
Philosophie studiert. Die beiden Herren, die mit ihren Frauen an unserem Tisch
Platz nahmen, waren nur zwei von vielen hundert interessierten Besuchern der
Landesausstellung. Schon von ihrer Erscheinung her beeindruckten sie uns. Beide
waren groß, hatten weiße Haare und freundliche, wache Gesichtszüge.
Es handelt sich um Menschen, die
offenbar – wie wir selber – interessiert
an Geschichte sind. Auf der anderen Seite sehen wir außerhalb der „Domfreiheit“
unzählige Menschen, die weniger Interesse für die Ausstellung und an der
Vergangenheit zu haben scheinen. Es ist vermutlich die überwiegende Mehrheit.
Dieser Kontrast zwischen einer
Minderheit von Geschichtsinteressierten und einer Mehrheit von Menschen, denen
Geschichte „egal“ ist, beschäftigt mich immer wieder und ich hatte in jenem
Augenblick eine Eingebung, an die ich mich auch jetzt noch erinnere:
Es ist mir, als seien diejenigen
Menschen, die staunend durch die Ausstellung wandeln und dadurch ihr
Geschichtsinteresse bekunden, wieder verkörperte Grafen, Bischöfe,
Ministerialen, also Leute, die im Mittelalter selbst „Geschichte“ gestaltet haben,
diejenigen aber, die „draußen“ ihren Alltagsgeschäften nachgehen und wenig mit
solch einer Ausstellung anfangen können, wieder verkörperte Bauern und Unfreie.
Die einen drinnen sind die Herren, die anderen draußen die Diener, die drinnen
sind die Herrschenden, die draußen die Beherrschten.
Es ist nun kurios zu erleben,
dass Andrea wie ihre Familie einerseits eher zu der Gruppe von Menschen gehört,
die achtlos an so einer Ausstellung vorbeigegangen wäre, wenn ich sie nicht
„mitgenommen“ hätte, dass ich andererseits aber gerade durch sie und ihre
Familie auf Naumburg und diese Ausstellung gestoßen bin…
Als wir am 21. und 22. Januar in
Wethau weilten, um Andreas Mutter, die am Sylvestertag des vorangegangenen
Jahres in einem Naumburger Krankenhaus verstorben war, die letzte Ehre zu
erweisen, hatte ich Zeit, den Naumburger Dom und vor allem seinen Westchor mit
den großartigen Stifterfiguren allein zu besuchen. Damals erfuhr ich zum ersten
Mal von der bevorstehenden Landesausstellung und mein Entschluss stand sofort
fest: in den Sommerferien werden wir an die Saale fahren.
Damals kaufte ich für 50 Euro den
Bildband „Der Naumburger Dom“ von Ernst Schubert (Text) und Janos Stekovics
(Fotos). Die Stifterfiguren waren zum Teil eingerüstet, weil die Vorbereitungen
für die Ausstellung bereits begonnen hatten. Dennoch fand ich an diesem
Vormittag die Ruhe, mich in die Stimmung dieses besonderen Raumes zu vertiefen.
Obwohl ich den Dom bereits 1995
zum ersten Mal und dann noch einige weiter Male besucht hatte, wurde mir erst
an diesem Tag bewusst, dass es sich bei den Statuen im Westchor um genau zwölf
Figuren handelt, acht Männern und vier Frauen. Dass es ausgerechnet zwölf
waren, die den Kirchenraum schmücken, ist an und für sich nicht verwunderlich.
Man kennt das. In der Regel handelt es sich dabei um die zwölf Apostel, wie zum
Beispiel in der gleichzeitig mit dem Naumburger Westchor in Paris durch König
Ludwig IX. den Heiligen errichtete Sainte Chapelle auf der Ile de la Cite.
Im Westchor des Naumburger Doms
stehen aber nicht die zwölf Apostel, sondern zwölf weltliche Herren und Damen!
Angeblich handelt es sich bei den
dargestellten Grafen, Markgrafen und Markgräfinnen um die Stifter des Domes,
die im Jahre 1249, als sie aufgestellt wurden, schon seit über 200 Jahren tot
waren. Ihre lebensvolle, geradezu naturnahe Erscheinung, zu der auch die zum
Teil erhaltenen Farben beitragen, lassen jedoch vermuten, dass mit diesen
Personen Menschen, die in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts wirklich
gelebt haben, gemeint sind. Natürlich kann es sich dabei nur um idealisierte
Darstellungen handeln. So lese ich im Katalog: „Ein vergleichbares komplexes
Bildprogramm findet sich in der ikonographischen Vielfalt und in der
inhaltlichen Verknüpfung der in dieses Programm integrierten Einzelthemen und
Medien weder in Frankreich noch andernorts.“ (Claudia Kunde, Katalog Band 2, S
976). Es handelt sich bei diesem „Sakralraum“ mit den zwölf Stifterfiguren um
etwas ganz und gar Einmaliges.
Schon im Januar erlebte ich die
geheimnisvolle Stimmung, die diese Figuren und der ganze Westchor ausstrahlen.
Ich musste bereits vor einem halben Jahr unwillkürlich an den Vortrag denken,
den Rudolf Steiner am 27. September 1911, also vor genau 100 Jahren, in
Neuchatel gehalten hat (GA 130). Dort schildert er, wie sich an „einem Ort in
Europa“, dessen Namen er noch nicht bekannt geben könne, um das Jahr 1250 zwölf
weise Männer versammelt hätten, um einen Jüngling einzuweihen, der zur Zeit des
Mysteriums von Golgatha gelebt hatte und sich in den „darauf folgenden
Inkarnationen durch demütiges Gemüt, durch inbrünstiges, gottergebenes Leben
(…) für seine Mission vorbereitet“ habe (GA 130, S 61 der Taschenbuchausgabe,
Dornach 2001). Dabei unterscheidet Rudolf Steiner zwischen sieben
Persönlichkeiten, die das Wissen der atlantischen Zeit an den Jüngling
weiterzugeben hatten, die er also mit den sieben heiligen Rishis gleichsetzt
und vier Männern, die das Wissen der vier ersten nachatlantischen Kulturepochen
vermitteln sollten. Außerdem gab es noch einen „Zwölften, (…) der besonders die
äußeren Wissenschaften zu pflegen hatte“.
Irgendwie will es mir scheinen,
dass Rudolf Steiner damals zwar das Wort „Männer“ für die zwölf benutzte, aber
in Wirklichkeit den Begriff „Meister“ im Sinne der Geheimwissenschaft meinte.
Vielleicht handelte es sich auch um „Meister“ im Sinne der äußeren damaligen
Wissenschaft, um „Magistri scholarum“.
Ich bin in der Zeit zwischen
Januar und August nicht dazu gekommen, meiner „Ahnung“ weiter nachzugehen und
setzte alles auf den Ausstellungsbesuch. Die innere Frage, die ich das
vergangene halbe Jahr bewegte, bis wir wieder nach Naumburg kamen, kann ich
heute so formulieren: Ist es möglich, dass der Ort, an dem der Jüngling
eingeweiht wurde, hundert Jahre nach der oben genannten Mitteilung Rudolf
Steiners, bekannt gegeben werden darf und dass die Ausstellung, die sich um
einen „europäischen Meister“ dreht, Teil davon ist? Hellhörig kann man werden,
wenn Eckhard (!) Fuhr in der „Welt“ vom 29. Juni 2011 die Ausstellung zu einem
Zeitpunkt, wo europäische Politiker um die Rettung des Euro ringen, unter dem
viel sagenden Titel „Europa hat seinen Meister gefunden“ bespricht.
Das Wort „Meister“ begegnet uns
während unseres Ausstellungsbesuches so oft, dass es schon fast gewöhnlich
wird. Seinen besonderen Klang müssen wir uns behutsam innerlich wieder
erarbeiten. Und das ist es, was ich mit diesen Zeilen versuchen will.
Auf den ersten Eindruck machen
die zwölf Stifterfiguren keinen sehr spirituellen Eindruck. Viele nehmen eine
beinahe kriegerische Haltung ein: Markgraf Ekkehard II. umschließt mit der
Linken fest den Griff seines Schwertes, auch der Markgraf Hermann und die
Grafen Thimo, Wilhelm, Dietrich und Konrad haben ihre Hände am Schwert, Graf
Dietmar scheint sein Schwert sogar soeben zu ziehen und Graf Syzzo hebt sein
Schwert mitsamt der Scheide bedrohlich in die Höhe, runzelt die Stirn und
öffnet den Mund, als wolle er jeden warnen, der ihm zu nahe kommt.
Die acht männlichen Stifter sind
also mit Schwertern bewaffnet, mit denen sie in jedem Augenblick den Kampf
beginnen können. Dabei sind die Hände, die zur Waffe greifen, jedes Mal völlig
unterschiedlich gestaltet. Dadurch entsteht in den unterschiedlichen
Griffgebärden eine Art Gestensprache.
Wenn man bedenkt, dass das
Schwert im Mittelalter nach Paulus (Eph. 6, 17) auch ein Symbol für „das Wort
Gottes“ war, dann kommt man der tieferen Aussage der Kunstwerke schon näher.
Nur zwei der acht Schwertträger
haben den Mund geöffnet und scheinen wirklich zu sprechen, aber ihr
Gesichtsausdruck und ihre Haltung sprechen mehr als Worte. Sie sind als
christliche Krieger dafür da, den Glauben gegen die Feinde des Christentums zu
verteidigen.
Ausgehend von den beiden Ritterfiguren am linken Portal des Südquerhauses der Kathedrale von Chartres, die die Ritterheiligen Theodor und Georg darstellen, stellt Helene Sanwald im zweiten Band des Kataloges (S 998ff) einen interessanten Zusammenhang zu den Tempelrittern und den Grabbildnissen in der Londoner Temple Church her. Sie erwähnt auch die damals in der Adelsgesellschaft sehr beliebten Gralsromane.
Damit kommen wir der tieferen Bedeutung der Stifterfiguren noch näher. Könnte es sich bei den „Modellen“ für die männlichen Stifterfiguren nicht um Mitglieder des Templerordens gehandelt haben? Immerhin weist die Ausstellung deutlich darauf hin, dass Steinmetzen, die im 13. Jahrhundert die Templerkapelle Iben südlich von Mainz errichtet haben, auch in Naumburg tätig waren, wie man aus identischen Steinmetzzeichen schließen kann.
Wenn der anonym gebliebene Naumburger
Meister, der zugleich Architekt und Bildhauer gewesen sein dürfte, der Leiter
einer weit gereisten Bauhütte war, die auch in Kontakt zu den Tempelrittern
gestanden hat, dann dürfte er über das esoterische Wissen verfügt haben, das
sowohl im Innern des Templerordens als auch im Inneren der mittelalterlichen
Bauhütten gepflegt und schließlich bis hin zur modernen Freimaurerei tradiert
wurde.
Unter den acht Männerfiguren ist
nur eine einzige, die einen Bart trägt: der Graf Syzzo, der so entschlossen sein
Schwert hebt und seine Gegner zu warnen scheint.
Graf Syzzo von Thüringen ist auch
der einzige Stifter, der eine identifizierbare Wappenfigur auf dem Schild
führt: den steigenden Thüringer Löwen. Er ist auch, wie schon erwähnt, der
einzige, der das Schwert wie ein Richter erhoben hat. Außerdem fällt auf, dass
Uta ausgerechnet in seine Richtung schaut.
Graf Syzzo, der als einziger den üblichen Aposteldarstellungen ähnelt, wurde zusammen mit Graf Wilhelm an einem besonderen Platz aufgestellt: die beiden Stifter stehen links und rechts des mittleren Fensters des Chorpolygons, das ja mit seinem Fünf-Achtel-Abschluss auf einen achteckigen Grundriss verweist, wie er am Dom von Meißen, dem letzten Werk des Naumburger Meisters, erhalten ist. Achteckgrundrisse kennt man in der Kunstgeschichte von den Nachbauten des „Heiligen Grabes“, von denen man im Konstanzer Münster ein hervorragendes Beispiel bewundern kann. Aber auch viele Templerkapellen basieren auf achteckigen Grundrissen wie zum Beispiel die wunderschöne Templerkirche von Eunate am spanischen Camino unweit von Puente la Reina.
Graf Syzzo, der als einziger den üblichen Aposteldarstellungen ähnelt, wurde zusammen mit Graf Wilhelm an einem besonderen Platz aufgestellt: die beiden Stifter stehen links und rechts des mittleren Fensters des Chorpolygons, das ja mit seinem Fünf-Achtel-Abschluss auf einen achteckigen Grundriss verweist, wie er am Dom von Meißen, dem letzten Werk des Naumburger Meisters, erhalten ist. Achteckgrundrisse kennt man in der Kunstgeschichte von den Nachbauten des „Heiligen Grabes“, von denen man im Konstanzer Münster ein hervorragendes Beispiel bewundern kann. Aber auch viele Templerkapellen basieren auf achteckigen Grundrissen wie zum Beispiel die wunderschöne Templerkirche von Eunate am spanischen Camino unweit von Puente la Reina.
Graf Syzzo hat im Rund der zwölf Figuren nach Ernst Schubert
„im Scheitel des Polygons in rechter Position“ (…) „den würdigsten Platz“ (S
104) erhalten. Die Mitte war dem Christus vorbehalten. In den Vierpässen der
Glasfenster des Westchores werden rechts von Christus der Erzengel Michael,
links von ihm der Erzengel Gabriel abgebildet, was der traditionellen Widmung
der Westtürme eines Domes entspricht. Über Syzzo, dessen Name eigentlich
Siegfried bedeutet, wacht also der Erzengel Michael.
Graf Wilhelm steht zur Linken
Christi unter dem Erzengel Gabriel. Er hebt sich durch seine Kopfbedeckung und
seine ruhige, nach innen gekehrte Körperhaltung deutlich von dem
leidenschaftlich „argumentierendem“ Grafen Syzzo ab. Seine Identifizierung ist
schwierig, denn auf seinem Schild steht nur: „Graf Wilhelm, der eine der
Stifter“. Bei allen anderen Stifterfiguren im Chorrund ist durch die
eindeutigen Inschriften eine Verwechslung ausgeschlossen. Hier aber wird nicht
mehr gesagt, als dass Graf Wilhelm ein Stifter war. Das gilt aber für alle elf
anderen auch. „Sein in den Umhang eingewickelter rechter Unterarm mit der zum
Hals geführten und ebenfalls von dem Gewand verdeckten rechten Hand ist so auffällig
und durch die künstlerische Komposition, durch den Verlauf der Gewandfalten
betont, dass eine besondere Bedeutung unterstellt werden kann. Einen festen
Anhaltspunkt dafür hat man aber bisher nicht gefunden.“ (Ernst Schubert, S
108). Wir haben es also auch hier mit einer rätselhaften Gestalt, die in ihrer
Haltung stark an die Figur der Uta erinnert, zu tun. Auch Wilhelm schaut in die
Richtung von Graf Syzzo.
Der Westchor des Naumburger Domes
setzt sich aus den fünf Seiten eines Achteckes und aus den drei Seiten eines
Quadrats zusammen. Die Stifterfiguren sind so aufgestellt, dass auf jeder Seite
sechs stehen, wobei immer drei im quadratischen Raum und drei im Chorpolygon
stehen. Dort, wo Polygon und Quadrat aufeinander treffen, in der
Scharnierposition sozusagen, stehen die Stifterpaare. Verständlich ist, dass
die beiden ranghöchsten Stifter, die Markgrafen Hermann und Eckehard II., mit
ihren Ehegattinnen gezeigt werden. Dadurch werden diese „Scharnierstellen“ auch
inhaltlich besonders hervorgehoben.
In diesen beiden Paaren hat der
Bildhauer seine Meisterwerke geschaffen. Auf diesen vier Stifterfiguren ruht
der Blick des Betrachters besonders lang. Die Blicke der vier Stifterfiguren
scheinen wiederum in einer engeren Beziehung zueinander zu stehen. Nur der
Blick der geheimnisvollsten der Figuren, der Blick der Uta, geht ganz woanders
hin. Sie schaut, wie bereits gesagt, in die Richtung von Graf Syzzo.
Dass wir die Namen der Stifter
kennen, verdankt die Wissenschaft einer Urkunde, die in der Bischofskapelle,
einem Raum, der sich südlich des Westchors im Anschluss an das Dormitorium
befindet und von dem aus man durch ein kleines Rundfenster auf die Nordseite
desselben, also auf Uta und Ekkehard, blicken kann, ausgestellt wird. Es ist
die „Urkunde 88“ des Domstiftsarchivs, ein „Schlüsselzeugnis für jegliche
Beschäftigung mit den Naumburger Stifterfiguren“ (Holger Kunde, Katalog Band 1,
Kapitel VIII, S 753ff). Allerdings werden in dieser Urkunde, die der damalige
Bischof Dietrich II. und sein Naumburger Domkapitel als „Spendenaufruf“ im
Jahre 1249 ausgestellt haben, nur elf „Erststifter“ (primi ecclesie nostre
fundatores) namentlich genannt, und zwar
in folgender Reihenfolge: Markgraf Hermann, Markgräfin Regilindis, Markgraf
Ekkehard, Markgräfin Uta, Graf Syzzo, Graf Konrad, Graf Wilhelm, Gräfin Gepa,
Gräfin Berchta, Graf Dietrich und Gräfin Gerburch. Es sind also sechs männliche
und fünf weibliche Stifter genannt. Im Dom befinden sich aber abweichend davon
acht männliche und nur vier weibliche Standbilder. Hier gibt es in diesem an
Rätseln reichen mittelalterlichen Gebäude
wieder ein Geheimnis zu lüften.
Markgraf Ekkehard II. und
Markgraf Hermann lebten im 10. Jahrhundert und waren Brüder. Sie waren die
Söhne des Markgrafen Ekkehard I., der nach dem Tode Kaiser Ottos III. nach der
Königskrone strebte, jedoch vorher ermordet wurde. Den beiden Markgrafen von
Meißen, die als Ekkehardiner die direkten Vorläufer der Wettiner sind und mit
den thüringischen Ludovingern verwandt waren, gestattete Konrad II., der erste Salier
auf dem Kaiserthron, im Jahre 1028, den Bischofssitz von Zeitz nach Naumburg zu
verlegen. Sie gelten also als die eigentlichen Stifter und haben deshalb an den
Ecksäulen hervorragende Positionen. Dabei gilt Markgraf Hermann auf der
helleren Südseite als der Fromme, Markgraf Ekkehard auf der dunklen Nordseite
als der Kriegerische.
Wir finden hier wieder einen
wichtigen Aspekt, den wir schon in der Gegensätzlichkeit zwischen Graf Syzzo
und Graf Wilhelm beobachtet hatten, nur dass die Rollen nun vertauscht sind:
der fromme Markgraf Hermann steht auf der Seite des energischen Grafen Syzzo,
der stolze Markgraf Ekkehard auf der Seite des besonnenen Grafen Wilhelm.
Der Architekt und Bildhauer
stellt offenbar zwei mögliche Geisteshaltungen einander gegenüber, die auch
Wolfram von Eschenbach in seinem etwa im Jahr 1210 vollendeten „Parzival“
thematisiert: der ideale Ritter will der Welt und Gott gleichzeitig dienen,
auch wenn das nicht immer leicht vereinbar erscheint, wie sein Weg von der
„tumbheit“ über den „zwifel“ zur „saelde“ im Epos beweist. Diese beiden
Lebenshaltungen wollte bereits Benedikt von Nursia innerhalb des Mönchtums
durch das „Ora et Labora“ seiner Mönchsregel zusammenbringen. Sie gehen zurück
auf die griechische Philosophie, die von dem „praktischen“ und dem
„theoretischen“ Leben spricht. Im Mittelalter drückte man es lateinisch aus und
nannte die beiden Geisteshaltungen „Vita activa“ und „Vita contemplativa“ Eine
schöne Plastik der beiden „Wege“ findet sich am Nordportal des Querschiffes der
Kathedrale von Chartres.
Der Orden der Tempelritter
versuchte am konsequentesten den Dienst an der Welt mit dem Gottesdienst zu
vereinen. Der Orden erhielt von Bernhard von Clairvaux, der auch den
Zisterzienserorden gegründet hat, eine mönchsähnliche Regel und gehörte von
daher zu der mittelalterlichen Gruppe der „oratores“. Da er aber gleichzeitig
als Ritterorden „Witwen und Waisen“ zu beschützen hatte, durften die Mitglieder
des Templerordens Waffen tragen und gehörten dadurch auch zur Gruppe der „bellatores“.
Man kann sie also mit Recht als „Mönchsritter“ bezeichnen.
Im Westchor des Naumburger Domes
geht es, wie wir gesehen haben, um die Vereinigung der beiden Gegensätze, die
in der „Tempellegende“ der Bauhütten bis auf das gegensätzliche Brüderpaar Kain
und Abel zurückgeführt wurden: Abel war der Fromme, dessen Opfer gottgefällig
war. Kain aber war der Ackerbauer und Erzvater aller Handwerke. Sein Rauch
stieg nicht zum Himmel auf und so erschlug er den Bruder.
Diese Geschichte erzählt
Trevrizent dem irrenden Parzival in der Klause bei der Fontane de Salvaesche an
jenem entscheidenden Karfreitag, an dem der „Zweifler“ seine Fehler erkennt und
die „Erneuerung“ erfährt, die ihn zum Gralskönigtum befähigen wird (Neuntes
Buch).
In der Tempellegende wird die
Geschichte von Kain und Abel weitergeführt bis in die Zeit Salomos. Salomo ist
ein Nachkomme Abels, Hiram Abiff, sein Baumeister, ein Spross aus der
Kainslinie. Beide Strömungen scheinen sich unversöhnlich wie Feuer und Wasser
gegenüber zu stehen und müssen doch für die Errichtung des Tempels
zusammenarbeiten.
Der Naumburger Dom ist den
Apostelfürsten Petrus und Paulus geweiht, ebenfalls zwei sehr gegensätzlichen
Patronen. Der Westchor ist in Wirklichkeit eine Marienkapelle. Hier scheinen sich unter dem Patronat der die
Gegensätze vereinenden Gottesmutter die beiden Strömungen aus der Tempellegende
vereinen zu wollen. Dennoch kommt es zwischen den zwölf lebensnahen Figuren zu
dramatischen Auseinandersetzungen. Hier werden keine leeren Posen eingenommen.
Die zwölf unterschiedlichen Gesichtsausdrücke verraten von innerer Anteilnahme
bis zu leidenschaftlicher Stellungnahme alle möglichen Positionen in einem
Streitgespräch zwischen zwei Parteien.
So kann ich mir durchaus eine
Einweihungssituation vorstellen…
Die geheimnisvollste Gestalt
unter den zwölf Stifterfiguren ist zweifellos Uta, die Gemahlin des Markgrafen
Ekkehard. Sie verhüllt ihre rechte Hand unter dem Mantel und schlägt den Kragen
hoch, als ob sie sich schützen wollte. Andererseits rafft sie mit der Linken
ihren Mantel demonstrativ zusammen, als wollte sie ihr kostbares Gewand
besonders hervorheben. Stolz und Demut scheinen in ihr einen inneren Kampf zu führen.
Die Lilienkrone auf ihrem Haupt zeigt an, dass die höchste christliche Tugend
den Kampf gewonnen hat.
Diese Frau ist die einzige Person
unter den zwölfen, die eine Königskrone trägt, obwohl sie im wirklichen Leben
als Markgräfin im Adelsrang noch unter Regilindis, der Gemahlin ihres Schwagers
Hermann auf der gegenüberliegenden Seite steht, die dem polnischen Herzogshaus
entstammt. Daran sieht man schon, dass es sich hier nicht um reale, lebende
Personen handelt, sondern dass jede der zwölf Figuren für eine „Idee“ steht.
Utas Krone deutet auf die Krönung
der Himmelskönigin hin. Der Westchor ist eben dieser Himmelskönigin, Maria,
geweiht. Von daher steht die „regina“ Uta der „regina coeli“ am nächsten.
Einerseits ist Uta die
geheimnisvollste unter den zwölf Stifterfiguren, andererseits ist sie aber auch
die populärste. Unzählige Male wurde sie abgebildet, sogar auf einer 25 Pfennig
Briefmarke aus dem Jahre 1957. Es gibt Romane und Theaterstücke, die von ihr
inspiriert sind. Der russische Esoteriker Nicolai Roerich hat sie im Jahre 1933
als „die Frau, die die Welt trägt“ auf den Gipfeln des Himalaya gemalt. 1937
verewigte der Amerikaner Walt Disney, der zwei Jahre zuvor eine Europareise
gemacht hatte, die Gesichtszüge der Uta in der bösen Stiefmutter seines
Trickfilms „Schneewittchen und die sieben Zwerge“. In jedem Kreuzworträtsel
wird die schönste Frau Naumburgs „mit drei Buchstaben“ gesucht: oft beginnt man
sogar das Rätsel mit UTA, weil sie inzwischen fast jeder kennt. Man kann also
bei dieser Frauenfigur mit Goethe von einem „öffentlich Geheimnis“ sprechen.
Von den zwölf Figuren tragen
sieben eine Kopfbedeckung, darunter drei der männlichen und alle vier Frauen.
Das ergibt eine Teilung von sieben zu
fünf. Nur wenn man die Konstellation der zwölf Stifter äußerlich exoterisch
betrachtet, gelangt man zu dem Zahlenverhältnis acht zu vier. Die Zahlen acht
und vier weisen auf das Kreuz hin und stehen damit auch in einem tieferen Sinne
für das christliche Mysterium. Sie stehen aber nur für die Todesseite. Die
Zahlenkombination sieben zu fünf dagegen hat eine ganz andere Qualität. Sie steht für Leben und Auferstehung. Sie enthüllt
daher die innere, esoterische Bedeutung der zwölf Stifterfiguren.
Verfolgt man diese Beobachtungen
weiter, so gelangt man zu der von Rudolf Steiner angegebenen Verteilung der
zwölf Meister bei der Einweihung des „dreizehnten“: die sieben Personen mit
Kopfbedeckungen entsprechen den sieben heiligen Rishis, die in gewisser Weise
die atlantische Weisheit aufbewahrten. Die vier bartlosen Männer ohne
Kopfbedeckung entsprechen den vier Vertretern der jungen nachatlantischen Menschheit
in ihren aufeinander folgenden Kulturepochen. Graf Syzzo, der einzige
Bartträger, ist der Mensch, „der im höchsten Maße die intellektuelle Weisheit
seiner Zeit hatte.“ (Rudolf Steiner, 27.09.191). Sein Schwert ist erhoben, aber
es steckt in der Scheide. Auf ihn richtet sich der Blick der „regina“ Uta. Er
scheint die ganze Zeremonie anzuführen, die hier veranstaltet wird.
Die Bischofsmetropole Naumburg
gehörte in der Mitte des 13. Jahrhunderts, als der anonyme „magister operis“,
der an der Baustelle der Krönungskirche der französischen Könige in Reims sein
Handwerk gelernt und am Dom des Erzbischofs und Erzkanzlers des „sacrum
imperium“ in Mainz hervorragende Zeugnisse seiner Kunst hinterlassen hat, dort
wirkte, zu einer vergleichsweise „jungen Kulturlandschaft“, während
„Nordfrankreich, das Rhein-Main-Gebiet und die Wetterau, jene Stationen, die
der Meister vor seiner Ankunft in Naumburg kennen gelernt hatte, (…) zu den
Kernregionen des einstigen Frankenreiches (…) gehörten“ (Stefan Tebruk, Katalog
Band 1, S 642) und deshalb in ihrer Kulturentwicklung weit fortgeschritten
waren.
Das Grenzgebiet zwischen
germanischen und slawischen Bevölkerungen wurde erst im 10. Jahrhundert unter
den sächsischen Kaisern dauerhaft christianisiert. Die Saale, an der Naumburg
liegt, war also lange ein Grenzfluss mit einer besonderen Ausstrahlung nach
Osten. Östlich des Flusses erstreckte sich das Markengebiet mit einer
deutsch-slawischen Mischbevölkerung. Hier herrschten die Markgrafen von Meißen,
deren Burg in der Domstadt Meißen an der Elbe noch weiter nach Osten gerückt
war.
Westlich der Saale befand sich
dagegen Thüringen, jene Landschaft zwischen Thüringer Wald und Harz, die zum
Kern des im 6. Jahrhundert von den Franken unterworfenen Thüringerreiches
gehörte. Thüringen war mit seinen Städten Jena, Weimar und Erfurt lange
die geographische und kulturelle Mitte
Deutschlands. Aus dieser Landschaft stammt, wie erwähnt, als einziger Stifter
der Graf Syzzo.
Schon Thüringen „zeigte (…) im
Hochmittelalter einen deutlichen Entwicklungsvorsprung vor den östlich der
Saale gelegenen Marken“ (Tebruk, a.a.O.). Während die Mark Meißen zu dem 968
von Kaiser Otto I. gegründetem Erzbistum Magdeburg gehörte, war Thüringen mit
seiner Zugehörigkeit zum Erzbistum Mainz viel stärker in der Mitte des Reiches
verankert. Naumburg befand sich also genau an dieser Grenze zwischen
„entwickeltem“ Thüringerland und „unterentwickeltem“ Meißener Land.
Spirituell gesehen hat die
deutsche Expansion in slawisches Siedlungsgebiet noch eine tiefere Bedeutung.
Die junge slawische Volksseele soll nach der Geisteswissenschaft der Träger der
sechsten nachatlantischen Kulturepoche werden. Damit ist das
„Wassermannzeitalter“ der New-Age-Bewegung gemeint. Rudolf Steiner sprach von
der Kulturepoche des „Geistselbst“.
Wenn man nun einen Ort sucht, an
dem jener Mensch eingeweiht wurde, der für die zukünftige Kulturepoche wie ein
Vorbereiter ist, dann liegt es nahe, solch einen Grenzort ins Auge zu fassen,
an dem die geballte westliche Kultur auf ihrem Zug nach Osten um das Jahr 1250
zu einem beeindruckenden Höhepunkt gelangte. Und damit fällt der Blick auf
Naumburg und seine Umgebung.
Rudolf Steiner sagt in seinem
Vortrag vom 27. September 1911, dass die zwölf Männer, die den dreizehnten
erzogen und schließlich einweihten, zwar „tief durchdrungen“ von „der Größe des
Christentums“ waren, aber „äußerlich als Feinde (…) der Kirche“ galten und er
führt aus: „Sie hatten als Ziel, eine Synthesis aller Religionen zu erlangen.“ In
diesen Worten leuchtet das Ideal des Wassermannzeitalters auf.
Wenn man von Christen, die der
römisch-katholischen Kirche kritisch gegenüber standen, spricht, so kommt man
wieder ins thüringische Land. Dort hatte zu Beginn des 13. Jahrhunderts
Elisabeth von Thüringen (1207 – 1231), die Gemahlin des Landgrafen Ludwigs IV., gelebt und gewirkt. Sie hielt sich mit ihrem Gemahl nicht nur auf der bekannten
Wartburg auf, in der im Jahre 1206, einige Jahre vor ihrer Ankunft, der
sagenhafte Sängerkrieg stattgefunden haben soll, sondern oft und gern auch in
der wenige Kilometer nordwestlich von Naumburg über der Stadt Freyburg an der
Unstrut thronenden Neuenburg, der östlichsten Burg der Landgrafen von
Thüringen.
Durch Elisabeth kam 1227 nach dem
frühen Tod ihres geliebten Ehemanns der franziskanische Impuls ins thüringische
Land. Die Elisabethenkapelle im Nordwestturm des Naumburger Doms und die dort
stehende spätromanische Steinplastik der bereits vier Jahre nach ihrem Tod
Heiliggesprochenen entstanden, bevor die Bauhütte des Naumburger Meisters in
der Stadt an der Saale eintraf und gilt als die erste Darstellung der Heiligen in der Kunstgeschichte.
Sie wirkt wie ein Vorbote des franziskanischen Geistes an diesem Ort.
Der neue Reformorden hatte einen
der größten spirituellen Meister der Christenheit zum Gründer: Franz von Assisi
(1181 – 1226). Die Mitglieder des ersten „Bettelordens“ wären zusammen mit
ihrem Haupt als Gruppierung der damals an verschiedenen Orten aufkommenden
Armutsbewegung beinahe, wie die südfranzösischen Katharer oder Waldenser, von
der römischen Kirche zu Ketzern erklärt worden, wenn der Papst Innozenz III.
nicht jenen berühmten Traum von der einstürzenden Lateranbasilika gehabt hätte,
die durch Franz rechtzeitig abgestützt wurde, wie es Giotto in einem seiner
Fresken in der Oberkirche von Assisi so schön dargestellt hat.
Schon zuvor war mit den
Zisterziensern ein bedeutender Reformorden in die unmittelbare Nähe Naumburgs,
in das wenige Kilometer südwestlich gelegene (Schul-) Pforta gerufen worden.
Der Neubau der Klosterkirche in der Mitte des 13. Jahrhunderts (Grundsteinlegung
am 21. März 1251) deutet ebenfalls auf die leitende Hand der Werkstatt des
Naumburger Meisters hin, wie im ersten Band des Kataloges von Christoph
Brachmann („Der gotische Neubau der Zisterzienserkirche Pforte“, S 663ff)
ausgeführt wird.
Die Naumburger Bischöfe meinten
es vermutlich also ernst mit dem Christentum, das durch selbstherrliche Kirchenfürsten
immer wieder in die Gefahr der Veräußerlichung geriet und deswegen immer wieder
„reformiert“ werden musste. Sie „bauten die Pfarrseelsorge in ihrer Diözese auf
und hatten damit einen wesentlichen Anteil an der vertieften Christianisierung
und kirchlichen Durchdringung dieser deutsch-slawischen Kontaktzone“ (Tebruk,
Katalog Band 1, S646).
Dass es sich bei dem Meister von
Naumburg um einen Christen handeln könnte, der „als Feind der Kirche“ angesehen
wurde, vertrat 1952 der protestantische Theologe Paulus Hinz. Er rechnete ihn
der „Sekte“ der Waldenser zu.
Ausgehend von dieser These
erschien 1955 in der damaligen DDR der Roman „Der Ketzer von Naumburg“ von
Rosemarie Schuder, der bis heute unzählige Male aufgelegt wurde und im
Book-Shop des Domes immer wieder nachbestellt werden musste, weil er „wegging
wie warme Semmeln“.
Die Aussage Rudolf Steiners, dass
die zwölf Eingeweihten, die sich der Erziehung des Jünglings annahmen, „Feinde
der Kirche“, also Ketzer gewesen seien, wird durch den großen Erfolg des Romans
auch in Teilen der nicht-anthroposophischen Öffentlichkeit zumindest für den geheimnisvollen „Meister
von Naumburg“ gestützt.
Der DDR-Kunsthistoriker Richard
Hamann hat im selben Jahr, in dem „Der Ketzer von Naumburg“ veröffentlicht
wurde, aufgezeigt, dass es Parallelen zwischen der Passionsdarstellung auf dem
Fries am dreiteiligen Westportal der südfranzösischen Kirche Saint Gilles du
Gard und der des Naumburger Meisters am Westlettner des Naumburger Domes gibt
und wollte dadurch eine Verbindung des Meisters nach Südfrankreich beweisen.
Die südfranzösische Provence und
die Languedoc waren im 12. und 13. Jahrhundert die Regionen, in denen neben
Italien eine neue Rückbesinnung auf die Wurzeln des Christentums begonnen
hatte. Franz von Assisi durchwanderte den damals blühenden Kulturraum
Südfrankreichs, die Katharer wurden vom Grafen von Toulouse hofiert, die
Waldenser hatten ihr Zentrum in der reichen Kaufmannsstadt Lyon und der Gründer
des Dominikanerordens, der Spanier Dominikus von Gusman versuchte, die
Ansichten der Ketzer in theologischen Disputationen zu widerlegen.
Weil der spanische Prediger mit
dem „Wort“ nicht weiter kam, griffen die Ritter zum Schwert. So kam es zum
ersten und einzigen Kreuzzug, den Christen gegen Christen führten. Im Jahr 1209
rief die römische Kirche ein Heer von französischen Rittern und Baronen
zusammen und leitete bis 1229 den blutigen „Kreuzzug gegen die Albigenser“.
Am längsten konnte sich die
Pyrenäen-Festung Montsegur halten. Eine Armee von 8000 Kreuzfahrern erschien in
den ersten Maitagen des Jahres 1243 am Fuße des unzugänglichen Gipfels. Der
Widerstand der Burgbewohner wurde erst nach einer mehrmonatigen Belagerung
gebrochen. Am 16. März 1244 wurden die 210 Ketzer auf einem gigantischen
Scheiterhaufen auf einem Feld ("camp des cramats") vor dem Burgberg bei lebendigem Leib verbrannt.
Ich erwähne dies, weil es immer
wieder Schriftsteller gibt, die solch geheimnisvolle Begebenheiten wie die
Einweihung des Jünglings in das Gebiet der Pyrenäen verlegen und sie in
Verbindung zu den Katharern bringen wollen.
Bereits in den Dreißiger Jahren
behauptete Otto Rahn, dass der Kreuzzug gegen die Albigenser in Wirklichkeit
ein „Kreuzzug gegen den Gral“ gewesen sei. Die Burg Montsegur identifizierte
Otto Rahn mit der bei Wolfram von Eschenbach „munsalvaesche“ genannten
Gralsburg. Ausführlich ging Otto Rahn auf die von Burg zu Burg ziehenden
südfranzösischen Troubadoure ein.
Die englischen Autoren Lincoln,
Baighent und Leigh machten in ihrem Bestseller „Der Heilige Gral und seine
Erben“ eine Bruderschaft aus, die ein von der Kirche als Sakrileg angesehenes
Geheimnis zu bewahren hatte und ließen viele Fäden in dem südfranzösischen Dorf
Rennes-Le-Chateau zusammenlaufen.
Zuletzt schilderte die
australische Schriftstellerin Adriana Koulias in ihrem 2004 erschienenen Roman
„Temple of the Grail“ (deutsch: 2007) im Stile von Umberto Ecos „Name der Rose“
genau jene Einweihung, von der Rudolf Steiner spricht. Sie verlegt sie in ein
Zisterzienserkloster in Sichtweite des Montsegur, wo in unterirdischen
Geheimgängen zwölf Männer, welche „die Stillen“ genannt werden, einen Jüngling
erziehen und bestimmte Rituale an ihm vollziehen.
Das ist nicht verwunderlich.
Auch die Pyrenäen sind ein
Grenzland. Das Reich Karls des Großen erstreckte sich von den Pyrenäen bis zur
Elbe. Wie sich an der Elbe germanische und slawische Bevölkerung durchmischen,
trafen seit der Westgotenzeit in Südfrankreich und Nordspanien romanische mit
germanischen Volkschaften aufeinander und vermischten sich.
Geisteswissenschaftlich
ausgedrückt war der Pyrenäenraum dafür prädestiniert, von der vierten
nachatlantischen Kulturepoche, der griechisch-lateinischen, zur fünften
nachatlantischen Kulturepoche, der germanisch-europäischen überzuleiten. Hier
war im Mittelalter lange Zeit die Grenze zwischen christlicher und islamischer
Kultur. Die damals viel fortgeschritteneren Moslems übermittelten den Christen
die „arabischen“ Ziffern und die exakte Naturwissenschaft, die Grundlagen für
unser „fünftes“ Zeitalter.
An einem Pyrenäenpass spielt das
altfranzösische Rolandslied, das der Pfaffe Lamprecht im 12. Jahrhundert ins
Mittelhochdeutsche übertrug. An dieser Grenze spielt aber auch Wolfram von Eschenbachs
zweiter Roman, dessen Titel „Willehalm“ sich auf Wilhelm (Guillaume) von
Aquitanien bezieht.
Die Bischöfe Naumburgs gehörten
in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu den hervorragenden Reichsfürsten
und standen in der Auseinandersetzung der Päpste („welfische Partei“) und dem
Kaiser („staufische Partei“) auf der Seite des Stauferkaisers Friedrich II.
Die Staufer waren Anhänger eines
romfernen Christentums, wie es in den gleichzeitigen Gralsromanen vertreten
wurde. Auch der damals herrschende wettinische Markgraf Heinrich der Erlauchte,
der selber als Minnesänger auftrat und dem nach dem Tod Heinrich Raspes IV.,
des letzten kinderlosen Ludowingers, im Weißenfelser Vertrag von 1249 die
Landgrafschaft Thüringen zufiel, war ein Parteigänger Kaiser Friedrichs,
heiratete doch sein Sohn Albrecht die
Kaisertochter Margarethe, die den Wettinern als Mitgift das staufische
Reichsgut im Pleißenland (Altenburg, Chemnitz, Zwickau) einbrachte.
Unter Heinrich dem Erlauchten
„setzte jener glanzvolle Aufstieg des Hauses ein, der als erste große Blütezeit
der wettinischen Herrschaft im mitteldeutschen Raum gilt“ (Tebruck, S 650). Im
Spätmittelalter gelangte das Haus Wettin zu seiner zweiten Hochblüte, als 1486
dem 23jährigen Friedrich dem Weisen (1453 – 1525) nach dem Tod seines Vaters
Sachsen und damit die Kurwürde zufiel. Die Wettiner wurden ab 1521, als der
Kurfürst Martin Luther (1483 – 1546) auf die Wartburg bringen ließ, zu
Förderern der Reformation. Sachsen-Anhalt gilt bis heute als das „Land der
Reformation“.
Hervorzuheben unter den
Naumburger Bischöfen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind besonders zwei
Persönlichkeiten: der Bischof Engelhard (1206 – 1242) und der Bischof Dietrich II. (1243 – 1272).
Bischof Engelhard stammte
höchstwahrscheinlich aus einem schwäbischen Adelsgeschlecht und war ein treuer
Ratgeber Kaiser Friedrichs II, den er zweimal, 1217/18 und 1227/28, bei
Kreuzzügen ins Heilige Land begleitete. Unter ihm wurde der Neu- und Umbau des
Naumburger Domes 1213 begonnen. Der weit gereiste Bischof war 1233 auch in
Ellwangen, wo er die neu erbaute spätromanische Sankt-Vitus-Basilika weihte.
Unter ihm fand 1230 auch der lange währende Konflikt zwischen Zeitz und
Naumburg ein Ende, der mit der Verlegung des Bistums 1028 begonnen hatte.
Sein Nachfolger, Bischof
Dietrich, war ein Halbbruder des wettinischen Markgrafen Heinrich des
Erlauchten. Der ehemalige Domprobst wurde nach der Intervention des Markgrafen
beim Pabst 1243 auf den Bischofsthron gehoben, obwohl dieser dem ursprünglich
vom Domkapitel zum Bischof gewählten angesehenen und gelehrten Magister Peter
von Hain zustand, der aber damals in Paris weilte. Obwohl wir nicht viel mehr
aus dieser Zeit wissen, kann man ahnen, dass hier innerhalb der Kleriker des
Domkapitels zwei Parteien entstanden, die gewiss auch unterschiedliche
Auffassungen vom Christentum hatten.
Peter von Hain war einer von
sechs Domherren der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, von denen wir wissen,
dass sie an einer Universität studiert hatten.
Damals gab es nur zwei Universitäten
in Europa: in Italien die vorwiegend auf römisches Recht spezialisierte
Universität von Bologna und in Frankreich die weithin berühmte Universität von
Paris, die neben der Artistenfakultät auch die drei anderen Fakultäten –
Theologie, Philosophie und Medizin – umfasste, und an der Studenten aus vier
„Nationen“ studieren konnten. Enno Bünz versucht im ersten Band des Kataloges
(S 700 – 710) nachzuweisen, dass Peter von Hain bereits in den 1230-er Jahren in
Paris studiert und dort den Magister-Titel erhalten hat.
Außer Peter von Hain taucht in
einer Urkunde aus dem Jahre 1246 ein weiterer namentlich genannter „magister“
in Naumburg auf: es handelt sich um den „magister Iohannes dictus Dialectica“,
einen geheimnisvollen Mann, der allerdings nicht dem Domkapitel angehörte.
Die Häufung des Magistertitels zu
jener Zeit an der Saalestadt „mag (…) als Reflex eines intellektuellen Klimas
unter den Domherren zu verstehen sein, die noch vor der Mitte des 13.
Jahrhunderts einen europäischen Meister der Bildhauerkunst nach Naumburg geholt
haben“ (Bünz, a.a.O. S 708).
Die alten Domschulen waren bis zu
Beginn des 13. Jahrhunderts die einzigen Institutionen, die zu einer Zeit, als
nicht einmal die Mehrzahl der Geistlichen lesen und schreiben konnte, im Rahmen
der sieben Freien Künste Bildung vermittelten. Die berühmteste dieser
Domschulen war die Schule von Chartres. An dieser Schule lehrten so berühmte
„magister“ wie Johannes von Salisbury, Thierry von Chartres, Bernhardus
Sylvestris und vor allem der große Alanus ab Insulis. Ihre Lehren standen ganz
in der Tradition Platos.
Die Platoniker gingen von Ideen
aus, die sie durchaus noch als reale Wesen wahrnahmen und zum Beispiel als
weibliche oder männliche Gottheiten beschrieben. Eine wichtige Stellung in
diesem Kosmos der platonischen Ideen nahm zum Beispiel die Göttin „natura“ ein.
Solche platonischen Domschulen gab es nicht nur in Frankreich, sondern auch im
Gebiet des „heiligen“ ostfränkischen Reiches, so zum Beispiel in Hildesheim
oder in Gandersheim, wo im 10. Jahrhundert die berühmte Nonne Roswitha wirkte.
In der ersten Hälfte des 13.
Jahrhunderts lösten sich die Lehrer der Domschule an der Kathedrale Notre Dame
von Paris aus dem Zugriff des Bischofs und gründeten die erste „freie“
Universität. Nun berief man sich nicht mehr auf die Ideen Platos, sondern
orientierte sich an den über den arabischen Kulturkreis, vor allem über
Spanien, nach Europa zurückgekehrten naturwissenschaftlichen Schriften des
Aristoteles.
Die Aristoteliker stellten zum
ersten Mal genaue Naturbeobachtungen an.
Einen Abglanz dieser Entdeckung
der Natur findet sich auch in den Schöpfungen der Bildhauer von Naumburg. Nun findet man
nicht mehr symbolisch stilisierte Formen von Fabelwesen, wie an den Kapitellen
in den dunklen Zonen der romanischen Dome. An den gotischen Kapitellen kann man
in Stein gehauene Pflanzenformen bewundern, die exakt nach Vorbildern aus der
Natur gearbeitet sind. Neben Weinlaub und Eichenblättern kann man zum Beispiel
Feldahorn-, Hahnenfuß- und Haselnussblätter klar voneinander unterscheiden.
Diese botanisch exakten Darstellungen setzen ein naturwissenschaftliches
Studium voraus, das nun nicht mehr von einer platonischen Göttin „natura“
ausgeht, sondern die sichtbare Natur zum Gegenstand der Untersuchung nimmt.
Aber auch das Thema der Bewegung
kann man in den Werken des Naumburger Meisters wieder finden. Die
Säulenheiligen am Westportal der Kathedrale von Chartres schauen noch ruhig und
regungslos in eine geistige Welt der Ideen. Innere und äußere Bewegung kommt
erstmals in den Steinfiguren der 1209 begonnenen Kathedrale von Reims, an der
unser Meister seine Lehrzeit verbrachte, zum Ausdruck. Bewegt sind alle zwölf
Stifterfiguren, und zwar in zweifacher Weise: einmal äußerlich, was man an der unterschiedlichen Weise sehen kann,
wie die männlichen Stifter zu ihren Schwertern greifen oder wie die weiblichen
ihre Gewänder raffen. Andererseits kann man die innere, seelische Bewegung bei
einigen Stifterfiguren, zum Beispiel bei Graf Wilhelm oder auch bei der
Markgräfin Uta in den Gesichtszügen erleben.
Ein ganz neuer Geist kommt mit
den Universitäten auf, der sich schnell in Europa verbreitet und heute unter
dem Namen „Scholastik“ zusammengefasst wird.
Diesen Geist dürfen wir auch bei
den sieben „Scholastikern“ von Naumburg voraussetzen, von denen zumindest einer
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an der neu gegründeten
Universität von Paris studiert hat.
Interessant ist nun, dass gerade
im Jahr 1243, als der Bischofswechsel in Naumburg stattfand, der „Meister von
Naumburg“ in die Stadt an der Saale kam. Hängt das vielleicht mit der
Abwesenheit Peter von Hains zusammen? Hat der „magister Petrus“ den „magister
operis“ berufen, oder zumindest empfohlen?
Im Jahre 1243 legte Kaiser
Friedrich II. in einer Urkunde fest, dass der östliche Teil der Landgrafschaft
Thüringen im Falle des kinderlosen Ablebens des Ludowingers Heinrich Raspe an
den Markgraf von Meißen übergehen sollte. Als der Landgraf 1247 tatsächlich
kinderlos starb, trat der Erbfall ein und Markgraf Heinrich III. von Meißen,
der „Erlauchte“, wollte das Lehen übernehmen, wogegen sich allerdings die Witwe
des letzten Ludowingers, Jutta, wehrte.
Erst im Vertag von Weißenfels
wurde Heinrichs Anspruch bestätigt. Man kann annehmen, dass der Halbbruder des
Naumburger Bischofs erst zu diesem Zeitpunkt die Herrschaft in Thüringen
antrat, auch wenn es in der Folge bis 1268 weiterhin zu Erbstreitigkeiten kam.
Das Jahr 1243 ist nach dem eben
Ausgeführten von besonderer Bedeutung für die Naumburger Kulturlandschaft: Es
trat ein Bischofswechsel ein, es wurde ein Thronwechsel vereinbart und der
Naumburger Meister kam in die Stadt an der Saale. In den folgenden sieben
Jahren schuf er als Architekt und Bildhauer einen Sakralraum, der
seinesgleichen in ganz Europa sucht: den Westchor des Domes.
In diesen sieben Jahren dürften
sich an einem Ort, den Rudolf Steiner 1911 in Neuchatel noch nicht bekannt
gegeben hat, dessen Bekanntgabe er jedoch „für eine nahe Zukunft“ ankündigte,
die zwölf „hervorragenden Individualitäten“ um die Erziehung des Jüngling
gekümmert haben. „Dieser Dreizehnte wuchs ganz und gar auf in der Pflege und
Erziehung der Zwölf, und er erhielt von jedem an Weisheit, soviel ihm jeder nur
geben konnte. Mit der größten Sorgfalt wurde dieser Dreizehnte erzogen, und es
werden alle Einrichtungen so getroffen, dass niemand als diese Zwölf einen
Einfluss auf ihn ausüben konnten. Er wurde von der übrigen Welt abgesondert“
(a.a.O. S 62).
Rudolf Steiner spricht auch von
einem „Kollegium der Zwölf“, ja von einer „hochgeistigen Loge“. Er deutet an,
dass die Pflege des Jünglings an einem verborgenen Ort stattgefunden haben
muss, „abgesondert von der Welt“. Das kann natürlich nicht in einer Stadt
gewesen sein, in der in diesen Jahren eine rege Bautätigkeit herrschte.
Der Westchor von Naumburg mit
seinen geheimnisvollen Stifterfiguren deutet zwar auf das Kollegium der Zwölf
hin, aber nur in verschlüsselter Form…
Die „sorgfältige Erziehung“ muss
woanders stattgefunden haben!
Und da geht unser Blick über die
Saale hinüber einige Kilometer nordwestlich. Dort erhebt sich über der Stadt
Freyburg die bereits erwähnte „Neuenburg“. Während die Wartburg an der
Westgrenze der Landgrafschaft Thüringens stand, bewachte die mächtige Neuenburg
die Ostgrenze.
Beide Burgen gehörten dem Landgrafen
Hermann I. von Thüringen, dessen „Musenhof“ zwischen 1180 und 1217, seinem
Todesjahr, die berühmtesten mittelalterlichen Dichter anzog. Walter von der
Vogelweide rühmte den Landgrafen vor anderen Herren und nannte ihn „der Dürnge
bluome“, die Blume von Thüringen.
Heinrich von Veldecke hat seinen
Eneasroman damals im Auftrag Hermanns gedichtet. Das Epos erzählt im Anschluss
an Vergil die Gründung Roms durch den Trojaner Aeneas in mittelhochdeutschen
Versen. Herbort von Fritzlar dichtete im Auftrag des Landgrafen „Das Liet von
Troye“, Albrecht von Halberstadt die mittelhochdeutsche Fassung von Ovids
„Metamorphosen“ und Wolfram von Eschenbach
den „Willehalm“.
Diese vier Dichtungen nennen den
Landgrafen ausdrücklich als Auftraggeber. Ob sie sich dabei auf der Neuenburg
oder vielleicht eher auf der berühmteren Wartburg aufgehalten haben, ist nicht
klar. Die Sage vom „Sängerkrieg“ lässt vermuten, dass die Wartburg das
eigentliche Zentrum war.
Das berühmte Bild vom Sängerkrieg
aus der großen Heidelberger Liederhandschrift zeigt den Landgrafen Hermann mit
seiner Gemahlin Sophia und die sechs „Sänger“ Heinrich der Schreiber, Walter
von der Vogelweide, Reinhard von Zweter, Wolfram von Eschenbach, Biterolf und
Heinrich von Ofterdingen. Außerdem ist der Magier „Klingsor von Ungarland“ zu
sehen, der damals (1206) auch die Geburt der Heiligen Elisabeth in seinem
Heimatland vorausgesagt haben soll, was dann auch ein Jahr später, am 7. Juli
1207 eintraf.
Auf dem Bild hält der Landgraf
Hermann ganz ähnlich wie Graf Syzzo im Naumburger Westchor das Schwert in der
Scheide hoch, was ihn als Richter im Streit kennzeichnet.
In der Sage geht es vornehmlich
um Heinrich von Ofterdingen, der in seinem Lied den Herzog von Österreich als
„Sonne“ über alle anderen Fürsten erhob.
Das löste den Streit aus und so beschlossen die Mitsänger, dass Heinrich
sterben sollte. Dieser begab sich jedoch in den Schutz der Landgräfin Sophia.
Nur mit Hilfe des von Ungarn herangeeilten Zauberers Klingsor konnte der Streit
geschlichtet werden und Heinrich von Ofterdingen behielt sein Leben.
Diesen Sänger Heinrich von
Ofterdingen machte Friedrich von Hardenberg (Novalis) wenige Jahre vor seinem
Tod zum Titelhelden eines unvollendeten Romans. Novalis schrieb einen „große(n)
Teil des Ofterdingen“ nach der Aussage seines Freundes Ludwig Tieck „an einem
einsamen Orte in der güldenen Aue in Thüringen, am Fuße des Kyfhäuser Berges“.
In dem Roman wird Kaiser Friedrich II. „als das Muster eines Königs“
dargestellt.
Novalis lebte seit 1796 mit
Unterbrechungen in der Stadt Weißenfels an der Saale, die im unmittelbaren
Umkreis von Naumburg, Freyburg und Schulpforta liegt. In dieser Stadt ist er am
25. März (Mariä Verkündigung) 1801 mit nicht einmal 29 Jahren gestorben.
Während die Wartburg bis heute im
Glanze der Öffentlichkeit steht, tritt die Neuenburg eher in den Hintergrund.
Nur Heinrich von Veldecke erwähnt die „Neuenburg an der Unstrut“ im Epilog
seiner „Eneit“.
Wie über die Wartburg hat sich
auch über die Neuenburg eine Sage gebildet, die die Brüder Grimm in ihre
Sagensammlung aus dem Jahre 1816 aufgenommen haben: „Die Mauer von Neuenburg“.
Als im Jahre 1172 der Kaiser
Barbarossa auf der Neuenburg weilte, soll er zwar den Bau der Burg gelobt, aber
die Mauer als allzu schwach bemängelt haben. Der damalige Landgraf Ludwig II.,
der „Eiserne“ soll ihm darauf erwidert haben, dass er innerhalb von drei Tagen
eine stärkere Mauer errichten lassen könne, wenn er nur wolle. Barbarossa war
ungläubig und widersprach: „Das wäre ja ein Wunder. Selbst wenn alle Bauleute
des Reiches hier versammelt wären, könnte das nicht gelingen.“
Der Landgraf schickte daraufhin
Boten zu allen Grafen und Herren Thüringens
und gebot ihnen, dass sie zur Nacht mit einem kriegerischen Aufgebot vor
die Neuenburg rücken sollten. Am Morgen standen die Männer mit ihren Schwertern
rund um den Graben der Burg. Der Landgraf weckte den Kaiser und sagte beim
Blick durch das Fenster zu ihm: „Treue Mannen sind die beste Mauer.“ Der Kaiser
musste zugeben: „Fürwahr, eine besserer Mauer habe ich zeit meines Lebens nicht
gesehen.“
Diese Sage von der lebendigen
Mauer aus treuen Vasallen zeigt etwas vom Charakter der Neuenburg an. Sie ist
nicht durch eine tote Mauer aus Stein, sondern durch eine „lebendige Mauer aus
treuen Mannen“ geschützt. Im Schutze einer solchen Mauer kann auch ein
„Programm“ ablaufen, das durch eine Mauer des Schweigens „von der übrigen Welt
abgesondert“ werden musste, wie es die Erziehung des Jünglings erforderte…
Natürlich könnte man sich auch
eine streng von der Welt geschiedene Mönchsklausur als Ort dieser Erziehung vorstellen,
wie es die Schriftstellerin Adriana Koulias in ihrem historischen Roman „Der
Tempel des Grals“ tut. Dann käme in unserer Region am ehesten das
Zisterzienser-Kloster Pforte in Frage, in dem ja in der Tat später berühmt
gewordene Persönlichkeiten „erzogen“ wurden, wie zum Beispiel im 18.
Jahrhundert der aus Quedlinburg stammende Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 –
1803) oder im 19. Jahrhundert Friedrich Nietzsche (1844 – 1900).
Es ist aber nicht anzunehmen,
dass alle zwölf Persönlichkeiten, die die Erziehung des besagten Jünglings zu
besorgen hatten, Mitglieder des Zisterzienserordens waren, was in jener Zeit
Voraussetzung für den Eintritt in die Klausur war.
Es ist viel wahrscheinlicher,
dass unter den zwölf zumindest einer war, der dem Dominikanerorden angehörte.
Rudolf Steiner sagt ausdrücklich von dem „Zwölften“: „Er besaß verstandesmäßig
das ganze Wissen seiner Zeit“ (a.a.O. S 61).
Mit dieser Charakterisierung kann
im Grunde nur einer gemeint sein: Thomas von Aquin (1225 – 1274). Der
Dominikaner, der in seiner „Summa Theologica“ das gesamte damals verfügbare
Wissen zusammenfasste, war 1245 nach Paris gekommen, wo er im
Dominikanerkloster Saint Jacques studierte. In den Jahren 1248 bis 1252 weilte
er als Schüler des Albertus Magnus in Köln. Von 1256 bis 1259 lehrte er an der
Universität von Paris. Wo er von 1252 bis 1256 war, weiß man nicht sicher.
Nun gibt es auf der Neuenburg
eine heute noch erhaltene Pfalzkapelle, die Georg Dehio „zum Besten und Bezeichnendsten
(…), was uns von der höfischen Kunst der Hohenstaufenzeit geblieben ist“
rechnet. Sie ist in den 1170er und 1180er Jahren als Doppelkapelle ausgebaut
worden.
Das Gewölbe der oberen Kapelle
wird von einer reich verzierten Mittelstütze getragen, die aus vier um einen
quadratischen Kernpfeiler gruppierten Säulen besteht. „Die Ornamentik von
Kapitellen und Kämpfern besitzt in entsprechenden Formen der Westvorhalle der
Kölner Andreaskirche sehr auffällige Parallelen. Nach dort verweisen auch die
bekannten ‚gezackten’ Gurtbögen, während die hängenden Schlusssteine schon fast
Allgemeingut der niederrheinischen Architektur jener Jahre waren. Sie belegen
(…) die engen familiären Kontakte der Landgrafenfamilie zum niederrheinischen
Raum“ ((DKV-Kunstführer Nr. 516: Schloss Neuenburg, vierte erweiterte Auflage
2008, S 18).
Diese Kapelle wird im Jahre
1458/59 als „Elysabethin Capelln“ bezeichnet und weist daher auf die Landgräfin
Elisabeth hin, deren Gebeine am 1.Mai 1236 im Beisein Kaiser Friedrichs II. und
Heinrichs Raspes IV. in Marburg „erhoben“ wurden.
Heinrich Raspe war der dritte
Sohn von Landgraf Hermann I. und seiner Gemahlin Sophia und somit der jüngere
Bruder Ludwigs IV., des Gemahls von Elisabeth, der 1227 in Bari an einer
ausgebrochenen Seuche gestorben ist. Heinrich Raspe war zunächst ein treuer
Vasall der Staufer, wechselte aber dann im Jahre 1243 auf Betreiben des Mainzer Erzbischofs
Siegfried III. von Eppstein (1194 – 1249) die Seiten. Dieser einflussreiche Kirchenfürst
„instrumentalisierte“ Heinrich, machte ihn zum Exponent der antistaufischen
Partei im Reich und ließ ihn in Veitshöchheim bei Würzburg 1246 zum Gegenkönig
wählen. „Siegfried III. war daher maßgeblich am Untergang der staufischen
Dynastie beteiligt“ (Wikipedia).
Innozenz IV., der 1243 zum Papst
gewählt worden war, bezichtigte
Friedrich II. auf dem allgemeinen Konzil von Lyon 1245 „des Eidbruchs, der
Häresie, des Sakrilegs und der Unterdrückung der kirchlichen Freiheit“
(Wikipedia) und belegte den Kaiser mit dem Kirchenbann. Der Kampf zwischen
„Guelfen“ und „Ghibellinen“ begann wieder und tobte vor allem in Italien.
Rudolf Steiner spricht mit Recht von einer „kurzen Zeit der Verfinsterung“ in
der Mitte des 13. Jahrhunderts.
In den Wirren, die ab 1243 im
Reich begannen, geriet die Neuenburg für ein paar Jahre aus dem Blickfeld der
großen Politik. Hier konnte nun die Erziehung des Jünglings ungestört
stattfinden, bevor 1249 mit Heinrich dem Erlauchten ein neuer Herr auf der Burg
einzog.
Am 13.Dezember 1250 starb
Friedrich II in eine Zisterzienserkutte gehüllt auf Castel Fiorentino in der
Nähe des Michaelheiligtums des Monte Gargano am Fieber. Obwohl Papst Innozenz
IV., der noch bis 1254 lebte, und seine Nachfolger die letzten Staufer weiter
verfolgten und keine Ruhe gaben, bis das Geschlecht mit dem letzten männlichen Nachkommen, dem
16jährigen Konradin, der am 29. Oktober 1268 auf dem Marktplatz von Neapel
hingerichtet wurde, ausgelöscht war, so war doch 1250 der stärkste Gegner der
römischen Kirche geschlagen. Etwa gleichzeitig endete die Zeit der geistigen
Verfinsterung.
Nun erst, „nach Ablauf der kurzen
Zeit der Verfinsterung“ (Rudolf Steiner, S 59) konnte die Einweihung des
Jünglings geschehen.
Die Obere Kapelle der Neuenburg
erscheint dafür als geeigneter Ort.
Sie wurde von kölnischen
Baumeistern errichtet, denn die Landgrafen von Thüringen hatten enge
Verbindungen zum Erzbistum. Die größte Stadt des Reiches war in der ersten
Hälfte des 13. Jahrhunderts wiederholt die Wirkensstätte des Albertus Magnus
(um 1200 – 1280).
Der im schwäbischen Lauingen an
der Donau geborene Albert trat 1223 in den Dominikanerorden ein und absolvierte
sein Noviziat im Kloster in der Stolkgasse in Köln, „wo er auch das Studium der
Theologie aufnahm und zum Priester geweiht wurde“ (Wikipedia). 1243 ging
Albertus für fünf Jahre an die Universität von Paris, wo er 1245 den Magister
in Theologie erwarb. Damals schloss sich ihm Thomas von Aquin als Schüler an.
1248 ging er mit Thomas nach Köln. „Unter ihm entwickelte die Kölner
Klosterschule einen hervorragenden Ruf und zog Studierende aus ganz Europa an.
(…) Wahrscheinlich war er am 15. August 1248 Zeuge der Grundsteinlegung des
Kölner Doms“ (Wikipedia). Seine Gebeine ruhen seit der Auflösung des
Dominikanerklosters in einer der zwölf großen romanischen Kirchen Kölns, in St.
Andreas.
Die Obergeschosskapelle von
Neuenburg ist ein beeindruckendes Bauwerk, so schlicht sie auch zunächst
erscheinen mag. Das Gewölbe wird von elf schwarz glänzenden Säulen getragen.
Dabei befinden sich vier Säulen in der Mitte und sieben an den Wänden. Die
zwölfte Säule fehlt, weil an der Ostseite der Wandaltar steht. Jede Säule wird
bekrönt von einem in Gold gefasstem Kapitell. Insgesamt zählt man zwölf solcher
Kapitelle, weil sich auch über dem Altar ein Kapitell befindet, während die
dazugehörende Säule fehlt. Die Kapitelle sind vor allem mit Pflanzenmotiven
verziert. Wenn man aber genauer hinschaut, entdeckt man zwischen den
Pflanzenformen überall Tiere.
Wieder haben wir ein
Teilungsverhältnis von sieben zu vier plus eins. Das entspricht genau der
Differenzierung der zwölf Weisen, wie sie Rudolf Steiner im Vortrag vom
27.9.1911 angibt. Und es entspricht, wie wir festgestellt haben, der
„esoterischen“ Aufteilung der Stifterfiguren im Westchor des Naumburger Doms.
Die vier Joche mit ihren
Kreuzrippengewölben werden voneinander getrennt durch die „gezackten“
Gurtbögen, die der Kapelle ein maurisches Aussehen verleihen. Sie erinnern an
die mozarabischen Kirchen in Nordspanien, dem Grenzgebiet zwischen Christentum
und Islam.
Im Osten der Kapelle fällt das
Licht durch zwei lilienförmige Fenster in den Raum.
Diese Einzelheiten, die
Lilienfenster und der mozarabische Baustil geben der Kapelle eine besondere
Atmosphäre. Es ist die Stimmung jenes christlich-islamischen Grenzgebietes
zwischen Frankreich (Lilie) und Spanien (mozarabische Bauform), das zu jener
Zeit der Vermittlungsraum der aristotelischen Naturwissenschaft war.
In der Südostecke der Kapelle
befindet sich ein Kapitell, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es zeigt
einen Adler, der sich über einen Hasen beugt.
Der Adler gilt als Sonnensymbol,
der Hase als Mondsymbol.
Das wunderschöne Fotobuch des
Fotografenehepaars Schütze, das es im Museums-Shop zu kaufen gibt (Freyburg
Unstrut 1207), fügt jeder Schwarz-Weiß-Fotographie einen mittelalterlichen Text
bei. Beim Foto des Adlerkapitells steht eine Stelle aus dem „Wiener
Physiologus“ (um 1120) mit folgendem Wortlaut (Übersetzung):
„Wenn der Adler alt wird, so
steigt er hoch in die Luft, bis seine Federn im Sonnenlicht verbrennen. Dann
fällt er zurück in sein Nest, wo ihn seine Jungen pflegen, bis er das alte
Federkleid wiedergewinnt. Genauso sollen wir mit den Gnaden des Heiligen
Geistes gebrannt werden, dass unsere Sünden verdorren müssen, bis wir
Erneuerung für die Ewigkeit erfahren.“
Dieser für die Tierdarstellungen
des Mittelalters, die immer symbolisch gemeint waren, wichtige Text deutet mit
Ausdrücken wie „verbrennen“, „Erneuerung“ „Gnaden des Heiligen Geistes“ auf
eine einschneidende menschliche Erfahrung hin, die man auch „Einweihung“ nennen
kann.
Der Adler ist auch das Symboltier
des Evangelisten Johannes Mit diesem Namen bezeichnet die Tradition den Autor
des vierten, immer als besonders geistig angesehenen Evangeliums und der
„Geheimen Offenbarung“. Der Jünger, „den der Herr lieb hatte“, war der einzige Schüler,
der seinem Meister bis zum bitteren Ende treu blieb.
Der Adler hat den flüchtigen
Hasen der irrenden Gedanken gefasst, um ihn mit dem „Heiligen Geist“ zu
inspirieren.
„Die Doppelkapelle ist (…) in
engstem baulichen Zusammenhang mit dem seit etwa 1170/75 errichteten und jene überlagernden Palas entstanden.
Neben der Obergeschosskapelle befand sich ein profaner Raum. (…) Insbesondere
die gegenüber den schlichteren Formen der Untergeschosskapelle architektonisch
reich ausgestattete herrschaftliche Privatkapelle des landgräflichen Burgherrn
unterstreicht die bedeutsame, fürstliche Stellung innerhalb der Reichspolitik,
die Hermann I. bzw. Ludwig IV. und Elisabeth innehatten“ (Schlossführer,
a.a.O., S 17f).
An diesem „von der übrigen Welt
abgesonderten“ Ort kann also von den Räumlichkeiten und von der Lage her das
geschehen sein, wovon Rudolf Steiner im Vortrag vom 27. September 1911 spricht.
Sechs Magister sind in den
überlieferten Urkunden für den Umkreis des Naumburger Domes in dieser Zeit
bezeugt, dazu ein nicht zum Domkapitel zählender siebenter „magister Iohannes
dictus Dialektika“. Ist es nicht denkbar, dass die fehlenden fünf für eine
bestimmte Zeit von außerhalb dazu stießen, vielleicht aus der Kölner Domschule?
Wer kann heute noch feststellen, ob Albertus Magnus und Thomas von Aquin
tatsächlich die ganze Zeit von 1248 – 1252 in Köln verbracht haben? Wäre es
nicht denkbar, dass sie die Domschule für mehrere Wochen im Jahr einem
Präzeptor überließen und gleichsam in den „Semesterferien“ in „geheimer
Mission“ nach Thüringen reisten?
Der einzige Stifter, der durch
sein Wappentier auf Thüringen und damit auf die nahe gelegene Neuenburg
verweist, Graf Syzzo, nimmt auch im Westchor, wie erläutert, eine besondere
Stellung ein. Durch das erhobene Schwert erscheint er – wie der Landgraf
Hermann I. im Sängerstreit – als Richter im Wettstreit der verschiedenen
Weltanschauungen. Als Schützling des Erzengels Michael ist er vor den anderen
auch geistig besonders ausgezeichnet.
Ob Rudolf Steiner die Neuenburg
persönlich besucht hat, ist nicht überliefert. Aber er beschäftigte sich seit
dem Jahre 1889 mit Friedrich Nietzsches Schriften. Er war in seiner Weimarer
Zeit „mehrere Wochen“ in Naumburg, um den „Umnachteten mit der wunderbar
schönen Stirne“ zu besuchen, am neu entstehende Friedrich-Nietzsche-Archiv
mitzuarbeiten und im Auftrag der Schwester Elisabeth Förster Nietzsche die
Bibliothek des Philosophen zu sichten und zu ordnen.. Der „geistbefeuerte
Kritiker seiner Zeit“, den „die eigene Kritik krank machte“ (Rudolf Steiner,
Mein Lebensgang, 18. Kapitel) war damals Gegenstand eines Buches von Rudolf
Steiners, das 1895 in Weimar gedruckt wurde: “Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer
gegen seine Zeit“.
Rudolf Steiner, der von seiner
Begegnung mit dem kranken Philosophen „tief ergriffen, ja erschüttert“ war,
schreibt in seiner Autobiographie selber über dieses frühe Werk: „Ich konnte in
meinen Gedanken nur stammeln von dem, was ich damals geschaut.“
Bei der Art, wie Rudolf Steiner
die Begegnung mit dem „Umnachteten“ in seinem „Lebensgang“ beschreibt, kann man
an die Erfahrung denken, die der Jüngling des Mittelalters an jenem unbekannten
Ort in Europa bei der Einweihung durchgemacht hat:
„Und so stand vor meiner Seele:
Nietzsches Seele wie schwebend über seinem Haupte, unbegrenzt schön in ihrem
Geisteslichte; frei hingegeben geistigen Welten (…) aber gefesselt an den Leib.
(…) Ich hatte vorher den Nietzsche gelesen, der geschrieben hatte; jetzt
hatte ich den Nietzsche geschaut, der aus weit entlegenen Geistgebieten Ideen
in seinem Leib trug, die noch in Schönheit schimmerten, trotzdem sie auf dem
Wege ihre ursprüngliche Leuchtkraft verloren hatten.“
Das erinnert sehr an jene
Adlersymbolik aus dem Wiener Physiologus: die Seele steigt wie ein Adler hoch
hinauf bis zum Sonnenlicht. Die Federn verbrennen und der Vogel stürzt zurück
auf die Erde, wo er von seinen Jungen gepflegt werden muss. Nun kann sich das
Federkleid „für die Ewigkeit“ erneuern.
Rudolf Steiner sieht in Friedrich
Nietzsche eine „Seele, die aus früheren Erdenleben reiches Lichtgold brachte,
es aber nicht ganz in diesem Leben zum Leuchten bringen konnte“ (Mein
Lebensgang).
Wer diese Seele in früheren
Erdenleben war, gibt er in seinen zahlreichen Karmavorträgen aus dem Jahr 1924 nicht
preis. Dort nennt er zwar unter vielen anderen die späteren Inkarnationen
Walters von der Vogelweide (GA 238, Vortrag vom 7. September 1924) und
Heinrichs von Ofterdingen (GA 238, Vortrag vom 18. September 1924), die alle an
der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wiedergeboren waren, aber er verliert
kein Wort über Friedrich Nietzsche, was umso auffallender ist, als er seine
Bedeutung etwa gleichzeitig in seiner Autobiographie mit so bemerkenswerten
Worten hervorhebt.
Die Individualität Friedrich
Nietzsches begleitete Rudolf Steiner vom Jahre 1889, als er zum ersten Mal in
einer seiner Schriften liest, bis ins Jahr 1924/25, wenn er sein
Nietzsche-Erlebnis im „Lebensgang“ schildert. Noch unmittelbar vor dem Vortrag
von Neuchatel befand sich Rudolf Steiner zusammen mit seiner späteren Frau
Marie von Sievers „In Turin (…) auf Nietzsches Spuren“ (Brief an Johanna Mücke
vom 29. September 1911).
In Neuchatel, das von den
Deutschschweizern Neuenburg genannt wird, enthüllt Rudolf Steiner vor einem
kleinen Kreis von Menschen zum ersten Mal, wer der Jüngling war, der da um das
Jahr 1250 „an einem Orte in Europa, von dem noch nicht gesprochen werden darf“
eingeweht wurde.
Der Jüngling wurde, so führt er
aus, 100 Jahre später, im Jahre 1378 als der legendäre Christian Rosenkreutz
wiedergeboren, der nach der 1604 verfassten und 1614 veröffentlichten „Fama
Fraternitatis“ über 100 Jahre alt wurde und im Jahre 1484 starb.
Die „Fama“ ist eine von drei
Rosenkreuzerschriften, die den Orden und ihre Ziele im damaligen Europa
zwischen 1614 und 1616, unmittelbar vor dem Dreißigjährigen Krieg bekannt
machten. Die Titel der anderen beiden Schriften lauten „Confessio
Fraternitatis“ und „Chymische Hochzeit: Christiani Rosencreutz. Anno 1459“. Die
Originaltexte finden sich in der Universitätsbibliothek Salzburg („Confessio“)
und in der Herzog-August Bibliothek Wolfenbüttel („Fama“ und „Chymische
Hochzeit“). In Wolfenbüttel hat sie Johann Gottlieb Herder entdeckt und so
gelangten sie nach Weimar auch in die Hände von Goethe, der, angeregt durch die
Lektüre, im Jahre 1785 sein Gedichtfragment „Die Geheimnisse“ schrieb. Dort
erscheint ebenfalls eine Gemeinschaft von zwölf Männern, die in einem
weltabgewandten „sanft geschwungenem Tal“ in einem Kloster leben. Auch von
einem Jüngling ist die Rede. Er ist „der Erwählte (…), den sich das Aug’ der
Vorsicht ausersah“ (V242). Die Männer des Klosters nennen ihn „Humanus“.
Rudolf Steiner weist im Vortrag
von Neuchatel auch auf die gleichzeitig im Jahre 1785 anonym in Altona
erschienene Schrift „ Die geheimen Figuren der Rosenkreuzer“ des Hinricus
Madathanus Theosophus hin. Sie besteht
aus zwei Heften mit je einer Abhandlung und 13 bzw. 12 Tafeln mit Figuren in
Folio. Auf einer dieser Tafeln, die den „Mons Philosophorum“, den Berg der
Philosophen symbolisiert, ist die Jahreszahl 1604 eingezeichnet, also das Jahr,
in dem die „Fama“ verfasst wurde.
Das ist insofern wichtig, weil
dieses Jahr auf den 120 Jahre früher erfolgten Tod Christian Rosenkreutz’
verweist und weil dadurch der sechste Artikel der Bruderschaft erfüllt wird, in
dem es heißt: „die Brüderschafft sol ein hundert Jahr verschwiegen bleiben.“
Richard van Dülmen, der die drei Schriften nach den Salzburger und
Wolfenbütteler Originalen 1973 in einer textkritischen Fassung herausgab, ergänzt
in einer Fußnote: „Später heißt es richtig 120 Jahre“.
Auf dieses „Gesetz der hundert
Jahre“ weist auch Rudolf Steiner in seinem Vortrag hin. Dafür gibt es zwei
Gründe. Den einen formuliert er so: „Heute kann zum Beispiel äußerlich nur von
solchen Geschehnissen gesprochen werden, welche hundert Jahre zurückliegen,
denn das ist die Zeit, welche jeweils verflossen sein muss, bevor davon
äußerlich gesprochen werden darf. Die Versuchung ist zu groß für die Menschen,
einer solchen ins Persönliche gezogenen Autorität – was das Schlimmste ist, was
es gibt – fanatische Heiligenverehrung entgegenzubringen“ (a.a.O. S 66). Der
andere Grund hängt mit den „okkulten astralen Attacken“ zusammen, „die
fortwährend auf eine solche Individualität gerichtet sein würden.“
In der Tafel vom „Mons
Philosophorum“ finden sich auch die beiden Symboltiere aus der Neuenburger
Kapelle wieder: der Adler und der Hase: Ganz unten im Bild springt ein
rotbrauner Hase in seinen Bau, in der Mitte der Tafel sitzt ein weißer Adler
auf dem Schweif eines Löwen. Die drei Tiere Hase, Löwe und Adler sind so
angeordnet, dass sie sich auf der Mittelachse des Bildes übereinander befinden.
Ein wenig unterhalb des Berggipfels steht am schwindelnden Abgrund ein
Häuschen, aus dessen Kamin Rauch aufsteigt. Den Zugang zum Haus und zum Gipfel
versperren zwei kreisrunde Mauerwälle. Den Eingang zum ersten Wall, der offen
steht, bewacht ein alter nackter Mann mit einem langen Bart, den Eingang zum
zweiten Wall, der verschlossen ist, der Löwe und der Adler. Aus einer
seitlichen Höhle schaut ein Feuer speiender Drache heraus.
Es ist nicht leicht, zu dem
Häuschen auf dem Berg zu gelangen. Viele Stufen müssen überwunden werden, wie
in einer anderen Bildertafel aus dem Rosenkreuzerzusammenhang zu sehen ist, die
1616 in Augsburg veröffentlicht wurde, die Cabala des S. Michelspacher. Auch
hier ist ein Berg zu sehen, allerdings lange nicht so hoch wie der mons
philosophorum. Auch findet sich hier das Haus nicht in der Nähe des Gipfels,
sondern im Inneren des Berges, in das man hineinschauen kann. Auch hier folgen
die Adepten wieder springenden Hasen. Auch hier verschwindet einer der beiden
Hasen in seiner Höhle. Der Weg zum unterirdischen Tempel führt über die sieben
Stufen des alchemistischen Prozesses. Dieser entspricht den sieben Stufen des
„rosenkreuzerischen Schulungsweges“, wie sie Rudolf Steiner am 20. Oktober 1906
(GA 96) beschrieb. An dessen Ende steht die Einweihung im Heiligtum.
Am Pfingstsonntag 2010 waren
Andrea und ich zum ersten Mal an der Saale mit dem Fahrrad unterwegs. Auf gut
ausgebauten Fahrradwegen fuhren wir westlich an Naumburg vorbei, wobei uns die
Türme des Doms von weitem grüßten. Ich wollte eigentlich bis Jena kommen. Aber
unsere Kraft reichte nur bis Bad Kösen. Am Pfingstmontag radelten wir dann in die
entgegengesetzte Richtung. Diesmal war Weißenfels mein Ziel, aber wir kamen
bloß bis zu dem Dörfchen Leißing. Was eigentlich mein Ziel war, weiß ich nicht.
Irgendetwas trieb mich an. Doch damals kamen wir nicht an. Beide Male mussten
wir vorzeitig abbrechen.
Im August 2010 war Andrea alleine
bei ihrer Mutter zu Besuch, da ich im Schwarzwald in der Kur weilte. Sie hatte
das Fahrrad mitgenommen und unternahm auf eigene Faust eine Tour. Ich weiß
nicht, welches Ziel sie hatte, aber sie gelangte schließlich zur Neuenburg.
Damals war gerade eine Art Mittelalterfest auf dem Gelände der Burg, so dass
Andrea sich fühlte, als wäre sie ins Mittelalter zurückversetzt. Sie erzählte
mir später begeistert von ihren Erlebnissen. Sie verbrachte mehr als drei
Stunden auf der Neuenburg.
So beschlossen wir dieses Mal,
die Neuenburg gemeinsam zu besuchen. Als wir am Montag, den 15. August dorthin
kamen, war die Burg verschlossen. So fuhren wir weiter nach Memleben, bestiegen
den Kyffhäuser und besuchten Quedlinburg. Erst am Mittwoch, den 17. August
kamen wir wieder nach Neuenburg und diesmal konnten wir hinein. Ich spürte
sofort die besondere Stimmung dieses Ortes und konnte mich von dem Obergeschoss
der Doppelkapelle gar nicht mehr trennen. Auch Andrea war begeistert, denn diese
Kapelle hatte sie bei ihrem ersten Besuch noch nicht gesehen. Sie war nur bis
zur Unterkapelle vorgedrungen.
Während ich ewig auf der Suche
bin, scheint Andrea immer alles zu finden. Sie hat auf unserer diesjährigen
Pilgeretappe zum Beispiel meine wertvolle Gleitsichtbrille wieder gefunden, die
ich auf einem Irrweg im Gestrüpp verloren hatte. So sage ich oft im Spaß über
sie, wenn jemand etwas verloren hat: Andrea findet alles…
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